Pflastersteinromantik und Revolutionsmythos
Tränengas, brennende Autos, Barrikaden: Eigentlich hatte der 1. Mai 1987 wie gewöhnlich als friedliches Familienfest begonnen. Warum aber eskalierten damals die Kreuzberger Maifeiern? Die Antwort ist ein Pflaster aus vielen Steinen.
Der 1. Mai – im vergangenen Jahr. Der Autor steht in Berlin Kreuzberg, SO36, zwischen einem Kinderspielplatz und einer Theatershow. Friedlich schlürft er mit seinem kleinen Sohn einen Kinder-Caipirinha. Kurz weht ein Hauch Revolutionsromantik vorbei: Eine Handvoll schwarz gekleideter junger Menschen läuft durchs Bild – mutmaßlich autonom, was immer das noch heißt. Bei genauem Betrachten legt das Grüppchen verdächtig viel Wert auf schicke Sonnenbrillen und liebevoll ausgewähltes "revolutionäres" Outfit.
Es bleibt im Großen und Ganzen wieder ruhig an diesem ersten Mai. Am Vorabend hatte der Autor sich noch durch historische Bilder geklickt: Polizei und Tränengas, brennende Autos und Barrikaden, Pflastersteine. 30 Jahre ist es nun her, dass der Mythos 1. Mai in Kreuzberg entstand.
Als friedliches Familienfest begonnen
"Der 1. Mai 1987 war ja eigentlich ein ganz normaler Tag. Es war ein Familienfest. Es herrschte eine absolut ruhige und friedliche Stimmung", erinnert sich der Kreuzberger Michael Prütz, der in einigen Jahren die Maidemonstration mitorganisierte.
Am Tag darauf stellte sich das Ganze allerdings ganz anders dar, so berichtete zum Beispiel die Tagesschau:
"Guten Abend meine Damen und Herren. Zu den schwersten Krawallen seit Jahren ist es gestern Abend in Berlin Kreuzberg gekommen. Sie waren gestern Abend am Rande eines Straßenfestes ausgebrochen und dauerten bis zum frühen Morgen an. Zahlreiche Geschäfte wurden geplündert und zum Teil in Brand gesetzt."
Warum eskalierten die Kreuzberger Maifeiern im Jahr 1987? Vermutlich ist die Antwort ein Pflaster aus vielen Steinen. Die Situation der Bevölkerung. Eine linke Szene, die alles andere als ein homogener Block war. Manche nah an der Politik, andere ganz weit entfernt. Manche organisiert, andere anarchistisch. Einige zerstritten, Alternative Liste, Autonome unterschiedlichster Ausprägung. Hausbesetzer die verhandeln und solche, die das ausschließen, erste Yuppies im Bezirk.
Eine explosive Mischung entzündet sich
Ein im Vergleich zu heute: repressiverer Staat. Einer, der in jenem Jahr sein Volk zählen will. Nicht alle im Volk wollen sich zählen lassen. Ein Büro im Mehringhof, das den Volkszählungsboykott organisiert, wird ausgerechnet am Morgen des 1. Mai von der Polizei durchsucht. Es ist eine explosive Mischung. Die an jenem Abend am Lausitzer Platz in Kreuzberg entzündet wird.
Julius Stucke hat sich durch Archive von Kollegen gehört und mit Menschen gesprochen, die den Tag damals in Berlin miterlebten. Aus einem Teil des umfangreichen Materials hat er einen subjektiven Ausschnitt zu seinen "Erinnerungen an den 1. Mai 1987" verdichtet. (hum)
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