Erfolg der libyschen Revolution unsicher

Ibrahim Al-Koni im Gespräch mit Marcus Pindur |
Den Erfolg der Revolution seinem Land beurteilt der libysche Schriftsteller Ibrahim Al-Koni skeptisch. Die Regierung sei zu schwach, um Milizen oder Stämme zu kontrollieren. Einen Staat im modernen Sinne gebe es nicht, sagte der Autor.
Ibrahim al-Koni: In der Sicherheitssituation müssen wir sehen, dass es heute Milizen gibt, die sich keinem Gesetz unterstellen, die entführen, morden und rauben. Dazu kommen die Stämme, die auch im Streit miteinander liegen, was äußerst bedenklich ist, und Abenteurer, deren Werte nur darin bestehen, dass sie versuchen, sich aus allen möglichen Quellen Geld zu beschaffen. Libyen durchläuft eine Phase von schlimmster Korruption. Es hat keinen Sinn, alte Korruption durch neue zu ersetzen. Wenn der Finanzminister bekanntgibt, dass innerhalb von wenigen Tagen nach der Freigabe libyscher Gelder durch die Vereinten Nationen 60 Milliarden Dollar spurlos verschwunden seien, dann ist das ein Zeichen dafür, dass die Korruption jetzt noch schlimmer geworden ist als vorher. Die Regierung ist so schwach, dass sie weder die Milizen, noch Stämme, noch andere Personen kontrollieren kann. Sie spielt eigentlich überhaupt keine Rolle und der Übergangsrat hat keine Kontrolle. Es gibt nicht das, was wir heute im modernen Sinne einen Staat nennen können. Insofern hat sich meine Prophezeiung erfüllt.

Marcus Pindur: Herr al-Koni, die Tuareg stehen im Mittelpunkt vieler Ihrer Bücher. Wie wichtig ist Ihrer Ansicht nach das Nomadentum, um Libyen zu verstehen?

al-Koni: Das Nomadentum spielt eine große Rolle. Die neue Regierung muss den Minderheiten wie den Tuareg, die ja die Urbevölkerung Libyens darstellen, ihre Rechte gewähren, kulturelle Rechte. Nicht nur den Tuareg, sondern auch den Berbern im Norden und der schwarzafrikanischen Bevölkerung im Südosten. Es muss Toleranz geben, die an die Stelle des alten arabischen Chauvinismus tritt, der beinahe rassistisch war unter dem alten Regime. Den Minderheiten wurden ihre kulturellen Rechte vorenthalten, sie durften nicht einmal ihre eigene Sprache gebrauchen. Und wenn das nicht schnell überwunden wird, wird es zu einer sehr schwierigen Situation führen. Ich glaube nicht, dass Libyen zu Stabilität finden wird, wenn man den Minderheiten ihre Rechte nicht zugesteht. Und wenn man heute zu einem einheitlichen Libyen aufruft, dann muss das bedeuten, Pluralismus in der Gesellschaft zuzulassen und dass man die Vergangenheit überwindet, eine kulturelle Revolution anstößt, die die alte Mentalität des Chauvinismus in Libyen überwindet.

Pindur: Herr al-Koni, der ölreiche Osten Libyens strebt nach Autonomie. Das wurde auf einem Treffen von mehreren Hundert Stammesführern beschlossen. Hat Sie dieser Vorstoß überrascht?

al-Koni: Das hat mich überhaupt nicht überrascht, denn Libyen war historisch immer eingeteilt in drei Hauptregionen: die Cyrenaika im Osten, Tripolis im Westen und Fasan im Süden. Und seit die Griechen ihre Stadt Cyrena bauten, war der Osten libysch-griechisch, während die Gegend um Tripolis phönizisch-römisch mit der Hauptstadt Leptis Magna war. Der Süden war ebenfalls immer eigenständig und hatte seine eigenständigen Stämme. Trotzdem gab es eine libysche Einheit, die in der Verfassung verankert war, indem sich all diese verschiedenen Fürstentümer zusammengeschlossen haben, indem trotzdem die Besonderheiten jeder Region berücksichtigt waren. Nicht nur ethnisch und kulturell, sondern auch wirtschaftlich und politisch. Insofern ist die Forderung nach Eigenständigkeit aus meiner Sicht gerechtfertigt. Wenn die Cyrenaika einen Föderalismus fordert, dann beharrt sie nur auf historischen Tatsachen.

Und das ist letztlich auch wieder ein Beleg dafür, dass die Regierung zu schwach ist und die Kontrolle nicht vollständig ausübt. Die Cyrenaika war seit Beginn der Aufstände in Libyen relativ ruhig geblieben, aber es überrascht mich überhaupt nicht, dass jetzt Eigenständigkeit gefordert wird. Das soll übrigens nicht bedeuten, dass es hier zu einer Abspaltung kommen soll. Aber es ist das Recht der Cyrenaika, des libyschen Ostens, Eigenständigkeit und Autonomie zu fordern. Es geht hier um die Reichtümer des Landes, die ja besonders in der Cyrenaika und in Fasan liegen. Und die Zentralisten in Tripolis fürchten um ihre ökonomische Macht, sie fürchten um die Beute. Ihre Sorge geht dahin, dass sie glauben, dass die Schätze Libyens ihnen verloren gehen, wenn se keinen Zentralstaat mehr gibt, der vollständige Kontrolle hat. Wir sollten nicht vergessen, dass Libyen sich erst vereinigt hat, als 1962 das Öl entdeckt wurde. Und weil die Ölkonzerne einen einheitlichen Ansprechpartner wollten, kam es zur Vereinigung der libyschen Föderation. Das ist erst 1963 erfolgt.

Pindur: Halten Sie die libysche Revolution, wenn Sie ein Jahr jetzt zurückblicken, für erfolgreich, oder ist es für Sie noch zu früh, um abzuschätzen, ob diese Revolution tatsächlich das Land weitergebracht hat?

al-Koni: Ich glaube, es ist viel zu früh, das jetzt zu bewerten. Die politische Realität, die Realität, wie sie sich in Sicherheitsfragen und in der Wirtschaft heute darbietet, veranlasst zu Pessimismus. Aber ich glaube nicht, dass es vor Ablauf von fünf Jahren möglich ist, eine Antwort darauf zu geben.


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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