Erinnern an 9/11

Der verengte Blick des Westens

09:32 Minuten
Panzer, auf dem drei Männer sitzen und eine grüne Fahne hissen
Der Krieg hat für Afghanistan schon viel früher begonnen: Mitglieder der aufständischen muslimischen "Hezbi Islami" mit einem eroberten Panzer der Roten Armee. © picture alliance / dpa / AFP
Navid Kermani im Gespräch mit Dieter Kassel · 06.09.2021
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Für die meisten Menschen in westlichen Gesellschaften war der 11.9.2001 ein einschneidendes Ereignis. Für die Menschen in Afghanistan hat der Krieg über 20 Jahre früher angefangen, sagt Schriftsteller Navid Kermani. Die Folgen dauern bis heute an.
Wenn wir heute über die Anschläge auf die Twin Towers des World Trade Center in New York am 11.9.2001 sprechen, wissen fast alle, was sie an diesem Tag gemacht haben. War 9/11 also ein epochales Ereignis für alle Menschen auf der Welt?
Nein, sagt der Schriftsteller und Afghanistan-Kenner Navid Kermani im Gespräch. Er sei vor zehn Jahren auf dem Friedhof in Kabul gewesen, unter anderem, um mit Menschen über die Ereignisse vom 11.9. zu sprechen. Zu dem Zeitpunkt habe das Land schon den Verlust von drei Millionen Menschen beklagen müssen. Denn der Krieg habe ja bereits 1979 begonnen.
Schriftsteller Navid Kermani in einem Büro, er lächelt freundlich in die Kamera.
Für viele Menschen hat der Krieg bereits weit vor den Ereignissen am 11.9.2001 begonnen, sagt Navid Kermani. © picture alliance / dpa / Oliver Berg
Auf dem Friedhof habe er einen alten Mann getroffen, der alles verloren habe, dessen Haus von einer Bombe zerstört worden war. Er sei "zu alt, um noch mal neu zu beginnen".
Der alte Mann habe gar nicht gewusst, "was 9/11 sein soll". Er habe niemals von den Flugzeugen oder dem Anschlag gehört. Er habe sich dafür entschuldigt: "Damals gab es kein Fernsehen und kein Radio, danach sei er viel zu arm gewesen und auch viel zu einsam, um etwas mitzubekommen", erzählt Kermani.

Die Welt ist bereits 1979 in Aufruhr geraten

"Unser Blick, dass 9/11 der epochale Einschlag war, gilt vor allem für uns im Westen", sagt Kermani. Das eigentliche Ereignis sei 1979, sowohl die islamische Revolution im Iran als auch der Einmarsch der Roten Armee in Afghanistan. "Das ist das einschneidende Ereignis, danach hat sich alles verändert."
Der Islam als politische Erscheinung sei erst 1979 auf die Weltbühne getreten, danach habe es vielerorts Kriege gegeben. Wir hätten erst 2001 von Gewalt und Terrorismus mitbekommen, doch bereits davor seien sehr viele Menschen gestorben. Schon damals sei die Welt "in Aufruhr geraten".
Viele Muslime hätten sich seinerzeit in die Idee verrannt, dass der Islam ihre Probleme lösen kann, "das war ein Kampf mit sich selbst". Mit dem Einmarsch der Roten Armee und der Bewaffnung des Widerstands gegen die Rote Armee seien zudem die Weltmächte in der Region aktiv geworden.
2001 habe auch den Einbruch der Wirklichkeit, den "Einbruch der Realität" bedeutet. Offenbar brauche es viele Einbrüche der Wirklichkeit, meint Kermani. "Was wir jetzt erleben in Afghanistan, ist schon wieder ein Einbruch der Wirklichkeit", meint der Schriftsteller. "Die Wirklichkeit muss schon genau vor uns stehen, damit wir sie sehen."
Selbst Themen wie die Pandemie oder das Klima würden national diskutiert, doch was hätten wir davon, wenn wir "unser Gewissen beruhigen, komplett klimatisch neutral leben", aber rings um uns herum das nicht geschehe? Das Denken in nationalen Grenzen, in nationalen Diskursen sei genau gegenläufig zu unseren Problemen.

"Das ist zum Teil ein weltkriegartiges Szenario"

Durch die Kriege sei ein Flächenbrand ausgebrochen, den viele damals bereits vorausgesehen hätten. Jemen, Syrien, Ägypten, Irak, Pakistan seien Länder, in die man zum Teil gar nicht mehr reisen könne. "Das ist zum Teil ein weltkriegsartiges Szenario." Das Zentrum sei indes nicht der Westen, Europa, sondern eben anderswo.
Wir seien von dem Krieg viel direkter als die Vereinigten Staaten betroffen: "Wir schauen tatenlos zu und sind dann überrascht und betroffen, wenn uns das wieder mal trifft."
(ros)
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