Erinnerung braucht Maßstäbe

Von Alexander Kissler · 16.09.2013
Im Berliner Stadtteil Charlottenburg steht ein heruntergekommenes Parkhaus. Seit ein Architekturkritiker die Garage als technisches Denkmal entdeckt hat und zu dessen Rettung aufruft, reibt sich mancher verwundert die Augen. Die Deutschen sind des Erinnerns unkundig, sie möchten Monumente einfrieren.
Wieder habe ich neue Wörter kennengelernt – schöne Wörter, die dem Hässlichen aufhelfen sollen. Da ist die Rede von einer "doppelgängigen Wendelrampe", von "Rampenspiralen" und "gerasterten Drahtglasfenstern in Eisenrahmen". Mit diesen Wortschöpfungen wartet die Fan-Gemeinde eines verrottenden Parkhauses auf. Das Parkhaus steht in Berlin, wurde 1929 entworfen und war damals der letzte architektonische Schrei. Nun soll es abgerissen werden, und das darf nicht sein. Deutschland ist schließlich ein Land der Erinnerung, hier wurde die Erinnerungskultur erfunden – auch ein schöner Begriff für eine schwammige Sache.

In Frankfurt droht dasselbe Schicksal der ehemaligen Oberfinanzdirektion von 1953. Sie zeuge von einem "Geist des Aufbruchs und des Optimismus", lese ich. Ganz gewiss ist sie weniger hässlich als der schimmlige Quader in der Berliner Kant-Straße, über dessen Gefährdung selbst die New York Times berichtete. Doch ebenso wie im Fall der "Kant-Garage" stellt sich bei der Finanzdirektion die Frage: Ist jedes Gebäude, das älter als 50 Jahre ist, erhaltenswert? Jede poröse Brücke, jede Betonkirche?

Die Inflation der nicht nur am Tag des Denkmals beschworenen Erinnerungskultur macht stutzig. Hier soll im Wort gebannt werden, was in der Realität nicht vorhanden ist. Die Deutschen haben keinen Begriff von Erinnerung. Sie sagen Erinnerung und meinen Konservierung. Sie sagen Gedächtnis und meinen Museum. Die Deutschen sind des Erinnerns unkundig. Sie möchten Monumente einfrieren. Sie möchten die Zeit still stellen und gerade so die Gegenwart abschließen vor dem, was war.

Der Mensch ist ein sonderndes Wesen
Geschichte ist mehr als das Protokoll des Vergangenen. Geschichte, wusste der französische Historiker Jacques Le Goff, ist "gerichteter Wandel". Sie gliedert die Vergangenheit, wählt aus, verwirft oder bekräftigt. Diesen Vorgang nennen wir Erinnerung. Wer sich erinnern will, braucht einen Maßstab. Im Alltag scheidet jeder Mensch das, was zu bewahren lohnt, von dem, was hinderlich ist auf dem Weg durch die Gegenwart. Anders als Festplatten, die jede Information aufzeichnen, ist der Mensch ein sonderndes Wesen.

Einen solchen Maßstab kennt die bundesdeutsche Erinnerungskultur selten. Da werden erbitterte Kämpfe geführt um den Erhalt von Reihenhaussiedlungen, Eckstübchen und Verwaltungstrakten, weil alles bleiben soll, wie es "immer" schon war. Ein Parkhaus aber, das vor sich hin gammelt, verdient den Abriss, auch wenn es von 1929 stammt. Schönheit liegt nicht nur im Auge des Betrachters. Es gibt das objektiv Hässliche, es gibt trübe Monstren aus Stahl, Beton und Glas, deren Anblick eine verrohende Wirkung hat. Niemand will in solcher Umgebung wohnen, auch nicht der reaktionärste Denkmalschützer.

Schon im Kaiserreich geißelte der Schriftsteller Rudolf Borchardt die "finsteren hässlich-grauen Riesengebäude", vor allem in Berlin. Die Stadt sei in ein "formloses Provisorium" eingetreten. Damit Erinnerung ihren Namen verdient, muss die Gesellschaft leisten, wozu ihr der Mut fehlt: Sie muss über die objektiven geistigen Grundlagen ihres Zusammenlebens streiten. Sie muss sich fragen, was diese deutsche Gesellschaft, die kein Volk sein will, ausmacht, worauf sie gemeinschaftlich zurückschaut, um eine gemeinsame Zukunft zu gewinnen.

Solange es diese große gemeinsame Erzählung nicht gibt, bleibt alle Erinnerung hässliches Stückwerk.

Alexander Kissler ist Publizist, Medienwissenschaftler und Historiker. Seit Januar 2013 leitet er das Kulturressort des Monatsmagazins "Cicero". Zuletzt erschien von ihm das Buch "Papst im Widerspruch. Benedikt XVI, und seine Kirche 2005 – 2013".
Alexander Kissler
Alexander Kissler© Andrej Dallmann für "CICERO"