Erinnerungen

Allein in der deutschen Eiswüste

Erkennungsstern für Juden während der Nazi-Zeit (aus der Ausstellung "Schuhe von Toten - Dresden und die Shoa" im Militärhistorischen Museum Dresden)
Erkennungsstern für Juden während der Nazi-Zeit © dpa / picture alliance / Arno Burgi
Von Pieke Biermann |
Ihre Eltern sind tot, aber die 19-jährige Jüdin Marie Jalowicz will leben. Als Zwangsarbeiterin "kündigt" sie ihren Job bei Siemens in Berlin und muss mit Charme und Erotik um ihr Überleben im Nazideutschland kämpfen.
"Ich möchte entlassen werden." Wer das heute zu seinem Chef sagt, riskiert womöglich den sozialen Abstieg. Marie Jalowicz riskiert ihr Leben, als sie im Frühsommer 1941 ihrem Hallenleiter bei Siemens damit kommt. Sie ist Jüdin, Zwangsarbeiter dürfen nicht kündigen. Er rät ihr ab, verweist auf die relativ geschützte Umgebung mit den Kolleginnen: "Da draußen sind Sie ja allein in der Eiswüste." Sie entgegnet: "Ich will in die Eiswüste, und ich will allein sein." Sie ist neunzehn und hat den Satz einer Kollegin im Ohr: "Fräulein Jalowicz, Sie haben einen Fehler gemacht, Sie haben sich normal benommen." Den Fehler wird sie nie wieder machen. Sie hat begriffen, dass sie ihr Leben nur retten kann, indem sie es riskiert.
Auftrag zu überleben
Und zwar allein, wie sie ist: Ihre Mutter ist 1938 gestorben, ihr Vater, einst "Frontkämpfer" und angesehener Rechtsanwalt, drei Jahre später, im März 1941. Sie versteht seinen Tod als Auftrag zu überleben. Jetzt kappt sie auch alle anderen Familienbande, durchaus brutal. Sie erschmeichelt sich die winzige Rente des Vaters, erklärt sich gegenüber dem Briefträger für deportiert, legt immer öfter den gelben Stern ab und kann ihn bald blitzschnell wieder annähen, erläuft sich die Stadt, hört sich um, merkt, dass nicht mal Polizisten wissen, was Juden so alles verboten ist, lernt den Umgang mit weiblichen Waffen – von erotisch bis rührend – und vor allem: selbstbewusstes Auftreten, gerade denen gegenüber, vor denen sie Panik haben soll.
Emotionale Spinnennetze
Als die Gestapo sie im Juni 1942 morgens um sechs aus dem Bett klingelt, mimt sie das doofe Hascherl und türmt – im Unterrock. Ab jetzt ist sie "illegal": ohne Papiere, ohne Essen, abhängig von Helfern aller Art, antifaschistischen wie antisemitischen. Und viele lassen sich das Helfen bezahlen – die einen mit Sex, die anderen mit emotionalen Spinnennetzen, die Frauen so raffiniert knüpfen können. Wie Hannchen Koch, deren aufopfernde Fürsorge die ganze Psychopathologie der jüdisch-deutschen Tragödie enthält: "Sie wollte mich armselig, abhängig und leidend haben, um mich dann tröstend streicheln zu können." Marie überlebt mit Hannchens "arischen" Papieren, hat deren Mann Emil "zu Willen" zu sein und erlebt nach 1945, dass Hannchen Koch sich für die Jüdin von beiden hält.
Offen, gewitzt und umwerfend
Marie Jalowicz Simon erzählt ihre Geschichte erst 1997. Da ist sie emeritierte Professorin für Antike Literatur- und Kulturgeschichte, und da endlich wagt ihr Sohn Hermann, ihr ein Tonband hinzustellen. Und sie redet, offen, gewitzt und umwerfend schonungslos, auch gegenüber sich selbst. Als sie 1998 stirbt, sind 77 Kassetten voll. Irene Stratenwerth hat sie zu 400 Seiten Prosa voller Witz und Trauer, kühlem Verstand und verrückter Liebe verdichtet, Hermann Simon, Historiker und Direktor des Berliner Centrum Judaicum, hat Orte, Personen, Daten recherchiert und ein berührendes Nachwort geschrieben.
"Untergetaucht" ist ein ungewöhnlich warmes Buch, aber es enthält eine ganz eisige Erkenntnis: Zwölf Jahre Naziterror sind mit sechs Millionen ermordeten Juden nicht "erledigt", sie haben die banalsten Beziehungen zwischen den Lebenden verwüstet, mit Wirkungen bis heute, nicht nur zwischen jüdischen und nichtjüdischen Deutschen.

Marie Jalowicz Simon: Untergetaucht. Eine junge Frau überlebt in Berlin 1940-1945
Bearbeitet von Irene Stratenwerth und Hermann Simon, Nachwort Hermann Simon
S. Fischer Verlage, Frankfurt am Main, 2014
416 Seiten, 22,99 EUR

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