Erika Fatland: Sowjetistan. Eine Reise durch Turkmenistan, Kasachstan, Tadschikistan, Kirgisistan und Usbekistan.
Suhrkamp Berlin, 2017, 512 Seiten, 16,95 Euro
Junge Staaten am Scheideweg
Die Journalistin Erika Fatland blickt auf den Rand des früheren sowjetischen Imperiums. Ihr Buch "Sowjetistan" ist das Ergebnis einer achtmonatigen Reise durch die jungen zentralasiatischen Staaten Kirgisistan, Usbekistan, Turkmenistan, Tadschikistan und Kasachstan.
"Tor zur Hölle" nennen die Einheimischen das Dorf Derweze in Turkmenistan. Seit viereinhalb Jahrzehnten schlagen dort Flammen aus einem monströsen Krater – unbeabsichtigte Folge von Gas-Probebohrungen sowjetischer Geologen 1971 in der Karakum-Wüste. Die Symbolik des Ortes stellt Erika Fatland an den Anfang ihres Buches: "Aus der Entfernung wirkt der Krater beinahe schön: Tausende von Flammen verschmelzen zu einem langen, orangefarbenen Feuer. Ich folge den Spuren, (..) sie verlaufen kreuz und quer: frische, tiefe, feuchte ebenso wie trockene, verwischte und abgerissene Spuren." Kreuz und quer zwischen Geschichte und Gegenwart bewegt sich Erika Fatland bei ihrer 500-seitigen Spurensuche in Zentralasien.
Von der vorislamischen Zeit bis zur modernen Hochzeit
Die Inhalte reichen von der vorislamischen Zeit feudaler Khanate bis hin zu Erlebnissen der Autorin auf Zugfahrten und Hochzeitsfeiern. Glanz und Elend der Seidenstraße als oft eroberte Handelsroute zwischen Europa und China sind ebenso Gegenstand wie der groteske Personenkult zentralasiatischer Präsidenten. In einer Mischung aus Essay und Reisereportage zeichnet Fatland mit leichter Hand ein so komplexes wie komprimiertes Tableau. Der schrille Buchtitel "Sowjetistan" verweist dabei auf das prägendste Erbe:
"In den siebzig Jahren sowjetischer Herrschaft trat Zentralasien vom Mittelalter ins 20. Jahrhundert. Dieser zivilisatorische Sprung führte zu gewaltigen Umwälzungen in den Gesellschaften. Ein ganzes Binnenmeer verschwand, Nomaden wurden gezwungen, ihre Herden aufzugeben und in Kolchosen zu leben, über eine Million Menschen starben an Hunger. Hunderte Moscheen wurden geschlossen, Frauen wurden vom Schleier befreit, die Polygamie aufgehoben, zumindest in der Theorie. Arabische Buchstaben wurden gegen kyrillische ausgetauscht, aber dafür lernten alle lesen, auch die Mädchen."
Aus Turkestan wurden fünf Nationen
Die junge Sowjetunion hatte aus dem Land der Turk-Völker namens "Turkestan" ganze fünf Nationen gemacht. In einzelnen Länderkapiteln widmet sich die Autorin deren unterschiedlicher Entwicklung seit der Souveränität 1991: Öl- und Gasvorkommen haben den autokratisch geführten Wüstenstaaten Turkmenistan und Kasachstan gigantischen Reichtum beschert. Doch jenseits protziger Marmorstädte lebt ein Großteil der Bevölkerung zutiefst traditionell. Im bergigen Tadschikistan, einem der ärmsten Länder der Welt, würde die Wirtschaft ohne das in Russland verdiente Kapital tadschikischer Gastarbeiter sofort kollabieren.
In Usbekistan sitzen seit einem blutig niedergeschlagenen Aufstand 2005 mehrere Tausend Menschen im Gefängnis. Sie werden des religiösen Extremismus und der Verschwörung beschuldigt. In Kirgisistan, der einzigen Demokratie in der Region, sind nationalistische Gruppen auf dem Vormarsch. Längst abgelegte Bräuche wie der Brautraub sind dort wieder aufgelebt. Protokolle von Frauen wie der 21-jährigen Rosa lesen sich beklemmend:
"Ich habe dich geraubt, du wirst jetzt meine Frau, erklärte der Mann, der am Steuer saß. Rosa kannte ihn aus dem Dorf, aus dem sie fortgezogen war und in das sie nicht wieder zurückwollte. Sie und ihre Schwester wohnten jetzt in der Stadt. Beide Eltern waren tot. Das Dorf gehörte zu einem früheren Leben. (..) Niemand kümmerte sich um Rosas Tränen."
Zwischen Tradition und Moderne, zwischen Ost und West
Erika Fatland hat mit "Sowjetistan" ein dichtes, vielstimmiges Mosaik geschaffen, das fünf junge Staaten am Scheideweg zeigt: auf der Suche nach einer eigenen Identität, zerrissen zwischen Tradition und Moderne, zwischen Ost und West. Alles scheint dort möglich - trotz weitverbreiteter quasi-sowjetischer Strukturen der Angst und Korruption. Am Ende dieses lesenswerten Buchs stehen die hoffnungsvollen Worte eines Tourguides aus Turkmenistan:
"Die Sowjetgeneration ist, wie sie ist. Sie macht alles auf die gleiche alte Art und Weise. Ich setze meine Hoffnung auf die jetzt wachsende Generation. Viele von ihnen sind gereist und haben die Welt gesehen. Nur sie können etwas Neues schaffen."