Don DeLillo: "Falling Man"
Übersetzt von Frank Heibert
KiWi Taschenbuch, Köln 2021
272 Seiten, 12 Euro
Das Trauma in drei Romanen
08:54 Minuten
Wer begreifen will, wie das Trauma von 9/11 die US-Gesellschaft verändert hat, muss diese drei Romane lesen, sagt Dorothea Westphal: "Falling Man" von Don DeLillo, "Der amerikanische Architekt" von Amy Waldman und "Das Hohe Lied" von Nell Zink.
Die Anschläge vom 11. September haben das US-amerikanische Selbstbewusstsein erschüttert – mit Konsequenzen bis heute. Wie sich die amerikanische Gesellschaft verändert hat, wie die US-Amerikaner mit diesem Trauma umgehen, und wie sich das politische Klima seither vergiftet hat, das zeigen drei Romane von Don DeLillo, Amy Waldman und Nell Zink.
Wer die USA nach 9/11 begreifen will, sollte diese Romane lesen, davon ist Dorothea Westphal überzeugt. Im Literatur-Team von Deutschlandfunk Kultur ist sie die Fachfrau für nordamerikanische Belletristik. Im Gespräch erklärt sie, warum ihr aus den vergangenen 20 Jahren genau diese drei Romane im Geist geblieben sind.
Don DeLillo geht in seinem Roman "Falling Man" (2021, US-Ausgabe 2007) zum Tag der Anschläge zurück und erzählt die Geschichte von Keith: einer der Angestellten, der sich aus den Türmen retten konnte. DeLillo beschreibt seine Verunsicherung, seine Hilflosigkeit. Keith trägt eine Aktentasche, und wie sich herausstellt, ist das gar nicht seine. Im Verlauf des Buches wird er die Frau aufsuchen, der sie gehört und die auch überlebt hat. Doch zunächst geht er zurück zu seiner Frau, mit der er allerdings in Scheidung lebt, und der Versuch, an das alte Leben wieder anzuknüpfen, wird durch den erlittenen Schock überlagert.
Dorothea Westphal: "Das hat mich heute beim Lesen noch einmal genauso gepackt wie damals schon. Keith ist traumatisiert, er muss das Geschehene immer wieder durchleben. Aber DeLillo beschreibt nicht nur individuelle Traumata, sondern auch die Traumatisierung einer ganzen Stadt. Ohne versöhnliches Ende übrigens. Das ist sehr berührend, auch 20 Jahre danach, das noch einmal zu lesen, man hat die Bilder sofort vor Augen. Das Buch beginnt mit dem Satz: ‚Es war keine Straße mehr, sondern eine Welt, Zeit und Raum, aus fallender Asche und nahezu Nacht.‘ Diese Sprache ist auch großartig von Frank Heibert übersetzt, sodass die Poesie und der Rhythmus erhalten bleiben."
Amy Waldman: "Der amerikanische Architekt"
Übersetzt von Brigitte Walitzek
Heyne Taschenbuch, München 2014
506 Seiten, 9,99 Euro
Der Roman "Der amerikanische Architekt" (2014) von Amy Waldman spielt zwei Jahre nach den Anschlägen. Eine Jury hat einen anonymen Wettbewerb für die Gestaltung einer Gedenkstätte für die Opfer der Anschläge auf dem Gelände des zerstörten World Trade Center ausgelobt. Der Wettbewerb geht zu Ende, der Umschlag mit dem Gewinner wird geöffnet – und viele sind entsetzt: Der Gewinner heißt Mohammed Kahn, offensichtlich ein Moslem. Er ist ein angesehener Architekt, in Virginia geboren, er lebt schon lange in New York City, ist ein waschechter Amerikaner. Aber das spielt keine Rolle. Es beginnt eine Hetzjagd auf ihn.
Dorothea Westphal sagt: "Es ist unglaublich spannend, wie sich alles zuspitzt, wie die Anhänger auf den verschiedenen Seiten mobil machen. Da sind einmal natürlich die Vertreter der Opfer, die finden es unsäglich, dass ein Moslem diese Gedenkstätte gestalten soll. Dann gibt es Befürworter des Entwurfs, die finden, der ist Amerikaner wie jeder andere auch, hat also die gleichen Rechte. Dann gibt es sogar Muslime, die ihm vorhalten, nicht gläubig genug zu sein – sogar die Fatwa wird gegen ihn verhängt. Und damit wird ein Extremismus geschürt, der immer mehr ausartet. Das ist wirklich so faszinierend wie erschütternd zu lesen. Denn es ist das Porträt einer offensichtlich paranoiden Gesellschaft und der zunehmenden Spaltung dieser Gesellschaft, in der wirklich kein Platz mehr ist für gegenseitiges Verständnis. Und das, nachdem sich durch das nationale Trauma zumindest über kurze Zeit doch ein Gefühl der Zusammengehörigkeit entwickelt hat."
Nell Zink: "Das Hohe Lied"
Übersetzt von Tobias Schnettler
Rowohlt Verlag, Hamburg 2020
512 Seiten, 25 Euro
Nell Zink nutzt in ihrem Roman "Das Hohe Lied" (2020) die Anschläge vom 11. September als Dreh- und Angelpunkt der Handlung. Im ersten Teil erzählt sie von Pam und David in den Achtzigern und Neunzigern in New York, es geht um die zunehmende Gentrifizierung bestimmter Stadtteile. Die beiden sind eher unpolitisch, machen Musik, haben einen Freund, der als Musiker berühmt wird.
Mit dem 11. September kommt für sie eine doppelte Tragödie: der Anschlag – und der Tod eines Freundes an einer Überdosis. Das Paar versucht panisch, die Stadt zu verlassen, und bringt die kleine Tochter in Sicherheit zu den Schwiegereltern, wo sie dann auch aufwächst. Im zweiten Teil erzählt Nell Zink vor allem von dieser Tochter. Sie interessiert sich für Klimawandel und Boden-Erosion, sie wird politischer und macht Wahlkampf, zunächst für die Grünen, dann für Hillary Clinton. Der Roman beschreibt die zunehmende Spaltung der Gesellschaft nach 9/11, die mit der Wahl von Donald Trump einen vorläufigen Höhepunkt findet.
Dorothea Westphal sagt: "Das Buch ist ein faszinierendes Porträt der amerikanischen Gesellschaft vor und nach dem 11. September – und außerdem ein sehr ungewöhnlicher Familienroman. Denn da geht es gar nicht um Krisen innerhalb einer Familie, wie das sonst ja bei Familienromanen oft der Fall ist, sondern im Gegenteil: Diese Familie hält in heftigen Krisen zusammen. Und eine solche Krise waren natürlich die Anschläge vom 11. September. Ein kollektives und nationales Trauma, das die amerikanische Gesellschaft tief, tief geprägt hat und letztlich auch die Welt, was wir ja an der Katastrophe an Afghanistan wiedersehen. Es ist also etwas, das uns tatsächlich immer noch beschäftigt."