Erfahrungen als Obdachloser

Von Udo Taubitz · 26.08.2005
Der Amerikaner Nick Flynn hat ein sehr persönliches Buch über Obdachlosigkeit geschrieben. "Bullshit Nights" wurde mit mehreren Literaturpreisen in den USA ausgezeichnet. Nun ist es als Hörbuch erschienen.
Ein Obdachloser liegt auf einer Parkbank. Du siehst ihm ins verquollene Gesicht, und erkennst: Es ist Dein Vater! - So ein Schreckensszenario sprengt die Vorstellungskraft der meisten Menschen. Für Nick Flynn wurde es Wirklichkeit.

Nick Flynns Buch erzählt eine wahre Geschichte, obwohl sie unglaublich klingt: Flynn ist ohne Vater aufgewachsen, hat sein Studium hingeschmissen und jobbt in einer Notunterkunft für Obdachlose in Boston. Seinen Vater hat er seit Jahren nicht gesehen. Als der schließlich im Obdachlosenheim aufkreuzt und nach einem Bett fragt, ist Nick zerrissen zwischen Liebe und Wut, zwischen Anteilnahme und panischem Selbstschutz. Nicht einmal mit seinen Kollegen vom Penner-Asyl kann er über seinen Vater reden.

17 Jahre später hat Nick Flynn eine Psychotherapie hinter sich und hat "Bullshit Nights" geschrieben. In den USA hat dieser Bericht von ganz unten großen Wirbel verursacht. Die Literaturkritiker überschütteten den Autor mit Lob und Auszeichnungen. Aber viele Leute reagierten auch schockiert, sagt Nick Flynn:

"Wenn man die Wörter "Vater" und "obdachlos" in einem Satz benutzt, schauen einen die Leute an, als hätte man sie mit einer Schippe ins Gesicht geschlagen. Die bringen das einfach nicht zusammen. Psychisch ist das wahrscheinlich unmöglich. Obdachlosigkeit ist eine große Angst, niemand will das Thema in sein eigenes Leben lassen."

Nick Flynn erzählt nicht nur vom Abstieg seines Vaters, sondern er erzählt auch von sich selbst: Wie er sich mit zwölf zum ersten Mal betrinkt, Lebensmittel klaut, mit Drogen dealt, ziellos durchs Leben surft, wie er in die Unterwelt des Obdachlosenheims absteigt und seinen Vater kennen lernt, der keine feste Bleibe hat. Nick Flynn bot seinem Vater nie einen Schlafplatz in seiner Wohnung an. Aber er hörte ihm zu und schrieb alles auf. Herausgekommen ist keine weinerliche Biographie, sondern ein kraftvolles Stück Literatur. Nick Flynn spielt meisterhaft auf der Klaviatur der Sprache. In einem Kapitel hat er einfach Synonyme für Alkohol und Saufen aneinander gehängt:

Zum Glück ist in der deutschen Übersetzung Flynns Prosa sehr poetisch geblieben. Den musikalischen Rhythmus der Sprache trifft auch der Sprecher des Hörbuchs wunderbar. Eigentlich ist Michael Hansonis Rocksänger, allerdings mit einem Faible für Literatur. Auf seiner jüngsten CD hat er die Gedichte des walisischen Poeten Dylan Thomas vertont.

Der größte Fan von Michael Hansonis ist die TV-Literaturexpertin Elke Heidenreich. Sie empfahl ihren Schützling als Sprecher für das Hörbuch. Manchmal schlägt zwar der Kölner Dialekt von Hansonis ein wenig durch, aber trotzdem liest der Mann sensibel und nuancenreich. "Bullshit Nights" ist ein Hörbuch, das schon im Ohr Gänsehaut macht.


Nick Flynn: Bullshit Nights – Die Geschichte mit meinem Vater
(Original "Another Night in Bullshit City")
Deutsch von Thomas Gunkel
Gelesen von Michael Hansonis
Marehörbuch 2005
2 CDs, ca. 154 Minuten, 18 Euro