Gesine Palmer, geboren 1960 in Schleswig-Holstein, ist Religionsphilosophin. Sie studierte evangelische Theologie, Judaistik und allgemeine Religionsgeschichte in Lüneburg, Hamburg, Jerusalem und Berlin. 2007 gründete sie in Berlin das "Büro für besondere Texte" und arbeitet seither als Autorin, Trauerrednerin und Beraterin. Ihr wiederkehrendes Thema sind Religion, Psychologie und Ethik – im Kleinklein der menschlichen Beziehungen wie im Großgroß der Politik.
Die Sehnsucht, auf der Seite der Opfer zu stehen
04:18 Minuten
Warum erfindet jemand für sich einen jüdischen Familienhintergrund und trickst sich so auf die Opferseite der Geschichte? Die Bloggerin Marie Sophie Hingst, die mit einer mutmaßlich gefälschten Reportage auch bei Deutschlandfunk Nova auftrat, ist da nicht die einzige.
Sie sind mittleren Alters, in Deutschland geboren wie Ihre Eltern und Großeltern? Dann werden Sie von sehr vielen Menschen auf der Welt beneidet. Denn das Heimatrecht in einem der reichsten und erfolgreichsten Länder kann Ihnen kaum genommen werden. Nicht einmal dann, wenn der rechte Rand sich wieder durchsetzt.
Sie sind mittleren Alters, in Deutschland geboren wie Ihre Eltern und Großeltern? Dann möchten Sie in manchen Ländern dieser Erde immer noch nicht als Deutscher erkannt werden, jedenfalls nicht immer, nicht jeden Tag. Denn in vielen Ländern dieser Welt sind Deutsche eben immer noch Nazis oder Nachkömmlinge von Nazis, und jederzeit kann es Ihnen passieren, dass Ihnen entsprechende Fragen gestellt werden.
Die Leute kommen unterschiedlich gut damit klar. Das wird wohl so schnell nicht aufhören. Bei der alljährlichen Demonstration zum sogenannten Al Quds Tag hielten in diesem Jahr sogenannte Biodeutsche Schilder hoch, auf denen stand: "Keine ewige deutsche Schuld". Das passt verblüffend gut zu Sätzen, die ich oft von sehr linken Israelis oder Palästinenser*innen höre: "Hör endlich auf, dich mit der Vergangenheit abzuplagen," sagen sie, "und ergreife Partei für die, die heute Opfer sind."
Die Leute kommen unterschiedlich gut damit klar. Das wird wohl so schnell nicht aufhören. Bei der alljährlichen Demonstration zum sogenannten Al Quds Tag hielten in diesem Jahr sogenannte Biodeutsche Schilder hoch, auf denen stand: "Keine ewige deutsche Schuld". Das passt verblüffend gut zu Sätzen, die ich oft von sehr linken Israelis oder Palästinenser*innen höre: "Hör endlich auf, dich mit der Vergangenheit abzuplagen," sagen sie, "und ergreife Partei für die, die heute Opfer sind."
Manchen ist es peinlich, "biodeutsch" zu sein
Manche Deutsche antworten auf dergleichen, indem sie auf eher schmaler Informationsbasis und unter Hintanstellung historischer Reflexionen auf irgendeiner mehr oder weniger propalästinensischen israelkritischen Welle mitschwimmen. Anderen genügt dies oder ein gegenläufiges Engagement nicht. Ihnen ist der Status als "Biodeutscher" so peinlich, dass sie sich lieber eine neue Vergangenheit basteln. Werden wir nicht auch ständig dazu ermuntert? Das Buch "Es ist nie zu spät für eine glückliche Kindheit" verkauft sich gut, den Titel kennt jeder – und vielen gilt es als heilsam, sich eine Erzählung zusammenzuschreiben, mit der man sich gut fühlen kann.
Manche fühlen sich erst gut, wenn sie eindeutig auf der Opferseite der Geschichte verwurzelt sind. Denken sie jedenfalls. Und manchmal denken sie es so intensiv, dass die Geschichte dazu sich geradezu von selbst schreibt. Das ist nun auch in der Generation der "digital natives" passiert. Die Bloggerin Hingst hat zu einer Familiengeschichte von Holocaustopfern gleich noch ein eigenes Engagement für heutige Opfer erfunden.
Ein Fall von "Wilkomirski-Syndrom"?
Man kann das krank nennen, die Krankheit hätte sogar einen Namen:
Seit der Schweizer Bruno Dössekker sich Ende der 1990er-Jahre unter dem Namen Binjamin Wilkomirski die spektakuläre Biografie eines Holocaust-Waisenkindes gegeben und damit außer dem Suhrkamp-Verlag auch ein ziemlich großes Publikum getäuscht hatte, sprechen manche Psychologen vom Wilkomirski-Syndrom.
Dazu gehört, dass die Täuschung nicht unbedingt in betrügerischer Absicht unternommen wird. Die Betroffenen scheinen vielmehr geradezu naiv in ihre falschen Biografien zu stolpern.
Ihre erfundene Geschichte schickte unsere Bloggerin ausgerechnet denen, die nun wirklich dafür bekannt sind, genauer nachzuforschen – der Stiftung Yad Vashem. Da die Aufklärung nicht auf sich warten ließ, kann sie nun mit ihrem persönlichen Problem in Ruhe und hoffentlich mit besseren Mitteln weiter arbeiten.
"Heim ins Reich der Erinnerungen"
Interessanter erscheint mir, was die nicht abreißende Kette solcher Erzählungen über unser Verhältnis zur eigenen Geschichte aussagt. Mit den Worten von Eike Geisel kann man sagen, der Skandal in Deutschland bestehe darin, dass niemand "auf dem Riss beharrt, der irreparabel durch die Geschichte geht. Auch die Gegner und Opfer von einst wollen heim ins Reich, wenigstens heim ins Reich der Erinnerung". (Geisel 1994)
Und in weniger polemischen Worten wäre vielleicht einfach anzumerken, dass Wahrheit und Wahrhaftigkeit mit einer noch so kruden eigenen und familiären und nationalen Geschichte auf die Dauer eben doch glücklicher macht als ein noch so schön erfundenes Märchen.