Die Dichterin Sarah Kirsch
Die Dichterin Sarah Kirsch (1935 - 2013) lebte seit den 1980er-Jahren in Schleswig-Holstein. © dpa / picture alliance / Ingo Wagner
Nachgelassenes und Unvollendetes
29:40 Minuten
Ein altes Schulhaus in Schleswig-Holstein war der letzte Wohnort von Sarah Kirsch. In Erinnerung an deren Tod im Jahr 2013 hat Noemi Schneider dort den Sohn Moritz Kirsch besucht - den Nachlassverwalter der Dichterin. (Erstsendung am 4.5.2018)
Die große Lyrikerin Sarah Kirsch starb am 5. Mai 2013. In der DDR war sie 1976 aus der SED und aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen worden, nachdem sie als eine der ersten die Protesterklärung gegen die Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermanns unterzeichnet hatte.
Das dichterische Erbe
Ihr Ausreiseantrag in die Bundesrepublik wurde 1977 genehmigt. Kirsch zog zunächst nach Westberlin und lebte ab 1983 lebte sie in Tielenhemme in Schleswig Holstein. Ihr Sohn Moritz Kirsch wohnt weiterhin in dem verwunschen ehemaligen Schulhaus im Landkreis Dithmarschen und verwaltet den Nachlass der Dichterin. Die Journalistin Noemi Schneider hat ihn dort besucht.
Das Manuskript unserer Sendung vom Mai 2018 im Wortlaut:
Zitatorin:
"Ich bin der Wind das
Spinnenschrittchen auf dein
Schönroten Mund"
Spinnenschrittchen auf dein
Schönroten Mund"
Das Gartentor steht offen, ein schmaler Weg führt über vier Stufen bis zum Eingang. Zur Rechten und Linken der blauen Haustür wogen hochgewachsene Bambushalme im Nordostwind. Dreht man sich auf dem obersten Treppenabsatz um, kann man durch das grüne Blätterdickicht hindurch die hinter dem Deich dahin fließende Eider sehen.
Moritz Kirsch: "Moin, moin. Herzlich willkommen im Sarah Kirschs Haus."
Moritz Kirsch, der Sohn der Dichterin und ihr Nachlassverwalter, öffnet die Tür:
"Die Klingel muss so laut sein, weil das Haus is ja auch sehr, sehr groß und sehr weitwinkelig und …"
Er deutet lächelnd auf die monströse Klingel neben dem Türstock:
"Bevor wir diese Klingel hatten, da standen hier auch häufiger mal angemeldete oder auch unangemeldete Gäste und haben mehrfach geklingelt. Sarah hat’s nicht gehört oder ich hab’s nicht gehört oben und die sind dann wieder weggefahren und deswegen musste dieses Monstergerät angeschafft werden."
Das Refugium der Dichterin
Die Führung durch das 1896 erbaute Schulhaus beginnt im ehemaligen Klassenzimmer, in dem bis Anfang der 70er Jahre um die dreißig Schüler verschiedener Altersstufen hinter ihren Pulten saßen. Die große Tafel an der Stirnseite des Raumes mit der ochsenblutfarben gestrichenen Decke stammt noch aus dieser Zeit.
Anfang der 80er Jahre waren Sarah Kirsch und ihr damaliger Lebensgefährte, der Komponist Wolfgang von Schweinitz, den sie bei einem Aufenthalt in der Villa Massimo in Rom kennengelernt hatte, auf der Suche nach einem Refugium, um dort in Ruhe leben und arbeiten zu können. Der Schriftsteller Günter Kunert schickte ihnen die Makleranzeige, in der die alte Schule in Tielenhemme zum Verkauf angeboten wurde. Nach der Besichtigung stand sofort fest, dass es sich bei dem abgeschieden, inmitten von Feldern gelegenen Haus auf dem Eiderdeich, um den idealen Ort handelte.
Moritz Kirsch: "In den Anfangsjahren stand hier in dem alten Schulzimmer von Wolfgang von Schweinitz ein Riesenkonzertflügel und hier wurde auch komponiert. Laut gesungen, den ganzen Tag Musik gehört, das war dafür einfach ideal."
Am 5. Mai 1983 zogen Sarah Kirsch, ihr Sohn Moritz und Wolfgang von Schweinitz in die alte Schule ein. Die Katze Lulu aus West Berlin war ebenfalls unter den neuen Bewohnern. Hinzu kamen in den Folgejahren ein Dutzend Schafe, der Esel Bilbo, ein Neufundländer namens Robert, die Schildkröten Caesar und Cleopatra und natürlich weitere Katzen mit klingenden Namen wie Anna Blume, Salvatore oder Wassilij. Der damals 14-jährige Moritz musste früh aufstehen, um den Schulbus in die 26 Kilometer entfernte Kleinstadt Heide zu erwischen. Sarah Kirsch schrieb und bepflanzte den Garten, Wolfgang von Schweinitz kochte und komponierte.
Zitatorin:
"Von jetzt an
Von jetzt an teil ich mit dir
Von jetzt an teilst du mit mir
Jedwede Freude, jedweden Zorn.
Wir lassen uns nicht ins Bockshorn jagen
Von süßen Karaffen
Und Geldbeutelein"
Von jetzt an teil ich mit dir
Von jetzt an teilst du mit mir
Jedwede Freude, jedweden Zorn.
Wir lassen uns nicht ins Bockshorn jagen
Von süßen Karaffen
Und Geldbeutelein"
Vertonung der Gedichte
Neben der Oper "Patmos", einer Auftragsarbeit für Hans Werner Henzes Münchner Biennale, die von Schweinitz im Klassenzimmer in Tielenhemme komponierte, vertonte er auch einige Gedichte seiner Dichterfreundin.
Nachdem Wolfgang von Schweinitz nach der Trennung von Sarah Kirsch Anfang der 90er Jahre ausgezogen war, wurde das Musikzimmer zum Malzimmer umfunktioniert.
Moritz Kirsch:"Leider finde ich sie immer, wenn ich sie vorführen will, dann find ich grad die Farbkleckser nicht. Ich glaube, hier haben wir zum Beispiel ein paar Grünspritzer, und hier und hier lagen die Bilder aus, und da hat sie dann, ja, verschiedene Techniken ausprobiert, und später wurden sie noch zurechtgeschnitten."
Malen als Entspannung
Anfangs aquarellierte Sarah Kirsch im Miniaturformat. Sie nannte es "rumklecksen". Das Malen war für sie im Gegensatz zum Schreiben keine Arbeit, sondern reines Vergnügen, es diente der Entspannung. Die Bilder auszustellen oder zu verkaufen hatte sie nicht im Sinn.
Moritz Kirsch: "Der erste Galerist, der sie dann überreden wollte, ne Ausstellung zu machen, der musste, glaub ich, doch ziemlich lange daran arbeiten, bevor sie das dann mal gemacht hat, und mittlerweile waren das dann einige Galerien, ich glaube Hamburg, Essen, eine Ausstellung gab’s mal in Luxemburg, eine in Schweden, und seit vielen Jahren war das dann eine Galerie in Worpswede, mit der wir sehr lange – ich glaub es waren sechs oder sieben Ausstellungen dort – mit der wir zusammen arbeiten, die auch noch ein paar restliche Bilder haben und mit denen das immer, ja, also ne vertrauensvolle Zusammenarbeit war und die das sehr gut gemacht haben."
Auf einem kleinen Tisch steht eine etwas verstaubte elektrische Schreibmaschine, die mit kleinen Filzstickern in Tierform beklebt ist – auch so eine Sarah-Eigenheit, erklärt der Sohn. Seine Mutter liebte es, Alltagsgegenstände auf diese Weise aufzupeppen. Neben der Schreibmaschine liegt ein schmaler Ordner mit dem Typoskript der Frankfurter Poetik-Vorlesungen, die Sarah Kirsch im Wintersemester 1996/1997 in einem vollen Hörsaal hielt. Das Typoskript soll 2019 in gedruckter Form erscheinen.
Die Poetik-Vorlesungen
Moritz Kirsch: "Im Augenblick geht es darum, das als nächstes Buch rauszubringen. Die Poetik-Vorlesungen, da äußert sie sich auch tatsächlich, was sie eigentlich sehr selten getan hat – wie sie ja sagt, man soll um Gotteswillen nichts über das Schreiben schreiben. Hier macht sie mal so ein bisschen was in die Richtung, aber es ist vor allem auch ein literarischer Text."
Sarah Kirsch (1996): "Ne Poetik-Vorlesung? Na Mahlzeit! Bisher habe ich mich stets erfolgreich gedrückt, wenn ich in die Nähe einer Poetik-Vorlesung gelangte. Bin sehr standhaft gewesen. Jetzt, eine Spätberufene, doch. Ich bin ja die nicht mal bei einem Preis eine Rede macht, weil sie sich sagt: das, was ich am Besten kann, das sind doch Gedichte oder kleine oder etwas größere Prosa. Selbst wenn sich alle angeblich bei einer Preisverteilung auf die Rede schon freuen und es nach Einsicht einiger anständig wäre, eine solche zu halten."
"Weil ich mich als Praktiker einfach erachte und nicht auch noch die Literaturwissenschaftlerin mime, da stehe mir Gott bei. Meine Devise, die schon ein Tabu betrifft, klingt so: Nix übers Schreiben schreiben, weil das das zu Vermeidende par excellence ist. Und nun doch ein Saal und Sie hier und ich wahrhaftig auch hier, hier auf’m Katheder, ich träum nicht, Sie träumen nicht, ich muss hier 45 Minuten bleiben und noch viermal wiederkommen und bleiben und red‘ um mein Leben wie Scheherazade bei ihrem Tyrann. Ja, es ist wirklich aus dem Überlebensgebiet, und dies gehört ab jetzt zu meinem Berufsbild."
Die Schreibgründe
Sarah Kirsch (1996): "Was aber wirklich, really bezaubernd an solchen Vorlesungen ist, dass man über Gott und die Welt, selbst noch ein Pappelblatt reden könnte, jedenfalls, wenn man ein Dichter und kein Wissenschaftler oder gar Kritiker ist – was Gott und die Welt und die Pappelblätter, die, während ich hier schreibe, gerade wieder dabei sind, abzustürzen von ihren Ästen, also gnädig verhindert haben. Ich bin frei wie ein Rabe, und ich darf über alles schreiben und reden, wie mir der Schnabel gewachsen ist."
"Eigentlich schreibe ich immer. Ich bin ein Schädling, von der vernichteten Papiermasse her und tue recht daran, in jedem Jahr, mindestens zehn Bäume zu pflanzen. Zum einen ist es eine körperliche Sucht, der materielle Vorgang des Schreibens schüttet Adrenalin gallonenweise wohl aus, so brauche ich feinste Papiere und edle Schreibgeräte. Am liebsten Tinte aus’m Tintenfass für altmodische Füller, Journale mit hinreißenden Einbänden aus Firenze zum Beispiel oder salzburgische Handfertigung gar. Es ist wie eine Sucht, wenn mein federleichter Merlin-Füller aus dem Jahr 32 über toskanisches Papier schwebt, mit lotusblauer Tinte. So bin ich fast glücklich. Um es gänzlich zu sein, bedarf es noch eines, gerade entstehenden Textes, gerät die Sucht zur Ekstase."
"So wie es Malgründe gibt, so muss es auch Schreibgründe geben. Deshalb, weshalb ich schreibe, weshalb ich lebe, fällt oftmals zusammen. Ich schreibe, sage ich mal, weil ich herausfinden will, was ich hier soll. Auf diesem Planeten, ob das überhaupt einen Sinn macht, dass ich hier ging. Weil es zwar mitunter hübsch ist, ein anderes Mal schrecklich, im Ganzen aber absurd und absolut witzlos."
Sarah Kirschs Arbeitszimmer
Geschrieben hat Sarah Kirsch bevorzugt in ihrem Arbeitszimmer im ersten Stock. Auf dem Weg dorthin passieren wir ein großes eingebautes Bücherregal.
Moritz Kirsch: "Das ist die deutschsprachige Prosa. Weitgehend alphabetisch geordnet aber auch ein paar eigene Sachen, Übersetzungen zum Beispiel. Italienische ham wir da, ne holländische, englische natürlich viel, japanisch, die einzige nichteuropäische Sprache, in die sie übersetzt worden ist, und ein paar Anthologien mit einzelnen Gedichten in Englisch, Italienisch und Spanisch gibt’s ne ganze Reihe von kompletten Bänden. Französisch war immer ein schwieriges Pflaster."
Siebzehn Stufen führen die alte Schultreppe hinauf ins Arbeitszimmer. Der helle lichtdurchflutete Raum ist mit schmucken Biedermeiermöbeln ausgestattet.
Moritz Kirsch: "Eigentlich ist das hier immer noch Sarahs Zimmer. Die Möbel, die hier drin sind, die sind zum größten Teil sogar noch aus der DDR mitgenommen. Der Eckschrank hier, der Spiegelschrank, auch der Sekretär mit dem Bettina von Arnim-Bild drüber. Also da kann ich mich, also seit ich mich überhaupt an was erinnern kann, dran erinnern. Das stand auch eigentlich in allen anderen Wohnungen, so oder so ähnlich. Im Rückblick toll, wie die ganzen Umzüge von Ostberlin nach Westberlin und dann nach Niedersachsen und hierher mit den ganzen alten Möbeln so gut geklappt haben."
Der Blick aus den beiden großen Fenstern geht nach Süden. Davor wächst wilder Wein.
Zitatorin:
"Wie still es ist.
Die Glyzinie
Klopft mit dem Knöchel ans Fenster."
Die Glyzinie
Klopft mit dem Knöchel ans Fenster."
Kinkerlitzchen von Lesereisen
Leidenschaftlich gerne beobachtete Sarah Kirsch in ihren Schreibpausen die Vögel vor den Fenstern. Als ein Zaunkönigpaar in der Glyzinie sein Nest baute, zog die Dichterin sogar für einen Monat ins Erdgeschoss, um die Vögel nicht zu stören, erinnert sich ihr Sohn.
Auf den Fensterbrettern und freien Flächen stehen, wie überall im Haus, kleine Objekte herum – Muscheln, Steine, Figuren, Glaskugeln oder Vasen –, sogenannte Sarah-Kinkerlitzchen.
Moritz Kirsch: "Gerade so Kleinigkeiten, die jetzt irgendwie keinen dollen, materiellen Wert haben oder so, so Kinkerlitzchen, hat sie auch gern von Lesereisen mitgebracht. Also irgendwas hat sie da immer mitgebracht wie die kleinen Stofftiere hier auf dem Sofa zum Beispiel. Altes Glas da drüben, Stachelschweinstacheln oder diese Kuhglocke da unten."
Vor dem ovalen Biedermeiertisch an der Stirnseite des Zimmers steht ein etwas merkwürdiges kleines Gestell, zwischen dem ein Schafwollteppich gespannt ist: eine "Katzenhängematte".
Moritz Kirsch: "Das haben die Katzen gerne angenommen, mehrere Katzen haben hier häufiger übernachtet. Für die Katzen wurde alles gemacht. Also die letzte Katze Emily is jetzt vor anderthalb Jahren gestorben und manchmal waren, also ich glaube, einmal waren bis zu fünf Katzen hier im Haus."
Zitatorin:
"Entfernung
Das halbe Leben vom Leben der Katzen
Spielt in hohen Träumen sich ab sie gehen
Weite Strecken im Schlaf oder fliegen
In blauen Wolken geflügelten Dingen nach.
Ist man hier weiß man von dort nicht mehr
Viel. Was ich erlebt habe ist mir entfallen.
Eigentlich gab es nichts zu verstehn.
O dieses mondsüchtige Leben von Katzen.
Wie Hasenbrot die Vergangenheit nun."
Das halbe Leben vom Leben der Katzen
Spielt in hohen Träumen sich ab sie gehen
Weite Strecken im Schlaf oder fliegen
In blauen Wolken geflügelten Dingen nach.
Ist man hier weiß man von dort nicht mehr
Viel. Was ich erlebt habe ist mir entfallen.
Eigentlich gab es nichts zu verstehn.
O dieses mondsüchtige Leben von Katzen.
Wie Hasenbrot die Vergangenheit nun."
Nur fertige Versionen
Sarah Kirsch war eine disziplinierte Arbeiterin und Frühaufsteherin. Von sechs Uhr bis in den späten Vormittag saß sie an ihrem Schreibtisch. Dort verfasste sie handschriftlich die erste Version ihrer Gedichte, die sie nach zahlreichen Überarbeitungen in die mechanische, später in die elektrische Schreibmaschine oder ihren Laptop tippte. Die handschriftlichen Entwürfe vernichtete sie, ebenso wie viele unfertige Bilder.
Moritz Kirsch: "Sie war sehr kritisch mit sich, ich hab auch ein paar Bilder, die ich sehr mochte, tatsächlich vorm Verbrennen gerettet. Da war sie konsequent, genauso wie bei den Gedichten, also, von wenigen Ausnahmen, wo was hintern Schrank gefallen ist oder so, hat sie frühe handschriftliche Entwürfe bei den Gedichten auch vernichtet. Das waren eben nicht die fertigen Versionen, und die sollten nicht in die Welt."
Neben Gedichten schrieb Sarah Kirsch ihr Leben lang täglich Tagebuch, mitunter sogar mehrere Tagebücher gleichzeitig.
Zitatorin:
"27. Nerz 2003, Donnerstag. Nebel dass ich den Gartenzaun nicht erblicke. Die Krähen segeln dicht an meinem Fenster vorüber. Rochenartig. Wird noch dauern bis die Sunn sich durch den Nebel gefressen hat. Im Momang ist Stromausfall hier, und es ist gar kein Krieg, wenn auch mehr Flieger als sonst zu hören sint. Oder man ist traumatisiert. Ich hab ja ne Grundlage sowieso aus den vierziger Jahren. Bis 13 Uhr 30 hat der Stromausfall gedauert. Dann haben wir uns endlich viel viel Espresso gekocht. Immer noch sehr verschleierte Sunn. Aber die große Zwitschermaschine ist angeworfen und voll uff gedreht. Meine Fans haben mir einen Artikel von Volker Braun über Mickel aus der FAZ geschickt, eine Schleimerei ersten Ranges nebst einer Verklärung von Hacks."
Schwierige Vater-Beziehung
Der Dichter Karl Mickel, von dem in diesem Tagebucheintrag die Rede ist, ist der Vater von Moritz Kirsch. Sarah Kirsch und er führten eine kurze, unglückliche und heftige Beziehung, von der in ihren frühen unveröffentlichten Tagebüchern aus DDR-Zeiten viel die Rede ist. Nach dem Tod seiner Mutter begann ihr Sohn sämtliche sich noch im Haus befindlichen Papiere, Manuskripte, Briefe, Fotos und hunderte Tagebücher zu ordnen, bevor sie in zwei Lieferungen vom Literaturarchiv Marbach abgeholt wurden. Keine leichte Aufgabe.
Moritz Kirsch: "Was natürlich wirklich nicht angenehm bis bisschen schmerzhaft war, waren diese langen unsicheren Beziehungen zu meinem Vater Karl Mickel, wo das endlos hin- und herging und man von Jahr zu Jahr merkt, eigentlich möchte sie sich von dem Mann lösen, aber dann, also das, das war dann auch wieder sehr schwierig. Das hab ich mir einmal angekuckt, und da war ich dann ganz gern bereit, dass dann auch wegzugeben."
Neben Privatsachen stehen in den Tagebüchern allerdings auch sehr praktische Dinge.
Moritz Kirsch: "So Kleinigkeiten, wie jeden Tag die Temperatur zu mittags genau, also im Winter war’s mittags und im Sommer war’s glaub ich am Morgen immer notiert und das Wetter und so. Und das ist natürlich auch lustig, da kann ich immer heute mal nachgucken, wenn ich denke, ach, ist der Frühling heute wieder spät dran."
"Früher war’s alles viel früher, und da seh‘ ich, es war vielleicht sogar noch zwei Wochen später. Oder wo was gepflanzt wurde im Garten, welche Rosen wo stehen. Es ist ja so, dass sie als Botanikerin natürlich alles gewusst hat, und ich bin jetzt nicht so ganz der Fachmann dafür, und dann kann ich immer nochmal gucken, was ist eigentlich was und was steht wo, und das ist natürlich auch irgendwo toll."
Die Tagebücher
Einige Tagebücher sind im Haus geblieben, wie das England-Reise-Tagebuch, das 2015, zwei Jahre nach dem Tod der Verfasserin, unter dem Titel "Ænglisch" veröffentlicht wurde.
Moritz Kirsch: "Englisch" lag so halbfertig vor und ich musste dann tatsächlich, den Rest aus dem handgeschriebenen Tagebuch dann noch damals, auch schon nicht mehr moderne Technik, auf Diskette tatsächlich schreiben, als Datei und in der DVA gab es zumindest zu dem Zeitpunkt noch genau einen Computer im Verlagsgebäude, das noch ein Diskettenlaufwerk hatte. Und es waren auch tatsächlich die beiden letzten Disketten, die noch, Leerdisketten, die noch hier im Haus war."
Auf einem Stapel in der Ecke liegen noch mehr Tagebücher aus der Zeit in Tielenhemme. Moritz Kirsch schlägt eines auf und blättert darin. Die kurzen und längeren handschriftlichen Eintragungen werden von eingeklebten Zeitungsausschnitten, Kassenbelegen, Katzenbildern, kleinen Zeichnungen oder Aquarellen begleitet.
Moritz Kirsch: "Hier steht dann eben zum Beispiel: Dezembrius. Ja, und dann hat se auch hier was immer noch – das ist jetzt ein Ausschnitt aus einem eigenen Buch – ich glaube, da war "Kuckuckslichtnelken" grade am Erscheinen. Dann hat sie gleich hier was eingeklebt. Ja, in dem Fall nur einseitig beschreiben, weil es dünnes Papier ist. Oder hier was, was wir mal bestellt haben, ne Pfeffermühle. Also das ist ganz typisch."
"Hier gibt es mal ein paar Fernsehtipps, ich glaube, das ist arte. Das ein bisschen Collagenhafte, auch wenn es nur eine Eintrittskarte ist, das ist ganz typisch. Der Steidl Verlag hat das dann in Spreu" reproduziert. Das ist auch ganz schön. Bei den meisten anderen Sachen ist das dann nicht so gut gelungen Bis auf zwei drei Tage, bevor sie hier ins Krankenhaus musste, kann ich mich nicht erinnern, dass sie nicht Tagebuch geschrieben hat."
Wichtiger Nachdruck
Neben den postum veröffentlichten Tagebüchern "Juninovember" und "Ænglisch", ist Moritz Kirsch besonders stolz auf ein schmales Gedichtbändchen, das "Poesiealbum 330. Sarah Kirsch". Ursprünglich sollte der Band in der beliebten DDR-Lyrikreihe "Poesiealbum" bereits 1977 erscheinen. Doch nachdem die Dichterin nach der Biermann-Ausbürgerung einen Ausreiseantrag stellte, wurde der fast fertige Band wieder eingestampft. Vierzig Jahre später konnte er endlich gedruckt werden und zwar mit einer Besonderheit: Neben bekannten Gedichten befinden sich fünf Erstveröffentlichungen von sehr frühen Gedichten in dem schmalen Bändchen.
Moritz Kirsch: "Die ich tatsächlich auf dem sprichwörtlichen Dachboden gefunden habe, auf sehr, sehr altem und sehr dünnem DDR-Durchschlagspapier mit Schreibmaschine geschrieben. Man konnte da immer so zwei, drei Durchschläge machen, bis es dann gerade noch lesbar war. Es gab tatsächlich noch einige Gedichte mehr, sehr frühe, aber bei vielen stand drüber: "Abgrundtiefer Mist" oder irgendwie so was, das war dann klar, das wollte sie nicht, dass man das veröffentlicht, und bei diesen fünf Gedichten stand eben oben nur ein Fragezeichen drüber, und da durfte ich dann selber entscheiden, und ich fand, dass man das absolut verantworten kann. Mir gefällt vor allem: "Später" sehr, sehr gut."
Zitatorin:
"Später
Sie sitzen auf zerbrechlichen Stühlen
schwarze ausladende Tier die Röcke
umspannen die Körper hängen wie Federn
was sie für merkwürdige Hüte tragen schwarze Hüte
eine einen Witwenschleier er weht über die Suppe
die schweigsamen dicken Unglücksvögel ungrade Zahl
starren auf ihre Teller Bestecke klappern
Messer gehen durch Fleisch reißen Gabeln spießen eilig auf
eine Erbse rollt über das Tischtuch."
Sie sitzen auf zerbrechlichen Stühlen
schwarze ausladende Tier die Röcke
umspannen die Körper hängen wie Federn
was sie für merkwürdige Hüte tragen schwarze Hüte
eine einen Witwenschleier er weht über die Suppe
die schweigsamen dicken Unglücksvögel ungrade Zahl
starren auf ihre Teller Bestecke klappern
Messer gehen durch Fleisch reißen Gabeln spießen eilig auf
eine Erbse rollt über das Tischtuch."
Moritz Kirsch: "Aber auch der "Ahrenshooper Sommer", der konnte natürlich in das erste Buch, was sie mit Rainer Kirsch zusammen gemacht hat, nicht aufgenommen werden, weil hier auch die Rede ist von den abends abgeleuchteten Stränden, von den Soldaten gegen Republikflüchtlinge, das wäre natürlich niemals im Aufbau-Verlag oder in einem anderen DDR-Verlag erschienen."
Zitatorin:
"Ahrenshooper Sommer
Wenn die rosa Delphine
vom Himmel ins Meer gegangen sind
schlafen die Autos im Grase
und das Wasser wird blind
Kommen graue Soldaten
rolln graue Leinwand ein
breiten über die Wellen
viel Ellen Lichterschein
Ach das Meer ist aus blauem Glas
hervorströmts unterm Scheinwerferlid
ach die Soldaten leuchten so schön
dass niemand nach Dänemark zieht"
Wenn die rosa Delphine
vom Himmel ins Meer gegangen sind
schlafen die Autos im Grase
und das Wasser wird blind
Kommen graue Soldaten
rolln graue Leinwand ein
breiten über die Wellen
viel Ellen Lichterschein
Ach das Meer ist aus blauem Glas
hervorströmts unterm Scheinwerferlid
ach die Soldaten leuchten so schön
dass niemand nach Dänemark zieht"
Moritz Kirsch: "Und dann haben wir hier noch den "Bärenhäuter", das "Abend-Land" und "Oktober", das sind die fünf, die es im Augenblick wirklich nur in dieser Form gibt. Es sind ja nicht sehr viele Gedichte, die unveröffentlicht sind. In welcher Form man die jetzt nochmal buchmäßig dazu nehmen könnte, das muss man nochmal überlegen."
Nachlasspflege als Trauerarbeit
Mit der "Sohn-Rolle" hatte Moritz Kirsch nie Probleme, im Gegenteil. Mit seiner Mutter verstand er sich so gut, dass er nach dem Studium die Entscheidung traf, nach Tielenhemme zurückzukehren und dort zu leben.
Moritz Kirsch: "Ich habe auch, nicht wie es bei manchen anderen Dichter- oder Malerkindern oder so ist – ich hab auch keine Komplexe, weil meine Mutter bekannt ist und ich der Sohn bin, das ist überhaupt kein Problem. Also ich mach grade dieses Herausgeben aus dem Nachlass sehr, sehr gerne, und das ist für mich nebenbei auch ne tolle Form von Trauerarbeit."
Vom Arbeitszimmer gehen wir zurück ins Erdgeschoss in die große gemütliche Küche mit der blau gestrichenen Decke. Die Malerin Sarah Kirsch machte übrigens auch vor dem Inventar nicht halt.
Moritz Kirsch: "So was hat Sarah gerne mal gemacht, `n paar schöne Tulpen hier einfach auf den Heizkörper, da auf die Waschmaschine oder hier auf die Spüle. Einfach mal draufgemalt. Ich hoffe, dass die Waschmaschine noch möglichst lange hält.
Die Liebe zum Kochen
Die Küche war und ist ein vielbenutzter Raum, erklärt der passionierte Hobbykoch schmunzelnd. Seine Großmutter war oft zu Besuch, nachdem sie aus Halberstadt ausreisen durfte, um in der Nähe ihrer Tochter und ihres Enkels zu leben.
Moritz Kirsch: "Also für andere Leute kochen macht ja immer dann Spaß und nur dann, wenn die Leute, für die man kocht, wirklich offen sind und auch was Neus ausprobieren wollen. Und das war bei Sarah überhaupt kein Problem. Marokkanisch, Griechisch, was hab ich noch, Thailändisch aber auch ganz viel Mittelmeerküche, ich hab hier über 50 Kochbücher mittlerweile, auch alle benutzt. Sie mochte auch ihre thüringischen Spezialitäten, diese berühmte süß-saure Linsensuppe zum Beispiel."
Neben der Kult-Kochsendung "Martina und Moritz", die Sarah Kirsch jahrelang wöchentlich gemeinsam mit ihrem Sohn guckte, gab es noch einen anderen jährlichen Fernseh-Pflichttermin im Juli, alle Jahre wieder.
Moritz Kirsch: "Auf 3sat, wenn da die berühmt berüchtigten, Klagenfurter Lesungen live liefen, und sie hat sich tatsächlich, zumindest etliche Jahre, mit nem kleinen Heft und nem Stift alles live angesehen und Notizen dazu gemacht. Und da musste man Sarah auch als das lief nicht mit irgendwas anderem kommen, dann war klar, das wird jetzt geguckt."
Sarah Kirschs Bachmannpreis-Kommentare befinden sich in Marbach ebenso wie viele der zahllosen Fanbriefe, die der Postbote jahrzehntelang nach Tielenhemme brachte. Post beantwortete die Dichterin gerne, für unangekündigte Überraschungsbesuche von Fans hingegen hatte sie nicht viel übrig. Des Öfteren tauchten Besucher am Gartenzaun auf, die die Hausherrin einmal sogar mit den Worten: "Sarah Kirsch? Das ist meine Schwester, die ist nicht da!" abgewimmelt haben soll. Auch einige Briefe waren sehr unangenehm, erinnert sich der Sohn.
Moritz Kirsch: "Irgendwann hat ihr mal wer geschrieben: "Wenn Sie nicht dafür eintreten, meine Gedichte zu veröffentlichen, dann bringe ich mich um." Also auch so was, solche Extremfälle. Einmal kam dann in den 80er Jahren allerdings auch ein Nazischmähbrief, den hab ich nach Marbach gegeben, das wollt ich jetzt nicht mehr im Haus haben. Aber es gab auch wirklich viele, viele echte Fans. Sarah hat auch immer unterschieden zwischen den Leuten, die es mehr wegen ihrer Berühmtheit und den Leuten, denen es wirklich um die Gedichte und so ging."
Umgang mit Kritiken
Genauso hielt sie es mit den Kritikern. Sie las selten Rezensionen aber wenn … –
Moritz Kirsch: "Sie hat sich auch mal über eine Kritik aufgeregt, wenn die wirklich so, nicht, weil sie schlecht war sondern wenn man gemerkt hat, der Rezensent hat das Buch ja gar nicht richtig gelesen."
Wir nehmen den direkten Weg durch das ehemalige Klassenzimmer und weiter durch einen kleinen Vorbau in den Garten, wo sich die Grabstätte der Dichterin befindet.
Moritz Kirsch: "Das war für mich ganz, ganz toll, dass das möglich ist, das ist ja auch nicht in allen Bundesländern in den Bestattungsgesetzen vorgesehen. Ich hab das irgendwo mal gehört, dass in Schleswig-Holstein eben ne Ausnahmegenehmigung möglich ist und mit ja, auch Unterstützung von einigen und vor allem von einem sehr guten Freund, der sich da ein bisschen auskannte, hat man dann einen Antrag gestellt, an die Gemeinde, die waren einverstanden damit."
Kein Stein, keine Tafel verweisen auf die Dichterin, nur eine purpurfarbene Keramikblüte markiert die Stelle, unter der die Urne begraben ist. Davor drei Blumentöpfe im Halbkreis, im Laub liegt eine Pfauenfeder, wilde Buschwindröschen blühen, im Schatten des Wachholders wächst Bärlauch aus Schottland.
Moritz Kirsch: "Für Sarah isses genau das Richtige, also es ist kein Dorotheenstädtischer Friedhof, es ist kein Ehrengrab oder irgendwie so was, sondern sie ist wirklich hier im Garten begraben, umgeben von etlichen Katzen. Emily, ihre letzte Katze, die liegt direkt daneben und ich hab dann bei dem Durchsehen der Tagebücher tatsächlich auch eine Stelle gefunden, wo sie gesagt hat: "Wenn ich doch zwischen all meinen Katzen hier begraben sein könnte". Und das ist natürlich toll, dass das möglich war."
Zitatorin:
"Immergrün
Die Seele
Fliegt mit den
Eulen und es
Schneit Federn.
Frühling ist ein
Möwengefiederter
Bengel aus Schottland mit
Bärlauchatem.
Der Kater fängt die
Maus mit weißen
Samthandschuhn."
Die Seele
Fliegt mit den
Eulen und es
Schneit Federn.
Frühling ist ein
Möwengefiederter
Bengel aus Schottland mit
Bärlauchatem.
Der Kater fängt die
Maus mit weißen
Samthandschuhn."
Zitierte Gedichte:
Später (Erstveröffentlichung)
Ahrenshooper Sommer (Erstveröffentlichung)
Ahrenshooper Sommer (Erstveröffentlichung)
in: Poesiealbum 330. Sarah Kirsch. Auswahl: Moritz Kirsch. Märkischer Verlag. Wilhelmshorst 2017
Anrede
Von jetzt an
Wie still es ist. Die Glyzinie
Entfernung
Immergrün
in: Sarah Kirsch: Sämtliche Gedichte. DVA. München 2005
Tagebuchauszug aus:
Sarah Kirsch: Juninovember. DVA München 2014
Musik:
Wolfgang von Schweinitz, Oper Patmos. UA München 1990
John Cage