Warum ein Promi-Zahnarzt Bücher schreibt
Der Zahnarzt Anatol Gotfryd empfing jahrzehntelang die West-Berliner Künstler-Prominenz in seinem Zahnarztstuhl. Harald Juhnke oder Günter Grass zeigten ihm ihr Gebiss. Heute schreibt Gotfryd selber Bücher, in denen er seine Kindheit in der heutigen Ukraine lebendig werden lässt.
Eine sonnendurchflutete Villa mit einem Garten, der zu jeder Jahreszeit voller Blütenpracht steht - in dieser Idylle am Berliner Nikolassee lässt Anatol Gotfryd sein Leben Revue passieren. Dass der ehemalige Ghettoflüchtling zum Berliner Promi-Zahnarzt wird, hätte er nie gedacht.
Sein bewegtes Leben, das einst in Kolomea begann, liefert den besten Stoff für einen Roman. Kołomyja, die Stadt seiner Kindheit, heute in der Ukraine, war damals ein Schmelztiegel aus Sprachen und Kulturen.
"Eine Mischung aus Ukrainern, Polen, Ungarn, Rumänen, Juden und Deutschen. Es waren viele deutsche Dörfer rundherum. Bei dem Jahrmarkt konnte man die deutschen Stände vom weiten an der Größe der Kohlköpfe erkennen, weil die Deutschen ein höheres Agrarwissen hatten. Es gab Ausschreitungen, aber die waren nie nationalistisch geprägt. Mein Großvater war in diesem Städtchen Bürgermeister, in dieser Atmosphäre bin ich aufgewachsen."
Im Zweiten Weltkrieg wurde Kołomyja besetzt - zuerst von den Sowjets, dann kam die deutsche Wehrmacht. Zwischen März 1942 und Februar 1943 verwandelte sie sich in ein Ghetto.
"Das waren Viehwaggons mit kleinen Fenstern"
Über 18.000 Juden lebten dort. Fast alle kamen in dem Vernichtungslager Bełżec ums Leben. Auch Anatol Gotfryd und seine Familie saßen in einem Todeszug ins KZ. Der Sprung daraus rettete dem damals Zwölfjährigen das Leben. Auch seine Eltern überlebten auf diese Weise.
"Die Leute waren sehr zusammengepfercht, an einem der am Boden lag hatte man eine Metallsäge gefunden. In unserem Waggon war der Leiter einer Autoreparaturwerkstatt, er hat das Gitter durchgesägt - das waren Viehwaggons mit kleinen Fenstern. Dann hat man mich über die Köpfe zu dem Fensterchen gereicht und ich erinnere mich noch an das letzte Wort von Herrn Brix, der gesagt hat – du musst dich kräftig mit den Beinen abstoßen und dann erinnere ich mich an nichts mehr."
Während einer Odyssee von Versteck zu Versteck traf er viele Menschen, die halfen, sagt der 88-Jährige. Doch manche schadeten ihm.
"Sehr viele haben geholfen. Damals als ich bei den ukrainischen Bauern war, fast ein Jahr lang, hatte der Mann eine jüdische Geliebte gehabt. Das hat seine Frau rausgekriegt und mich und ihn denunziert bei der ukrainischen Polizei. Und sie haben mich festgenommen. Natürlich, dass es überall Kollaborateure gab, Erpresser, Zuträger."
Viele behandlungsbedürftige Zähne gesehen
Den Warschauer Aufstand verfolgte Anatol Gotfryd aus nächster Nähe, nach dem Krieg hat es ihn nach Breslau verschlagen, er begann Zahnmedizin zu studieren. Ein Zufall war es nicht, sagt der inzwischen legendäre "Künstlerdentist". Schon als Kind hat er viele behandlungsbedürftige Zähne gesehen. Ein lückenhaftes Gebiss eines Gemeindebeschneiders ist ihm besonders in Erinnerung geblieben. Ende der 50er-Jahre wandert er nach West-Berlin aus - statt nach Kanada, wie er ursprünglich vorhatte.
"Ich komme aus einer Familie, die nie deutschfeindlich war, wir hatten viele deutsche Freunde - meine Familie, Eltern, die stammen selbst aus Österreich ursprünglich. Sie haben das deutsche Volk nie mit den Nazis identifiziert."
Nach einer Station im US-Militärhospital sowie der Zahn- und Kieferklinik der Freien Universität gründeten 1962 Gotfryd und seine Frau Danka, ebenfalls Zahnärztin, ihre eigene Praxis am Ku'damm. Schnell wurde Anatol Gotfryd zu einem Liebling der Berliner Prominenz. Maler, Dichter, Schauspieler und Nachtclub-Besitzer wussten seine Behandlung zu schätzen – besonders die schmerzfrei gesetzten Spritzen. Rainer Werner Fassbinder, Harald Juhnke, Peter Stein oder Günter Grass waren seine Stammpatienten und verschafften auch ihm Zugang zu einer bislang unbekannten Welt.
"Natürlich haben wir unheimlich davon profitiert, denn die Leute waren gebildet und nie langweilig. Oft sind wir nicht zum Arbeiten gekommen, weil wir uns verquatscht haben. Die unterhaltsamsten sind die bildenden Künstler, weil sie die Sachen bildhafter beschreiben."
"Dieses Bild wollte ich nicht aufgeben"
Mancher Maler zeichnete gleich in der Praxis. In Anatols Gästebuch sind inzwischen vierzig Jahre Kulturgeschichte verewigt - der Boxer Bubi Scholz hinterließ eine kräftig mit den Zähnen durchbissene Seite. Im Alter von über 70 Jahren schrieb er an seinem ersten autobiografischen Buch - "Der Himmel in den Pfützen".
Mit Witz und Eindringlichkeit kehrt er darin nach Kołomyja zurück und erzählt, wie dort die Nazis wüteten. Außerdem erzählt er vom Berlin der siebziger und achtziger Jahre. Die Stadt seiner Kindheit, die er nie wieder gesehen hat, taucht auch in seinem neuesten Buch "Der Himmel über Westberlin" auf.
"Ich habe eine Weile überlegt, ob ich noch hinfahre, doch ich hatte immer Angst, denn ich habe es immer verklärt und dieses Bild wollte ich nicht aufgeben. Ich hatte eine glückliche Kindheit und man soll dieses Bild, das man verinnerlicht hat, lieber behalten."
Immer wieder trifft sich Anatol Gotfryd mit seinen Lesern, unter ihnen viele ehemalige Patienten. Sie erinnern sich noch gut an die Plaudereien am Zahnarztstuhl und hören oft zum ersten Mal, welche schlimmen Dinge der immer gutgelaunte Zahnarzt erlebt hat. Dass er eines Tages darüber schreibt, hat Anatol Gotfryd nicht geplant.
"Ich hatte mich immer für die Kunst interessiert, war aber nie auf die Idee gekommen, einen Bleistift in die Hand zu nehmen, um etwas zu malen. Auch mit dem Schreiben nicht. Das erste Buch habe ich in erster Linie als Pflicht empfunden, über die Zeit des Zweiten Weltkrieges zu berichten."