Erinnerung an den 8. Mai 1945
Altbundespräsident Richard von Weizsäcker hat den Besuch von Bundeskanzler Gerhard Schröder zum 60. Jahrestag des Kriegsendes in Moskau begrüßt. Es sei die Chance, sich der Erinnerung gemeinsam über alte Grenzen hinweg bewusst zu werden.
Deutschlandradio Kultur: Herr von Weizsäcker, vor zwanzig Jahren haben Sie Ihre berühmte, inzwischen nahezu legendäre Rede gehalten zum 40. Jahrestag der Beendigung des Zweiten Weltkrieges. Seitdem sind Sie gefragt, Sie werden immer wieder gefragt, wenn es um das Erinnern an das Kriegsende geht, auch das Erinnern an andere Kapitel der deutschen Geschichte. Täuscht der Eindruck, dass Sie darüber nicht nur glücklich sind?
Weizsäcker: Der täuscht gar nicht. (lacht)
Deutschlandradio Kultur: Es nervt schon gelegentlich ein bisschen?
Weizsäcker: Das will ich nicht sagen. Die Zuwendung zur Vergangenheit ist eine notwendige, schwere, nicht wirklich endende Aufgabe. Aber trotzdem verändert sich immerfort auch ein bisschen der Schwerpunkt der Erinnerung. Vor zwanzig Jahren waren wir in der alten Bundesrepublik, also in Westdeutschland, ja nach wie vor in einem Zustand des Kalten Krieges, der zwar allmählich abzunehmen schien, der nichts desto weniger uns, in der alten Bundesrepublik, die Aufgabe und die Chance nahe legte, sich nun auch wirklich vorzubereiten auf eine sehr viel selbstständigere außenpolitische Stimme. Dafür ist Voraussetzung gewesen, einen festen Stand im Bezug auf die Erinnerung an die Vergangenheit zu haben, und daher ging es vor zwanzig Jahren um ein Gespräch, um einen Erinnerungsvorgang unter uns Deutschen selbst. Heute, zwanzig Jahre später, fast fünfzehn Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges, ist die Erinnerung in einem weit größeren Maß internationalisiert.
Deutschlandradio Kultur: Bleiben wir noch einmal einen kleinen Moment bei dieser berühmten Rede, Herr von Weizsäcker. Der berühmteste Satz lautet ja wohl. "Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung", nämlich von der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, Sie haben aber auch gesagt, dass der 8. Mai "für uns Deutsche kein Tag zum Feiern" sei. Der Historiker Christof Stölzl sagt, "bei der überwältigenden Mehrheit der Deutschen" sei seit Ihrer "großen Rede ein Grundkonsens über die Bewertung der NS-Zeit und des Zweiten Weltkriegs samt seinen Folgen erreicht". Das heißt, es gibt dem eigentlich nichts mehr hinzuzufügen, Ihre Rede ist paradigmatisch geworden. Erfüllt Sie das nicht doch mit etwas Stolz?
Weizsäcker: Ach, komm. Was haben wir für einen Grund, über so etwas wie Stolz zu reden, wenn wir von der Vergangenheit reden? Ich bitte Sie.
Deutschlandradio Kultur: Nun sind seit dieser Rede zwanzig Jahre vergangen, wir begehen jetzt den 60. Jahrestag des Kriegsendes. Der Eiserne Vorhang ist gefallen, der Kalte Krieg ist zu Ende. Viele der Staaten, die zur Sowjetunion gehörten oder in deren Einflussbereich lagen, gehören mittlerweile zur Europäischen Union …
Weizsäcker: Manche zur NATO.
Deutschlandradio Kultur: Ja, es gibt gewisse Schnittmengen. Der deutsche Bundeskanzler fährt jetzt nach Moskau zu den Feierlichkeiten zum Kriegsende. Das wäre vor zwanzig Jahren absolut undenkbar gewesen. Ist es für Sie eigentlich etwas, dem man uneingeschränkt zustimmen kann, dass er dort hinfährt?
Weizsäcker: Ohne Einschränkung: Ja. Auch sonst besteht ja eben gerade heute die Aufgabe, die Verpflichtung, aber wenn man so sagen darf eben auch die Chance dazu, sich der Erinnerung nun wirklich gemeinsam über alte Grenzen hinweg bewusst zu werden. Das ist natürlich schwer. Es ist ja nicht nur für den deutschen Bundeskanzler ein Entschluss, am 9. Mai dieses Jahres nach Moskau zu fahren, in gewisser Weise ist es ein ganz anders gearteter, aber nun wahrlich auch nicht leichter Entschluss für die Staats- und Regierungschefs aus den baltischen Republiken, nach Moskau zu fahren.
Deutschlandradio Kultur: Da haben ja nun zwei abgesagt, die nehmen nicht teil. Haben Sie Verständnis für diese Absage?
Weizsäcker: Ja, natürlich habe ich dafür Verständnis. Ich meine, in der alten Sowjetunion und im heutigen Russland ist vom "großen vaterländischen Krieg" die Rede. Bestandteil dieses "großen vaterländischen Krieges" war es aber auch, nun die Unfreiheit in den baltischen Ländern sozusagen endgültig zu besiegeln. Wieso sollen die Präsidenten dieser Länder nach Moskau kommen, um dem zuzujubeln?
Deutschlandradio Kultur: Vielleicht, um die Chance zu nutzen, ihrer Sicht der Dinge, ihrer Sicht der Geschichte Ausdruck zu verleihen?
Weizsäcker: Gut, das wird ja auch versucht. Es ist in dem Zusammenhang aus den drei baltischen Republiken ja eine solche Anregung ausgegangen. Dasselbe gilt im Übrigen auch für den Präsidenten von Polen. Da hat es auch wiederum eine völlig verständliche, sehr intensive Diskussion in Polen darüber gegeben, ob und unter welchen Bedingungen, wenn man so will, der Präsident Kwasniewski nach Moskau reisen kann. Aus all dem ergibt sich eben, dass es erst das Ende des Kalten Krieges war, das uns überhaupt dazu befreit hat, darüber nachzudenken, was es denn bedeutet, dass der 8. Mai ’45 ein Tag der Befreiung gewesen ist. Und dem müssen sich natürlich manche auch mit ganz neuen Fronten stellen. Es gibt die erlösende Beendigung von Kriegshandlungen, aber es gibt natürlich auch den Umstand, dass nun manche Siegerparolen von damals in Bezug auf ihre Auswirkungen hinterfragt werden. Ja, das gehört doch zur Aufrichtigkeit hier im Umgang mit der Vergangenheit! Und wenn wir die nicht aufbringen, dann sollen wir es lieber gleich bleiben lassen.
Deutschlandradio Kultur: Die haben Sie ja damals auch am 8. Mai 1985 gefordert, Sie haben auch gesagt, dass es "Versöhnung ohne Erinnerung gar nicht geben kann". Weiter gedacht: Müsste Präsident Putin nicht zumindest jetzt an diesem 9. Mai den Molotow-Ribbentrop-Pakt verurteilen, in dessen Zusatzprotokoll ja bekanntlich Hitler und Stalin die Aufteilung Polens und der baltischen Staaten beschlossen hatten?
Weizsäcker: Darf ich vorschlagen, dass wir nicht heute und hier uns Gedanken darüber machen, wie Putin den 9. Mai 2005 gestalten wird. Er ist sich ohne Zweifel dessen bewusst was er bedeutet, auch, was er für die Gäste bedeutet, die nach Moskau eingeladen sind. Und ich denke, wir dürfen mit einiger Zuversicht darauf rechnen, dass er weiß, was Geschichte bedeutet und was für Verpflichtungen das für ihn mit sich bringt.
Deutschlandradio Kultur: Er will ihn ja auch zu einem "Ereignis der europäischen Versöhnung" machen. Aber man kann doch sagen, indem sich die westlichen europäischen Staaten zu sehr auf die Aufarbeitung der Nazi-Zeit konzentriert haben und vielleicht weniger auf das, was unter Stalin passiert ist, haben sie unter Umständen auch gewisse Aspekte vernachlässigt. Umgekehrt kann man zu den baltischen oder polnischen Protagonisten vielleicht auch sagen, indem sie die Verbrechen der Stalin-Zeit so sehr betonen, relativieren sie die Nazi-Zeit - und das ist ja die Diskussion, die es im Moment gibt.
Weizsäcker: Ich verstehe Ihre Frage durchaus, aber ich habe kein Bedürfnis anderen vorzuschlagen, wie sie ihre Vergangenheitsarbeit gestalten wollen oder ihnen gar vorzuwerfen, welche Unterlassungen und Fehler sie dabei machen. Wir haben mit unserer eigenen Vergangenheit genug zu tun. Es hat sehr wenig Sinn, verschiedene schreckliche Ereignisse, unterschiedliche Verbrechen, zu verschiedenen Zeiten, aus verschiedenen Motiven miteinander zu vergleichen oder sich gegenseitig vorzurechnen, wer was zu kurz nimmt und wer sich wirklich verantwortlich mit offenen Augen dieser Vergangenheit stellt. Ich halte davon sehr wenig von unserer Seite aus.
Deutschlandradio Kultur: Herr von Weizsäcker, wir haben ja ehrlich gesagt nicht damit gerechnet, dass Sie sich anmaßen würden Präsident Putin einen guten Ratschlag zu geben. Wir wollten doch nur darauf hinweisen, dass man zumindest sagen kann, dass es auch innerhalb der Europäischen Union kein einheitliches Geschichtsbild gibt. Seitdem die baltischen Staaten zur Europäischen Union gehören, wird es natürlich noch offenkundiger, dass die Beurteilung der Zeit von 1933 bis 1945 und der von 1945 bis 1989/90 da sehr auseinander geht.
Weizsäcker: Es ist ja auch gar nicht nur eine Vergangenheitsfrage, es sind ja auch Sorgen noch in der Gegenwart. Der Kalte Krieg war zu Ende, alsbald stellte sich die Frage, ob die zum ehemaligen Warschauer Pakt gehörenden Länder, Mittel- und Südost- Osteuropa nun in die Europäische Union eintreten wollten und könnten. Dass aus diesen Ländern zunächst einmal der Ruf nach Mitgliedschaft in der NATO laut werden würde, war ja nicht vollkommen unbegreiflich, wenn man an die Geschichte denkt. Natürlich haben Polen nicht nur Schreckliches im Zweiten Weltkrieg durch Nazi-Deutschland erlebt, sondern ihre Sorge, was die große Macht im Osten noch vorhaben würde, die war ja noch nicht abgestorben. Wie sollte sie auch, angesichts der polnischen Geschichte denn so schnell plötzlich in Vergessenheit geraten? Mit anderen Worten: Es war ganz begreiflich, dass gerade in diesen Ländern, die zum Warschauer Pakt-System gehört haben, der Ruf und der Wunsch nach einer Mitgliedschaft in der NATO mindestens so schnell hörbar wurde wie der Wunsch nach einer Mitgliedschaft in der Europäischen Union. Dass das inzwischen in den Hintergrund getreten ist, hat ja nun wiederum etwas mit der vernünftigen und friedlichen Entwicklung in Europa zu tun. Heute erleben wir ja schließlich - ich möchte sagen, zum ersten Mal in der Europäischen Geschichte - dass ein Land wie das deutsche, nach wie vor von neuen Nachbarn umgeben, hier lebt, ohne dass irgend einer unserer Nachbarn uns fürchtet oder wir uns von denen bedroht fühlen. Und etwas Ähnliches wollen wir doch selbstverständlich auch für unseren Nachbarn Polen erreichen, mit anderen Worten, dass die Polen etwas dazu beitragen können, dass die alte historisch begründete Sorge vor den Russen auch wieder abnimmt. Alles das ist etwas, was wir doch als Früchte dieser Arbeit vor Augen haben, wenn wir uns ohne Verklärung unserer Blicke der Vergangenheit zuwenden.
Deutschlandradio Kultur: Wenn wir uns dem Heute zuwenden, dem EU-Europa, da müssen wir konstatieren, dass die Begeisterung der Bürger sich im Moment in Grenzen hält, was den Zustand der EU angeht. Die Zeit hat es in einer Artikel-Überschrift auf den Punkt gebracht: "Europa nervt". Offensichtlich reicht diese große historische Leistung, die Sie eben noch mal umrissen haben, doch nicht aus, um die Leute nachhaltig für den Gedanken Europas zu begeistern.
Weizsäcker: Das sind halt alles nicht Fragen von Monaten, sondern Fragen von halben Jahrhunderten. Wenn man davon spricht, dass Europa nervt, muss man auch davon ausgehen, ja, es hat bedeutende Fortschritte in dieser Europäischen Union gegeben, aber sie wurden im Allgemeinen eben doch von den Regierungen vollzogen - und die Bevölkerung ist nicht immer gleich mitgekommen und versteht es auch auf Anhieb nicht gleich. Das Gremium, das in der Europäischen Union wirklich am meisten zu sagen hat, ist eben der Europäische Rat, und der besteht aus lauter nationalen Regierungen. Und eine Bevölkerung wendet sich zunächst erst einmal mit den eigenen Sorgen an die eigene Regierung. Dann wird also über den nächsten Fortschritt in Europa diskutiert und, siehe da, es ist doch kein Wunder, dass dann die Bevölkerung, wenn sie dem zustimmen soll, zunächst erst einmal sich mit ihren Sorgen zu Wort meldet, die sie ihrer eigenen Regierung gegenüber hat, und seien es auch primär erst einmal nationale Probleme, zum Beispiel Sorgen, ob die Reformprozesse auch wirklich vorangehen und Ähnliches. Es ist vollkommen richtig, was Sie sagen, die gegenwärtige Stimmung, die gegenwärtige wirkliche Übereinstimmung zwischen dem Verständnis der Bevölkerungen und ihrer Regierungen in Bezug auf die Fortschritte in Europa lassen sehr zu wünschen übrig und stellen einen Kern dessen dar, was von den Regierungen insgesamt in der kommenden Zeit gründlich verbessert werden muss.
Deutschlandradio Kultur: Es ist ja auch die Frage, wie lange man so weiter machen kann. Sie haben ja gesagt, in der Vergangenheit wurde es häufig so gemacht, der Rat preschte vor, die Bürger sind dann mehr oder weniger willig hinterher gelaufen. Jetzt steht ja noch die Aufnahme zweier neuer Länder an, Rumänien und Bulgarien, wo ja schon viele meinen, fünfundzwanzig EU-Mitglieder haben uns eigentlich schon an den Rand - oder sogar über ihn hinaus - der Belastbarkeit gebracht. Der Spiegel zum Beispiel hat zu dieser Zustimmung des Europa Parlaments zu der Aufnahme von Rumänien und Bulgarien geschrieben: "So dreist haben sich Parlamentarier und Regierungen selten über die Befürchtungen und Sorgen ihrer Bürger und die Wirklichkeit hinweggesetzt."
Weizsäcker: Also, ich bitte Sie, Sie können zu jedem Schritt in Europa selbstverständlich aus mehreren unserer ungezählten Medien die erstaunlichsten Kommentare hören und mit allen möglichen Schlagzeilen aufwarten um zu beweisen, dass das alles nicht richtig läuft.
Deutschlandradio Kultur: Ist aber trotzdem nicht doch etwas dran?
Weizsäcker: Nun mal langsam. Es gibt zum Beispiel die Stimmen, die uns sagen: ‚Jetzt haben wir fünfzehn Mitglieder gehabt, jetzt hätten wir erst mal eine zehnjährige Pause einlegen müssen.’ Wer gibt uns denn die Pause? Was bedeutet es denn, wenn wir in einer immer mehr zusammenwachsenden Welt wirklich unmittelbare Mitverantwortungen, vor allem auch Mitinteressen daran haben, dass, sagen wir mal, unsere Beziehungen zu den 1,5 Milliarden Islam-Bewohnern in der Welt sich in einer friedlichen Weise weiter entwickeln? Es ist doch unser Interesse - oder nicht? -, dass sich das, was wir gerade in der Ukraine erlebt haben, wiederum in einer friedlichen, freiheitlichen und demokratischen Form weiter entwickelt! Da können wir doch nicht hergehen und sagen: ‚Was geht uns die Ukraine an, wir wollen erst mal zwischen Luxemburg und Spanien bessere Beziehungen haben’!
Deutschlandradio Kultur: Aber eine überforderte EU kann auch keine gut funktionierende EU sein.
Weizsäcker: Die Frage, ob eine EU überfordert ist oder nicht, bestimmen wir nicht nach unserem freien Ausruhverhältnis, wenn wir einen schönen Nachmittagsschlaf gemacht haben, sondern wir stehen vor lauter Herausforderungen, die wir uns gar nicht aussuchen können. Sehen Sie, ich habe jetzt gerade in einer Balkan-Kommission mitgearbeitet, da geht es um die Frage des westlichen Balkans. Ich weiß es, es ist furchtbar schwer für eine Regierung, ihrer eigenen Bevölkerung zu sagen, letzten Endes ist es für uns auch wichtig, ob eines Tages zwischen Belgrad und Pristina im Kosovo wieder Frieden eintritt, ob die Leute in Bosnien wirklich in einer Form zusammen leben können, die wir noch als human zu bezeichnen befugt sind. Und dann wird häufig gesagt, ‚na ja, am Besten ist doch, wir lassen die Dinge einfach auf sich beruhen und kümmern uns gar nicht darum’. Bloß die Realität heißt, etwas tun auf dem westlichen Balkan ist schwer, und nichts tun auf dem westlichen Balkan ist noch viel schwerer und keineswegs billiger, sondern sogar teurer. Wir sind heute eine Art von Protektoratsmacht dort, und dann mit dem Argument zu kommen, ‚es ist doch besser, wir kümmern uns nur um unser eigenes Dorf und unser eigenes inneres Wesen’, ist eine so wunderbar verständliche, aber eben sehr unrealistische politisch-historische Forderung.
Deutschlandradio Kultur: Aber die Oppositionsführerin Angela Merkel - nehmen wir das Beispiel Türkei, nicht, um jetzt über die Türkei diskutieren zu wollen - sagt, man kann auch eine privilegierte Partnerschaft eingehen. Heißt "etwas tun", wir müssen alle Länder aufnehmen in die Union? Zudem ja, wie Sie gerade selbst zugestimmt haben, die Bürger der Union das Gefühl haben, es reicht. Oder kann man sich nicht auf anderen Wegen engagieren? Sie haben von der Balkan-Kommission gesprochen, die empfohlen hat, alle Balkan-Staaten bis zum Jahr 2014 in die Europäische Union aufzunehmen.
Weizsäcker: Langsam, langsam. Das haben wir nicht vorgeschlagen. Wir haben nur gesagt, im Jahre 1914 haben die europäischen Bürgerkriege begonnen, in Sarajewo. Wir werden ja nicht darum herumkommen, im Jahr 2014 auf ein Jahrhundert Rückblick zu halten und uns zu fragen, ob wir denn nun friedlicher geworden sind oder nicht. Aber, ob und wenn ja, wann wer, in welcher Form Mitglied der Europäischen Union werden kann, soll oder wird, darüber ist keinerlei Beschluss gegenwärtig möglich. Was wir nur gesagt haben, ist, wir können ja nicht wie Ende der 90er Jahre erneut darauf warten, dass vielleicht wieder die Amerikaner nach Europa kommen und dafür sorgen, dass wenigstens ein Grundmaß von Menschenrechten im Kosovo geschützt wird, wie es ja im Jahr 1998 dann geschehen ist. Wir haben die Verantwortung dafür, dass es einigermaßen human auf unserem Kontinent zugeht. Und das ist eine große Anstrengung, eine große Anstrengung für uns als Bevölkerung und eine große Anstrengung für uns als Regierung. Aber es ist sehr leicht, einfach zu sagen, ‚am besten ist, wir machen eine Pause und kümmern uns um das alles gar nicht’. Das ist nichts anderes als wirklich unverantwortlich!
Deutschlandradio Kultur: Wir unterstellen, dass Sie einverstanden sind mit dem Europäischen Verfassungsvertrag und Sie wissen genau so gut wie ich, dass er im Moment gefährdet ist, dass er jemals ratifiziert werden wird von allen fünfundzwanzig Beteiligten.
Weizsäcker: Das ist denkbar, ja.
Deutschlandradio Kultur: Es besteht aber die Befürchtung, dass man, indem man sich auf diese schnelle Erweiterung festlegt und indem man sich auf eine vertiefte Zusammenarbeit festlegt, gleichzeitig die berühmte Bevölkerung, die da unten - nicht die politische Elite, die etwas beschließt - nicht mitnimmt.
Weizsäcker: Wir verständigen uns doch nicht auf eine schnelle Erweiterung. Obwohl wahr ist, dass wir, nachdem wir vor drei Jahren ja zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und einer Reihe von europäischen Ländern - darunter auch dem unsrigen - erhebliche Meinungsverschiedenheiten hatten, insbesondere im Zusammenhang mit dem Irak-Krieg, während gegenwärtig die amerikanische Administration uns in der Europäischen Union vor allem für eines ganz besonders lobt, nämlich dafür, dass hier eine Erweiterungspolitik in Angriff genommen worden ist, die im Grunde genommen der einzig wirklich effektive Ansatz ist, der zu einer Erhöhung der Friedenssituation auf der Welt beiträgt. Ob das nun im Einzelnen immer so genau anzuwenden ist und stimmt, das lasse ich jetzt vollkommen offen. Ich wende mich nur, gelegentlich sogar mit einiger Erregung, gegen die Vorstellung, die Welt ist eben entweder friedlich wenn wir gar nichts tun - oder wir übernehmen uns immerfort, weil wir vielleicht zu ehrgeizig oder sonst was sind und schaffen dadurch ganz unnötige Probleme. Was die Europäische Verfassung anbetrifft: Es ist ja ein Verfassungsvertrag, es ist keineswegs dasselbe wie das, was wir unter einer Verfassung in einer Nation uns vorzustellen haben. Europa wird ja nicht eine Nation, sondern Europa wächst zu einer Einheit zusammen, wie wir sie bisher in der Geschichte noch gar nicht je erlebt haben.
Deutschlandradio Kultur: Aber mit den nationalen Grundgesetzen kommt dieser Europäische Verfassungsvertrag eben schon in Berührung.
Weizsäcker: Nun mal langsam. Die Vorstellung, dass jetzt mit Hilfe des Entwurfes dieser Europäischen Verfassung unser Grundgesetz verletzt würde, halte ich für eine populistische und juristisch nicht fundierte Äußerung. Darüber brauchen wir ja vielleicht jetzt nicht zu streiten. Was ich für viel wichtiger halte ist, dass wir in Europa lernen, gemäß unserer Interessen und unserer Verantwortung Schritt für Schritt wirklich mit einer Stimme zu sprechen.
Das Gespräch führten Susanne Führer und Annette Riedel.
Dr. Richard von Weizsäcker
Geboren am 15. April 1920 in Stuttgart, verheiratet,
vier Kinder
Grundschule, Humanistisches Gymnasium in Berlin und Bern
1937 - 1938 Abitur
Studium an den Universitäten Oxford und Grenoble
1938 - 1945 Militärdienst
1945 - 1949 Studium an der Universität Göttingen, Rechtswissenschaften, Geschichte
1950 - 1966 Tätigkeit in der Wirtschaft
1964 – 1970 / 1979 - 1981 Präsident des Deutschen Evangelischen Kirchentages
1967 - 1984 Mitglied der Synode und des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland
1969 - 1981 Mitglied des Deutschen Bundestages
1979 - 1981 Vizepräsident des Deutschen Bundestages
1981 - 1984 Regierender Bürgermeister von Berlin
1984 - 1994 Präsident der Bundesrepublik Deutschland
1994 - 1995 Ko-Vorsitzender der Unabhängigen Arbeitsgruppe über die Zukunft der Vereinten Nationen
Gastprofessuren in Düsseldorf und Frankfurt/Oder
1999 Einer der "Drei Weisen", die vom Präsidenten der Europäischen Kommission Romano Prodi gebeten wurden, Vorschläge zur Reform der Institutionen der Europäischen Union auszuarbeiten, um sie in die Lage zu versetzen, neue Mitgliedstaaten aufzunehmen
1999 - 2000 Vorsitzender der Kommission "Gemeinsame Sicherheit und Zukunft der Bundeswehr"
2001 Mitautor des Berichts für die Vereinten Nationen "Crossing the Divide, Dialogue among Civilisation"/ "Brücke in die Zukunft, Ein Manifest für den Dialog der Kulturen", als einer der von Generalsekretär Kofi Annan zur Mitarbeit eingeladenen "eminent persons".
2002 Mitglied der Beratenden Kommission im Zusammenhang mit der Rückgabe NS-verfolgsbedingt entzogener Kulturgüter, insbesondere aus jüdischem Besitz
Sept. 2002-März 2004 Vorsitzender des Kuratoriums Fluthilfe
Seit April 2004 Mitglied der Internationalen Balkankommission
Weizsäcker: Der täuscht gar nicht. (lacht)
Deutschlandradio Kultur: Es nervt schon gelegentlich ein bisschen?
Weizsäcker: Das will ich nicht sagen. Die Zuwendung zur Vergangenheit ist eine notwendige, schwere, nicht wirklich endende Aufgabe. Aber trotzdem verändert sich immerfort auch ein bisschen der Schwerpunkt der Erinnerung. Vor zwanzig Jahren waren wir in der alten Bundesrepublik, also in Westdeutschland, ja nach wie vor in einem Zustand des Kalten Krieges, der zwar allmählich abzunehmen schien, der nichts desto weniger uns, in der alten Bundesrepublik, die Aufgabe und die Chance nahe legte, sich nun auch wirklich vorzubereiten auf eine sehr viel selbstständigere außenpolitische Stimme. Dafür ist Voraussetzung gewesen, einen festen Stand im Bezug auf die Erinnerung an die Vergangenheit zu haben, und daher ging es vor zwanzig Jahren um ein Gespräch, um einen Erinnerungsvorgang unter uns Deutschen selbst. Heute, zwanzig Jahre später, fast fünfzehn Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges, ist die Erinnerung in einem weit größeren Maß internationalisiert.
Deutschlandradio Kultur: Bleiben wir noch einmal einen kleinen Moment bei dieser berühmten Rede, Herr von Weizsäcker. Der berühmteste Satz lautet ja wohl. "Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung", nämlich von der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, Sie haben aber auch gesagt, dass der 8. Mai "für uns Deutsche kein Tag zum Feiern" sei. Der Historiker Christof Stölzl sagt, "bei der überwältigenden Mehrheit der Deutschen" sei seit Ihrer "großen Rede ein Grundkonsens über die Bewertung der NS-Zeit und des Zweiten Weltkriegs samt seinen Folgen erreicht". Das heißt, es gibt dem eigentlich nichts mehr hinzuzufügen, Ihre Rede ist paradigmatisch geworden. Erfüllt Sie das nicht doch mit etwas Stolz?
Weizsäcker: Ach, komm. Was haben wir für einen Grund, über so etwas wie Stolz zu reden, wenn wir von der Vergangenheit reden? Ich bitte Sie.
Deutschlandradio Kultur: Nun sind seit dieser Rede zwanzig Jahre vergangen, wir begehen jetzt den 60. Jahrestag des Kriegsendes. Der Eiserne Vorhang ist gefallen, der Kalte Krieg ist zu Ende. Viele der Staaten, die zur Sowjetunion gehörten oder in deren Einflussbereich lagen, gehören mittlerweile zur Europäischen Union …
Weizsäcker: Manche zur NATO.
Deutschlandradio Kultur: Ja, es gibt gewisse Schnittmengen. Der deutsche Bundeskanzler fährt jetzt nach Moskau zu den Feierlichkeiten zum Kriegsende. Das wäre vor zwanzig Jahren absolut undenkbar gewesen. Ist es für Sie eigentlich etwas, dem man uneingeschränkt zustimmen kann, dass er dort hinfährt?
Weizsäcker: Ohne Einschränkung: Ja. Auch sonst besteht ja eben gerade heute die Aufgabe, die Verpflichtung, aber wenn man so sagen darf eben auch die Chance dazu, sich der Erinnerung nun wirklich gemeinsam über alte Grenzen hinweg bewusst zu werden. Das ist natürlich schwer. Es ist ja nicht nur für den deutschen Bundeskanzler ein Entschluss, am 9. Mai dieses Jahres nach Moskau zu fahren, in gewisser Weise ist es ein ganz anders gearteter, aber nun wahrlich auch nicht leichter Entschluss für die Staats- und Regierungschefs aus den baltischen Republiken, nach Moskau zu fahren.
Deutschlandradio Kultur: Da haben ja nun zwei abgesagt, die nehmen nicht teil. Haben Sie Verständnis für diese Absage?
Weizsäcker: Ja, natürlich habe ich dafür Verständnis. Ich meine, in der alten Sowjetunion und im heutigen Russland ist vom "großen vaterländischen Krieg" die Rede. Bestandteil dieses "großen vaterländischen Krieges" war es aber auch, nun die Unfreiheit in den baltischen Ländern sozusagen endgültig zu besiegeln. Wieso sollen die Präsidenten dieser Länder nach Moskau kommen, um dem zuzujubeln?
Deutschlandradio Kultur: Vielleicht, um die Chance zu nutzen, ihrer Sicht der Dinge, ihrer Sicht der Geschichte Ausdruck zu verleihen?
Weizsäcker: Gut, das wird ja auch versucht. Es ist in dem Zusammenhang aus den drei baltischen Republiken ja eine solche Anregung ausgegangen. Dasselbe gilt im Übrigen auch für den Präsidenten von Polen. Da hat es auch wiederum eine völlig verständliche, sehr intensive Diskussion in Polen darüber gegeben, ob und unter welchen Bedingungen, wenn man so will, der Präsident Kwasniewski nach Moskau reisen kann. Aus all dem ergibt sich eben, dass es erst das Ende des Kalten Krieges war, das uns überhaupt dazu befreit hat, darüber nachzudenken, was es denn bedeutet, dass der 8. Mai ’45 ein Tag der Befreiung gewesen ist. Und dem müssen sich natürlich manche auch mit ganz neuen Fronten stellen. Es gibt die erlösende Beendigung von Kriegshandlungen, aber es gibt natürlich auch den Umstand, dass nun manche Siegerparolen von damals in Bezug auf ihre Auswirkungen hinterfragt werden. Ja, das gehört doch zur Aufrichtigkeit hier im Umgang mit der Vergangenheit! Und wenn wir die nicht aufbringen, dann sollen wir es lieber gleich bleiben lassen.
Deutschlandradio Kultur: Die haben Sie ja damals auch am 8. Mai 1985 gefordert, Sie haben auch gesagt, dass es "Versöhnung ohne Erinnerung gar nicht geben kann". Weiter gedacht: Müsste Präsident Putin nicht zumindest jetzt an diesem 9. Mai den Molotow-Ribbentrop-Pakt verurteilen, in dessen Zusatzprotokoll ja bekanntlich Hitler und Stalin die Aufteilung Polens und der baltischen Staaten beschlossen hatten?
Weizsäcker: Darf ich vorschlagen, dass wir nicht heute und hier uns Gedanken darüber machen, wie Putin den 9. Mai 2005 gestalten wird. Er ist sich ohne Zweifel dessen bewusst was er bedeutet, auch, was er für die Gäste bedeutet, die nach Moskau eingeladen sind. Und ich denke, wir dürfen mit einiger Zuversicht darauf rechnen, dass er weiß, was Geschichte bedeutet und was für Verpflichtungen das für ihn mit sich bringt.
Deutschlandradio Kultur: Er will ihn ja auch zu einem "Ereignis der europäischen Versöhnung" machen. Aber man kann doch sagen, indem sich die westlichen europäischen Staaten zu sehr auf die Aufarbeitung der Nazi-Zeit konzentriert haben und vielleicht weniger auf das, was unter Stalin passiert ist, haben sie unter Umständen auch gewisse Aspekte vernachlässigt. Umgekehrt kann man zu den baltischen oder polnischen Protagonisten vielleicht auch sagen, indem sie die Verbrechen der Stalin-Zeit so sehr betonen, relativieren sie die Nazi-Zeit - und das ist ja die Diskussion, die es im Moment gibt.
Weizsäcker: Ich verstehe Ihre Frage durchaus, aber ich habe kein Bedürfnis anderen vorzuschlagen, wie sie ihre Vergangenheitsarbeit gestalten wollen oder ihnen gar vorzuwerfen, welche Unterlassungen und Fehler sie dabei machen. Wir haben mit unserer eigenen Vergangenheit genug zu tun. Es hat sehr wenig Sinn, verschiedene schreckliche Ereignisse, unterschiedliche Verbrechen, zu verschiedenen Zeiten, aus verschiedenen Motiven miteinander zu vergleichen oder sich gegenseitig vorzurechnen, wer was zu kurz nimmt und wer sich wirklich verantwortlich mit offenen Augen dieser Vergangenheit stellt. Ich halte davon sehr wenig von unserer Seite aus.
Deutschlandradio Kultur: Herr von Weizsäcker, wir haben ja ehrlich gesagt nicht damit gerechnet, dass Sie sich anmaßen würden Präsident Putin einen guten Ratschlag zu geben. Wir wollten doch nur darauf hinweisen, dass man zumindest sagen kann, dass es auch innerhalb der Europäischen Union kein einheitliches Geschichtsbild gibt. Seitdem die baltischen Staaten zur Europäischen Union gehören, wird es natürlich noch offenkundiger, dass die Beurteilung der Zeit von 1933 bis 1945 und der von 1945 bis 1989/90 da sehr auseinander geht.
Weizsäcker: Es ist ja auch gar nicht nur eine Vergangenheitsfrage, es sind ja auch Sorgen noch in der Gegenwart. Der Kalte Krieg war zu Ende, alsbald stellte sich die Frage, ob die zum ehemaligen Warschauer Pakt gehörenden Länder, Mittel- und Südost- Osteuropa nun in die Europäische Union eintreten wollten und könnten. Dass aus diesen Ländern zunächst einmal der Ruf nach Mitgliedschaft in der NATO laut werden würde, war ja nicht vollkommen unbegreiflich, wenn man an die Geschichte denkt. Natürlich haben Polen nicht nur Schreckliches im Zweiten Weltkrieg durch Nazi-Deutschland erlebt, sondern ihre Sorge, was die große Macht im Osten noch vorhaben würde, die war ja noch nicht abgestorben. Wie sollte sie auch, angesichts der polnischen Geschichte denn so schnell plötzlich in Vergessenheit geraten? Mit anderen Worten: Es war ganz begreiflich, dass gerade in diesen Ländern, die zum Warschauer Pakt-System gehört haben, der Ruf und der Wunsch nach einer Mitgliedschaft in der NATO mindestens so schnell hörbar wurde wie der Wunsch nach einer Mitgliedschaft in der Europäischen Union. Dass das inzwischen in den Hintergrund getreten ist, hat ja nun wiederum etwas mit der vernünftigen und friedlichen Entwicklung in Europa zu tun. Heute erleben wir ja schließlich - ich möchte sagen, zum ersten Mal in der Europäischen Geschichte - dass ein Land wie das deutsche, nach wie vor von neuen Nachbarn umgeben, hier lebt, ohne dass irgend einer unserer Nachbarn uns fürchtet oder wir uns von denen bedroht fühlen. Und etwas Ähnliches wollen wir doch selbstverständlich auch für unseren Nachbarn Polen erreichen, mit anderen Worten, dass die Polen etwas dazu beitragen können, dass die alte historisch begründete Sorge vor den Russen auch wieder abnimmt. Alles das ist etwas, was wir doch als Früchte dieser Arbeit vor Augen haben, wenn wir uns ohne Verklärung unserer Blicke der Vergangenheit zuwenden.
Deutschlandradio Kultur: Wenn wir uns dem Heute zuwenden, dem EU-Europa, da müssen wir konstatieren, dass die Begeisterung der Bürger sich im Moment in Grenzen hält, was den Zustand der EU angeht. Die Zeit hat es in einer Artikel-Überschrift auf den Punkt gebracht: "Europa nervt". Offensichtlich reicht diese große historische Leistung, die Sie eben noch mal umrissen haben, doch nicht aus, um die Leute nachhaltig für den Gedanken Europas zu begeistern.
Weizsäcker: Das sind halt alles nicht Fragen von Monaten, sondern Fragen von halben Jahrhunderten. Wenn man davon spricht, dass Europa nervt, muss man auch davon ausgehen, ja, es hat bedeutende Fortschritte in dieser Europäischen Union gegeben, aber sie wurden im Allgemeinen eben doch von den Regierungen vollzogen - und die Bevölkerung ist nicht immer gleich mitgekommen und versteht es auch auf Anhieb nicht gleich. Das Gremium, das in der Europäischen Union wirklich am meisten zu sagen hat, ist eben der Europäische Rat, und der besteht aus lauter nationalen Regierungen. Und eine Bevölkerung wendet sich zunächst erst einmal mit den eigenen Sorgen an die eigene Regierung. Dann wird also über den nächsten Fortschritt in Europa diskutiert und, siehe da, es ist doch kein Wunder, dass dann die Bevölkerung, wenn sie dem zustimmen soll, zunächst erst einmal sich mit ihren Sorgen zu Wort meldet, die sie ihrer eigenen Regierung gegenüber hat, und seien es auch primär erst einmal nationale Probleme, zum Beispiel Sorgen, ob die Reformprozesse auch wirklich vorangehen und Ähnliches. Es ist vollkommen richtig, was Sie sagen, die gegenwärtige Stimmung, die gegenwärtige wirkliche Übereinstimmung zwischen dem Verständnis der Bevölkerungen und ihrer Regierungen in Bezug auf die Fortschritte in Europa lassen sehr zu wünschen übrig und stellen einen Kern dessen dar, was von den Regierungen insgesamt in der kommenden Zeit gründlich verbessert werden muss.
Deutschlandradio Kultur: Es ist ja auch die Frage, wie lange man so weiter machen kann. Sie haben ja gesagt, in der Vergangenheit wurde es häufig so gemacht, der Rat preschte vor, die Bürger sind dann mehr oder weniger willig hinterher gelaufen. Jetzt steht ja noch die Aufnahme zweier neuer Länder an, Rumänien und Bulgarien, wo ja schon viele meinen, fünfundzwanzig EU-Mitglieder haben uns eigentlich schon an den Rand - oder sogar über ihn hinaus - der Belastbarkeit gebracht. Der Spiegel zum Beispiel hat zu dieser Zustimmung des Europa Parlaments zu der Aufnahme von Rumänien und Bulgarien geschrieben: "So dreist haben sich Parlamentarier und Regierungen selten über die Befürchtungen und Sorgen ihrer Bürger und die Wirklichkeit hinweggesetzt."
Weizsäcker: Also, ich bitte Sie, Sie können zu jedem Schritt in Europa selbstverständlich aus mehreren unserer ungezählten Medien die erstaunlichsten Kommentare hören und mit allen möglichen Schlagzeilen aufwarten um zu beweisen, dass das alles nicht richtig läuft.
Deutschlandradio Kultur: Ist aber trotzdem nicht doch etwas dran?
Weizsäcker: Nun mal langsam. Es gibt zum Beispiel die Stimmen, die uns sagen: ‚Jetzt haben wir fünfzehn Mitglieder gehabt, jetzt hätten wir erst mal eine zehnjährige Pause einlegen müssen.’ Wer gibt uns denn die Pause? Was bedeutet es denn, wenn wir in einer immer mehr zusammenwachsenden Welt wirklich unmittelbare Mitverantwortungen, vor allem auch Mitinteressen daran haben, dass, sagen wir mal, unsere Beziehungen zu den 1,5 Milliarden Islam-Bewohnern in der Welt sich in einer friedlichen Weise weiter entwickeln? Es ist doch unser Interesse - oder nicht? -, dass sich das, was wir gerade in der Ukraine erlebt haben, wiederum in einer friedlichen, freiheitlichen und demokratischen Form weiter entwickelt! Da können wir doch nicht hergehen und sagen: ‚Was geht uns die Ukraine an, wir wollen erst mal zwischen Luxemburg und Spanien bessere Beziehungen haben’!
Deutschlandradio Kultur: Aber eine überforderte EU kann auch keine gut funktionierende EU sein.
Weizsäcker: Die Frage, ob eine EU überfordert ist oder nicht, bestimmen wir nicht nach unserem freien Ausruhverhältnis, wenn wir einen schönen Nachmittagsschlaf gemacht haben, sondern wir stehen vor lauter Herausforderungen, die wir uns gar nicht aussuchen können. Sehen Sie, ich habe jetzt gerade in einer Balkan-Kommission mitgearbeitet, da geht es um die Frage des westlichen Balkans. Ich weiß es, es ist furchtbar schwer für eine Regierung, ihrer eigenen Bevölkerung zu sagen, letzten Endes ist es für uns auch wichtig, ob eines Tages zwischen Belgrad und Pristina im Kosovo wieder Frieden eintritt, ob die Leute in Bosnien wirklich in einer Form zusammen leben können, die wir noch als human zu bezeichnen befugt sind. Und dann wird häufig gesagt, ‚na ja, am Besten ist doch, wir lassen die Dinge einfach auf sich beruhen und kümmern uns gar nicht darum’. Bloß die Realität heißt, etwas tun auf dem westlichen Balkan ist schwer, und nichts tun auf dem westlichen Balkan ist noch viel schwerer und keineswegs billiger, sondern sogar teurer. Wir sind heute eine Art von Protektoratsmacht dort, und dann mit dem Argument zu kommen, ‚es ist doch besser, wir kümmern uns nur um unser eigenes Dorf und unser eigenes inneres Wesen’, ist eine so wunderbar verständliche, aber eben sehr unrealistische politisch-historische Forderung.
Deutschlandradio Kultur: Aber die Oppositionsführerin Angela Merkel - nehmen wir das Beispiel Türkei, nicht, um jetzt über die Türkei diskutieren zu wollen - sagt, man kann auch eine privilegierte Partnerschaft eingehen. Heißt "etwas tun", wir müssen alle Länder aufnehmen in die Union? Zudem ja, wie Sie gerade selbst zugestimmt haben, die Bürger der Union das Gefühl haben, es reicht. Oder kann man sich nicht auf anderen Wegen engagieren? Sie haben von der Balkan-Kommission gesprochen, die empfohlen hat, alle Balkan-Staaten bis zum Jahr 2014 in die Europäische Union aufzunehmen.
Weizsäcker: Langsam, langsam. Das haben wir nicht vorgeschlagen. Wir haben nur gesagt, im Jahre 1914 haben die europäischen Bürgerkriege begonnen, in Sarajewo. Wir werden ja nicht darum herumkommen, im Jahr 2014 auf ein Jahrhundert Rückblick zu halten und uns zu fragen, ob wir denn nun friedlicher geworden sind oder nicht. Aber, ob und wenn ja, wann wer, in welcher Form Mitglied der Europäischen Union werden kann, soll oder wird, darüber ist keinerlei Beschluss gegenwärtig möglich. Was wir nur gesagt haben, ist, wir können ja nicht wie Ende der 90er Jahre erneut darauf warten, dass vielleicht wieder die Amerikaner nach Europa kommen und dafür sorgen, dass wenigstens ein Grundmaß von Menschenrechten im Kosovo geschützt wird, wie es ja im Jahr 1998 dann geschehen ist. Wir haben die Verantwortung dafür, dass es einigermaßen human auf unserem Kontinent zugeht. Und das ist eine große Anstrengung, eine große Anstrengung für uns als Bevölkerung und eine große Anstrengung für uns als Regierung. Aber es ist sehr leicht, einfach zu sagen, ‚am besten ist, wir machen eine Pause und kümmern uns um das alles gar nicht’. Das ist nichts anderes als wirklich unverantwortlich!
Deutschlandradio Kultur: Wir unterstellen, dass Sie einverstanden sind mit dem Europäischen Verfassungsvertrag und Sie wissen genau so gut wie ich, dass er im Moment gefährdet ist, dass er jemals ratifiziert werden wird von allen fünfundzwanzig Beteiligten.
Weizsäcker: Das ist denkbar, ja.
Deutschlandradio Kultur: Es besteht aber die Befürchtung, dass man, indem man sich auf diese schnelle Erweiterung festlegt und indem man sich auf eine vertiefte Zusammenarbeit festlegt, gleichzeitig die berühmte Bevölkerung, die da unten - nicht die politische Elite, die etwas beschließt - nicht mitnimmt.
Weizsäcker: Wir verständigen uns doch nicht auf eine schnelle Erweiterung. Obwohl wahr ist, dass wir, nachdem wir vor drei Jahren ja zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und einer Reihe von europäischen Ländern - darunter auch dem unsrigen - erhebliche Meinungsverschiedenheiten hatten, insbesondere im Zusammenhang mit dem Irak-Krieg, während gegenwärtig die amerikanische Administration uns in der Europäischen Union vor allem für eines ganz besonders lobt, nämlich dafür, dass hier eine Erweiterungspolitik in Angriff genommen worden ist, die im Grunde genommen der einzig wirklich effektive Ansatz ist, der zu einer Erhöhung der Friedenssituation auf der Welt beiträgt. Ob das nun im Einzelnen immer so genau anzuwenden ist und stimmt, das lasse ich jetzt vollkommen offen. Ich wende mich nur, gelegentlich sogar mit einiger Erregung, gegen die Vorstellung, die Welt ist eben entweder friedlich wenn wir gar nichts tun - oder wir übernehmen uns immerfort, weil wir vielleicht zu ehrgeizig oder sonst was sind und schaffen dadurch ganz unnötige Probleme. Was die Europäische Verfassung anbetrifft: Es ist ja ein Verfassungsvertrag, es ist keineswegs dasselbe wie das, was wir unter einer Verfassung in einer Nation uns vorzustellen haben. Europa wird ja nicht eine Nation, sondern Europa wächst zu einer Einheit zusammen, wie wir sie bisher in der Geschichte noch gar nicht je erlebt haben.
Deutschlandradio Kultur: Aber mit den nationalen Grundgesetzen kommt dieser Europäische Verfassungsvertrag eben schon in Berührung.
Weizsäcker: Nun mal langsam. Die Vorstellung, dass jetzt mit Hilfe des Entwurfes dieser Europäischen Verfassung unser Grundgesetz verletzt würde, halte ich für eine populistische und juristisch nicht fundierte Äußerung. Darüber brauchen wir ja vielleicht jetzt nicht zu streiten. Was ich für viel wichtiger halte ist, dass wir in Europa lernen, gemäß unserer Interessen und unserer Verantwortung Schritt für Schritt wirklich mit einer Stimme zu sprechen.
Das Gespräch führten Susanne Führer und Annette Riedel.
Dr. Richard von Weizsäcker
Geboren am 15. April 1920 in Stuttgart, verheiratet,
vier Kinder
Grundschule, Humanistisches Gymnasium in Berlin und Bern
1937 - 1938 Abitur
Studium an den Universitäten Oxford und Grenoble
1938 - 1945 Militärdienst
1945 - 1949 Studium an der Universität Göttingen, Rechtswissenschaften, Geschichte
1950 - 1966 Tätigkeit in der Wirtschaft
1964 – 1970 / 1979 - 1981 Präsident des Deutschen Evangelischen Kirchentages
1967 - 1984 Mitglied der Synode und des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland
1969 - 1981 Mitglied des Deutschen Bundestages
1979 - 1981 Vizepräsident des Deutschen Bundestages
1981 - 1984 Regierender Bürgermeister von Berlin
1984 - 1994 Präsident der Bundesrepublik Deutschland
1994 - 1995 Ko-Vorsitzender der Unabhängigen Arbeitsgruppe über die Zukunft der Vereinten Nationen
Gastprofessuren in Düsseldorf und Frankfurt/Oder
1999 Einer der "Drei Weisen", die vom Präsidenten der Europäischen Kommission Romano Prodi gebeten wurden, Vorschläge zur Reform der Institutionen der Europäischen Union auszuarbeiten, um sie in die Lage zu versetzen, neue Mitgliedstaaten aufzunehmen
1999 - 2000 Vorsitzender der Kommission "Gemeinsame Sicherheit und Zukunft der Bundeswehr"
2001 Mitautor des Berichts für die Vereinten Nationen "Crossing the Divide, Dialogue among Civilisation"/ "Brücke in die Zukunft, Ein Manifest für den Dialog der Kulturen", als einer der von Generalsekretär Kofi Annan zur Mitarbeit eingeladenen "eminent persons".
2002 Mitglied der Beratenden Kommission im Zusammenhang mit der Rückgabe NS-verfolgsbedingt entzogener Kulturgüter, insbesondere aus jüdischem Besitz
Sept. 2002-März 2004 Vorsitzender des Kuratoriums Fluthilfe
Seit April 2004 Mitglied der Internationalen Balkankommission