Erfahrungen aus zweiter Hand
Der Ausgangspunkt ist autobiographisch oder doch wenigstens Teil der Familiengeschichte. Julia Francks Vater wurde 1945 als kleiner Junge von seiner Mutter auf der Flucht in den Westen zurückgelassen. In der Familie hieß es zur Erklärung der Tat, diese Mutter, die Großmutter der Autorin, sei eine kaltherzige Frau gewesen. Sie starb in den 90er Jahren. Auch Julia Francks Vater lebt nicht mehr. Sie konnte die Beteiligten also nicht mehr befragen, sondern musste ihre eigene Version der Geschichte erfinden.
Der Roman "Die Mittagsfrau" ist ein Entwurf, wie das Leben der Großmutter verlaufen sein könnte - bis hin zu jenem Tag, als sie in der Nähe von Stettin ihren kleinen Sohn auf einem Bahnsteig zurückließ. Zuletzt, in dem Roman "Lagerfeuer", erzählte Julia Franck aus eigener Erfahrung davon, wie sie mit ihrer Mutter und ihren Schwestern in den 70er Jahren aus der DDR in den Westen übersiedelte. Jetzt geht sie weiter zurück in der Familiengeschichte bis in die Frühzeit des 20. Jahrhunderts.
Einer der wenigen verbürgten Anhaltspunkte ist die Herkunft aus eher bürgerlichen Verhältnissen in einer Bautzener Buchdruckerfamilie. Helene - so der Name der nacherfundenen Großmutter als Romanfigur - wächst dort in bedrückenden Verhältnissen auf. Helenes Mutter ist psychisch krank und zieht sich immer tiefer in ihre Wahnwelt und in ein abgeschlossenes Zimmer zurück. Der Vater kehrt schwer verletzt aus dem Ersten Weltkrieg heim und stirbt unter elenden Verhältnissen, während seine Frau ihn nicht mehr zur Kenntnis nimmt.
Helene schließt sich eng mit der neun Jahre älteren Schwester Martha zusammen und teilt mit ihr auch erste erotische Erfahrungen. Mit ihr gelingt schließlich auch der Aufbruch nach Berlin, wo eine mondäne Tante, die in der Salonwelt der 20er Jahre verkehrt, die beiden Mädchen aufnimmt. Es folgt eine kurze Liebesgeschichte, die mit dem Tod des Geliebten endet, und eine schreckliche Ehe in Stettin, aus der schließlich der kleine Sohn hervorgeht, mit dessen Zurücklassung das Buch beginnt.
Julia Franck ist eine talentierte Erzählerin, der es gelingt, in einer knappen, präzisen Prosa eindrucksvolle Szenen zu zeichnen. Der Roman besticht durch die Fülle sinnlicher Details und die Souveränität der Einbildungskraft. Und doch erzeugt er über weite Strecken eine seltsame Langeweile.
Das Problem liegt im Ansatz, einen historischen Roman zu schreiben, der auf Erfindung beruht. Man merkt dann eben doch, dass es sich um Erfahrungen aus zweiter Hand handelt. Ob die Bombennächte in Stettin, die Vergewaltigung Helenes durch russische Soldaten oder der Viehwaggon, in dem vielleicht jüdische Häftlinge sind: Das sind Szenen wie aus dem Geschichtsbuch, die ein wenig angelesen wirken. Die vorsichtig eingestreuten Hinweise auf zeitgeschichtliche Ereignisse sind kulissenhafte Signalschilder, die aber vor allem auf die Gemachtheit des Ganzen hinweisen.
Das Erzählen schnurrt dahin wie eine Maschine, schafft aber doch nur eine künstliche Authentizität. Neue historische Perspektiven liefert das Buch nicht.
Eine weitere Schwierigkeit besteht in der Anlage, die einen psychologischen Roman erwarten lässt. Nach dem Prolog, in dem Helene ihren Sohn verlässt, hat ihre Lebensgeschichte zwangsläufig die Funktion, Erklärungsansätze für diese Tat zu liefern. Doch eben das gelingt nicht.
"Die Mittagsfrau" ist kein psychologischer Roman. Helene wird als Typus der duldenden Frau gezeichnet, der es nicht gelingt, sich zu entziehen und auf Eigenständigkeit zu beharren. Sie erscheint vor allem als Opfer der Verhältnisse. Als Kind ist sie eine Hochbegabte, die gleich mehrere Klassen überspringt, doch scheint ihr diese Intelligenz nichts zu nützen, oder sie gerät im weiteren Verlauf des Erzählens in Vergessenheit. Kindheit, Berliner Zeit und Ehe werden als separate Teile präsentiert, die nicht viel miteinander zu tun haben.
Vielleicht ist das ja eine Antwort, die der Roman geben möchte: Es gibt kein geschlossenes Charakterbild und schon gar keine Erklärung einer situativen Tat. Aber warum dann der enorme Erzählaufwand mit so vielen Einzelheiten?
Rezensiert von Jörg Magenau
Julia Franck: Die Mittagsfrau
Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2007
430 Seiten, 19,90 Euro
Einer der wenigen verbürgten Anhaltspunkte ist die Herkunft aus eher bürgerlichen Verhältnissen in einer Bautzener Buchdruckerfamilie. Helene - so der Name der nacherfundenen Großmutter als Romanfigur - wächst dort in bedrückenden Verhältnissen auf. Helenes Mutter ist psychisch krank und zieht sich immer tiefer in ihre Wahnwelt und in ein abgeschlossenes Zimmer zurück. Der Vater kehrt schwer verletzt aus dem Ersten Weltkrieg heim und stirbt unter elenden Verhältnissen, während seine Frau ihn nicht mehr zur Kenntnis nimmt.
Helene schließt sich eng mit der neun Jahre älteren Schwester Martha zusammen und teilt mit ihr auch erste erotische Erfahrungen. Mit ihr gelingt schließlich auch der Aufbruch nach Berlin, wo eine mondäne Tante, die in der Salonwelt der 20er Jahre verkehrt, die beiden Mädchen aufnimmt. Es folgt eine kurze Liebesgeschichte, die mit dem Tod des Geliebten endet, und eine schreckliche Ehe in Stettin, aus der schließlich der kleine Sohn hervorgeht, mit dessen Zurücklassung das Buch beginnt.
Julia Franck ist eine talentierte Erzählerin, der es gelingt, in einer knappen, präzisen Prosa eindrucksvolle Szenen zu zeichnen. Der Roman besticht durch die Fülle sinnlicher Details und die Souveränität der Einbildungskraft. Und doch erzeugt er über weite Strecken eine seltsame Langeweile.
Das Problem liegt im Ansatz, einen historischen Roman zu schreiben, der auf Erfindung beruht. Man merkt dann eben doch, dass es sich um Erfahrungen aus zweiter Hand handelt. Ob die Bombennächte in Stettin, die Vergewaltigung Helenes durch russische Soldaten oder der Viehwaggon, in dem vielleicht jüdische Häftlinge sind: Das sind Szenen wie aus dem Geschichtsbuch, die ein wenig angelesen wirken. Die vorsichtig eingestreuten Hinweise auf zeitgeschichtliche Ereignisse sind kulissenhafte Signalschilder, die aber vor allem auf die Gemachtheit des Ganzen hinweisen.
Das Erzählen schnurrt dahin wie eine Maschine, schafft aber doch nur eine künstliche Authentizität. Neue historische Perspektiven liefert das Buch nicht.
Eine weitere Schwierigkeit besteht in der Anlage, die einen psychologischen Roman erwarten lässt. Nach dem Prolog, in dem Helene ihren Sohn verlässt, hat ihre Lebensgeschichte zwangsläufig die Funktion, Erklärungsansätze für diese Tat zu liefern. Doch eben das gelingt nicht.
"Die Mittagsfrau" ist kein psychologischer Roman. Helene wird als Typus der duldenden Frau gezeichnet, der es nicht gelingt, sich zu entziehen und auf Eigenständigkeit zu beharren. Sie erscheint vor allem als Opfer der Verhältnisse. Als Kind ist sie eine Hochbegabte, die gleich mehrere Klassen überspringt, doch scheint ihr diese Intelligenz nichts zu nützen, oder sie gerät im weiteren Verlauf des Erzählens in Vergessenheit. Kindheit, Berliner Zeit und Ehe werden als separate Teile präsentiert, die nicht viel miteinander zu tun haben.
Vielleicht ist das ja eine Antwort, die der Roman geben möchte: Es gibt kein geschlossenes Charakterbild und schon gar keine Erklärung einer situativen Tat. Aber warum dann der enorme Erzählaufwand mit so vielen Einzelheiten?
Rezensiert von Jörg Magenau
Julia Franck: Die Mittagsfrau
Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2007
430 Seiten, 19,90 Euro