Erin Entrada Kelly: "Charlotte & Ben. Ein Freund kann alles verändern"
Aus dem Englischen von Birgitt Kollmann
dtv, München 2020
220 Seiten, 14,95 Euro
ab 11 Jahren
Mein erfundenes, schöneres Ich
04:27 Minuten
Zwischen ihren Scrabble-Brettern liegen 2000 Kilometer. Trotz dieser Distanz verbindet die beiden Teenager Charlotte und Ben eine intensive Freundschaft. In langen Telefongesprächen präsentieren sie sich einander so, wie sie gerne wären.
Außenseiter sind ihr Thema: Die Autorin Erin Entrada Kelly wurde als Tochter einer philippinischen Mutter selbst oft ausgegrenzt, wie sie einmal in einem Interview erzählte. Für ihr letztes Buch zum Thema Mobbing erhielt sie 2019 den Deutschen Jugendliteraturpreis.
Auch Charlotte und Ben, die Hauptfiguren von Kellys neuem Roman, sind Außenseiter. Zwei hochbegabte Kinder, zwölf und elf Jahre alt, mit außergewöhnlichen Talenten und Interessen. Aber sie gelten nicht als "cool" und haben daher keinen großen Freundeskreis wie andere Kinder in ihrem Alter.
Der Schulalltag ist für beide ein Hindernislauf mit häufigen Stürzen und hässlichen Verletzungen. Als Außenseiter, mit Distanz, sehen sie allerdings auch vieles deutlich klarer - und das ist eine ihrer vielen Chancen.
Mehr als eine ganz normale Krise
Kennengelernt haben sich Charlotte und Ben beim Online-Scrabble, denn ihre Wohnorte, Louisiana und Pennsylvania, liegen 2000 Kilometer auseinander. Abwechselnd, in kurzen Kapiteln, erzählt Erin Entrada Kelly ihre Geschichten.
Beide stecken in Krisen: Charlottes Vater hatte einen Herzinfarkt und liegt im Krankenhaus. Zu ihrer Angst um ihn kommen noch Schuldgefühle, und gerade jetzt wendet sich ihre beste Freundin von ihr ab. Außerdem ist das Mädchen mitten in der Pubertät mit all den typischen Gefühlsschwankungen und Ungewissheiten.
Auch Ben hat das Gefühl, dass "seine komplette Welt" auseinanderfällt, "Stein um Stein". Seine Eltern wollen sich scheiden lassen. Mit seiner Wut, seiner Angst, und mit seinen Fragen ist er ganz allein. Spontan ruft er Charlotte an, seine weit entfernt lebende Scrabble-Partnerin.
Der Zauber der Fernbekanntschaft
Die Gespräche bringen plötzlich Bewegung in das Leben der beiden Kinder. Die Erwartung, Charlotte und Ben würden sich nun gegenseitig ihre Probleme, Sorgen und Schwierigkeiten anvertrauen, liegt nah und wird - vielleicht auch gerade deshalb - enttäuscht. Ihre Telefonate verlaufen eher kurz und schleppend. Noch dazu machen beide sich gegenseitig etwas vor, stellen sich größer, erfolgreicher und beliebter dar, als sie sind.
In Gedanken entwickelt sich so eine wunderbare Vorstellung eines schöneren Ichs. Mit der Zeit verselbständigen sich diese Vorstellungen, geben Kraft, und plötzlich wagen die Kinder etwas, woran sie vorher selbst im Traum nicht gedacht hätten. Und obwohl nicht alles gut geht, bleibt doch die mutmachende Erfahrung: "Das Leben geht weiter."
Ungewöhnlich erzählt
Nicht nur die hochbegabten Protagonisten sind speziell, auch die Erzählstruktur des Romans ist sehr besonders. Die Autorin nähert sich ihren Figuren von außen, mit Distanz und Respekt. Die erzählte Handlung erstreckt sich über eine Woche, und der große Charme der Geschichte liegt darin, wie das Spezialwissen der Kinder - naturwissenschaftliche Exzerpte, Scrabble-Spielzüge, Zitate amerikanischer Präsidenten (Ben ist Geschichts-Nerd), Google-Ergebnisse und Fremdwörter - locker zu einem trotz seiner Ernsthaftigkeit amüsanten Roman verwoben wird.
Ohne die leichtfüßig-liebevolle Übersetzung von Birgitt Kollmann hätte dieser schöne Kinderroman aber nur die halbe Wirkung. Wie sie Scrabble-Anschlüsse im Deutschen kreativ löst, Fremdwörtern neue Bedeutungen abluchst oder Charlottes und Bens kleinen Exkursen in die historischen und biologischen Lieblingsthemen einen witzig-spielerischen Klang beimischt, das ist großartig!