Erinnerungen an den stalinistischen Terror
"Vieles, was bei uns jetzt passiert, erinnert mich tatsächlich an das Leben zu Stalins Zeiten", sagt die russische Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja. Ihr neuer Roman "Das grüne Zelt" schildert, "wie die Sowjetmacht den Charakter und auch die Schicksale von Menschen gebrochen hat".
Liane von Billerbeck: Sie ist eine der besten russisch schreibenden Schriftstellerinnen der Gegenwart, Ljudmila Ulitzkaja, geboren 1943 in einer russisch-jüdischen Familie. Ihre auch auf Deutsch erschienenen Bücher – "Maschas Glück", "Ergebenst, euer Schurik" und das vorige "Daniel Stein" – wurden auch hierzulande von der Kritik und den Lesern hymnisch gefeiert. Eigentlich wollte Ljudmila Ulitzkaja nach diesem keinen weiteren Epochenroman schreiben. Das hat sie nun doch getan und entstanden ist ihr Buch "Das grüne Zelt", das die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts, das Glück wie den Einbruch der Katastrophen in das Leben ihrer drei Helden schildert.
Ich habe mit Ljudmila Ulitzkaja in der Wohnung ihrer Berliner Freundin gesprochen und sie zuerst gefragt, was sie bewogen hat, noch einmal einen so großen Roman zu schreiben, dessen Geschehen sich ja über 50 Jahre spannt, von Stalins Tod 1953 bis fast zur Jahrtausendwende?
Ljudmila Ulitzkaja: Ich denke, das war das erste Mal in meiner schriftstellerischen Biografie, wo der Wunsch, ein solches Buch zu schreiben, nicht nur von mir, von innen heraus kam, sondern auch von meiner Umgebung so ausgesprochen wurde. In Russland gibt es jetzt eine Tendenz, den Namen oder die Persönlichkeit Stalins wiederzubeleben, und das betrübt mich endlos.
Außerdem gibt es bei uns im Land so eine Tendenz, dass die junge Generation – nicht die ganz junge, sondern die, die circa 25 bis 35 Jahre alt sind – gewisse Vorwürfe oder Ansprüche gegenüber denjenigen haben, die jetzt bereits 60 sind. Viele Misserfolge der russischen Politik und der russischen Wirtschaft, dafür macht diese Generation nicht die kommunistische Führung verantwortlich oder nicht die Führung des KGB, sondern die Generation derjenigen, die jetzt 60 Jahre alt ist. Und das finde ich erstens ungerecht und zweitens mal auch falsch, ungebildet, unwissend.
von Billerbeck: Sie erzählen ja die Geschichte dreier Freunde, Ilja, Micha, Sanja, die schon in der Schule Außenseiter waren und sich anfreunden, die sich für Fotografie, vor allen Dingen Literatur und Musik interessieren. Sie sind ja Menschen Ihrer Generation. Ist das also auch so ein bisschen der Versuch der Rehabilitierung dieser Generation?
Ulitzkaja: Ohne Zweifel. Ich wollte natürlich die Wahrheit über eine Generation erzählen, von der die heutige Generation faktisch nichts weiß. Und in meinem Sichtfeld sind nicht die Helden, nicht die Führungspersönlichkeiten der Protestbewegungen der 60er-Jahre, sondern es sind ganz normale Menschen, die den Kampf gegen die Verhältnisse bei uns nicht zu ihrem Hauptziel erklärt haben. Und deswegen ist einer der Gedanken in meinem Roman eben der Gedanke, wie die Sowjetmacht den Charakter und auch die Schicksale von Menschen gebrochen hat, die ja eigentlich gar nicht unbedingt Feinde dieser Führung waren, sondern einfach nur normale, nüchtern denkende Menschen.
von Billerbeck: Sie haben Ihrem Roman ja ein Motto vorangestellt, das Sie einem Brief entnommen haben, den Boris Pasternak an Warlam Schalamow geschrieben hat: "Trösten Sie sich nicht damit, dass die Zeit im Unrecht ist. Dass sie moralisch im Unrecht ist, bedeutet noch nicht, dass wir im Recht sind. Ihre Unmenschlichkeit heißt nicht, dass wir, weil wir mit ihr nicht einverstanden sind, dadurch allein Menschen sind." Heißt das also, Sie wollen Ihre Protagonisten, die ja für ihre Ideale, für ihre kulturellen Werte teilweise durchaus einen hohen Preis gezahlt haben, auch diese normalen Menschen – Verfolgung, Haft, Emigration, Tod –, dennoch nicht als Helden sehen?
Ulitzkaja: Wissen Sie, ich kenne die Atmosphäre dieser damaligen Zeit sehr gut und ich kenne somit auch die Menschen, die damals lebten. Zum Beispiel Natascha, die 1968 auf den Platz rausgegangen ist, als die russischen Streitkräfte in Prag eingefallen sind. Sie war eine meiner Freundinnen. Oder auch ???, die fünf Jahre lang im Lager abgesessen hat für ihre Tätigkeit, für ihre schriftstellerische.
Das alles sind Menschen, die es einfach verdienen, dass auch ihrer gedacht wird, dass man vielleicht künstlerische Werke über sie schreibt. Eigentlich sind es durchschnittliche Leute. Wobei, durchschnittlich ist nicht der richtige ... Das sind schon auch hervorragende Leute, es sind alles meine Freunde und hinter jedem meiner Freunde verbirgt sich ein Charakter, ein Held in meinem Buch.
von Billerbeck: Ilja, Micha und Sanja, Ihre Protagonisten, die kommen aus einer bestimmten Schicht, aus der russischen-jüdischen Intelligenz, in der Reichtum ganz anders definiert wird, in der die Literatur einen Stellenwert hat wie für andere nur Gold und Geld. Sie zitieren da auch und sagen, so viele Gedichte, eine solche Zeit gab es in Russland weder zuvor noch danach jemals wieder. Die Gedichte füllen den luftleeren Raum, sie wurden selbst zu Luft, vielleicht, wie ein Dichter es ausdrückte, zu gestohlener Luft. Welche Kraft hatte die Literatur für Ihre Protagonisten, für Micha, Ilja und Sanja?
Ulitzkaja: Wissen Sie, es war schon eine einzigartige Zeit. Der Durst nach Kultur ... Es war ja eigentlich immer so, dass Kultur in schwierigen Situationen des Lebens geholfen hat, manchmal gerettet hat. Und in den 60er- und 70er-Jahren, in einer Periode, wo so ein starker ideologischer Druck ausgeübt wurde, gab es trotzdem Menschen, die in dieser Zeit nach Kultur gesucht haben, für die das ein Ausweg war, ein Rettungsanker. Das gibt es jetzt, in der jetzigen Zeit so nicht. Und vielleicht ist das einer der Vorwürfe an die jetzige Regierung. Ich meine, ich habe eine lange Liste von Vorwürfen, so ist es nicht. Aber der wichtigste Vorwurf auch, dass sie die Vernichter von Kultur sind.
von Billerbeck: Die russische Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja ist bei uns zu Gast. Ihr neues Buch, "Das grüne Zelt", ist jetzt erschienen. Ihr Roman, haben wir schon gesagt, beginnt ja mit Stalins Tod, den Reaktionen in den jüdischen, teilweise auch verfolgten Familien Ihrer Helden darauf, und es gibt eine Szene, die habe ich immer noch im Kopf, in der Sie die Massenpanik in Moskau beschreiben bei der Aufbahrung von Stalins Leichnam. Und ich dachte sofort, als ich das las, an den englischen Historiker Orlando Figes, den wir hier auch mal im Studio hatten, der ja in seinem Buch "Die Flüsterer" beschrieben hat, wie ein ganzes Volk aus Angst in den Sog von Bespitzelung und Verrat geraten ist. Welche Rolle spielt die Angst für Ihre Romanfiguren und für die realen Menschen in dieser Zeit in der Sowjetunion?
Ulitzkaja: Die Angst ist ein sehr starkes Gefühl, die tief in der Natur des Menschen verwurzelt ist. Ich würde sie sogar animalisch nennen, sie ist auch in der animalischen Natur des Menschen. Und viele verstehen auch, dass Angst etwas sehr Erniedrigendes ist. Es gibt Menschen, die in ganz unterschiedlicher Intensität diese Erniedrigung auch durchlebt haben, dass sie feige sind, dass sie Angst haben, dass sie zittern müssen vor den Umständen des Lebens.
Ich denke, alle Menschen haben Angst erlebt und das ist auch ganz natürlich, aber man muss dagegen kämpfen. Man muss wissen, dass Angst nicht weiterhilft. Man muss eine bewusste Einstellung haben gegen seine Angst oder mit seiner Angst zu leben, egal was es für eine Angst ist. Die Angst vor dem Lehrer oder die Angst vor dem Opa, der wieder mit dem Riemen da steht, oder auch die Angst vor dem Aufstand auf der Straße. Wir alle haben irgendwelche Phobien oder Ängste in uns, aber wir müssen begreifen, dass wir dagegen ankämpfen müssen. Und ich denke, die Art, wie wir mit unseren Ängsten umgehen, sie bestimmt letztendlich auch unser Selbstwertgefühl.
Der Selbstmord meines Helden Micha, der mir sehr am Herzen liegt, ist im Prinzip geschehen, um vor der Angst zu fliehen. Micha will mit allen seinen Möglichkeiten frei sein, er hat Angst, wieder ins Lager zu kommen, er hat Angst, wieder im Gefängnis zu landen. Und deswegen ist er bereit, diese wirklich sehr schreckliche Tat zu begehen, um dem allem zu entfliehen.
von Billerbeck: Sie haben schon mehrfach erwähnt, dass Sie vieles im Kopf haben, was Sie dem heutigen Russland, der heutigen Macht in Russland vorwerfen. Wenn wir uns dieses Russland der Gegenwart ansehen, sehen Sie da eine Gefahr vielleicht nicht der neuen Stalinisierung, aber den Versuch, wieder ein imperiales Land zu werden?
Ulitzkaja: Ja, das kann ich zweifelsohne so bejahen. Vieles, was bei uns jetzt passiert, erinnert mich tatsächlich an das Leben zu Stalins Zeiten. Und ich muss sagen, das bedrückt mich wirklich sehr. Und das, was ich dagegen tun kann: Ich spreche darüber in meinen Büchern, ich versuche, dem einen künstlerischen Ausdruck zu geben. Ich schreibe jetzt zum Beispiel an einem Sammelwerk, das ist ein Kinderbuch. Es sind gesammelte Briefe von Kindern und das Buch heißt auch "Kindheit von 1945 bis 1953". Und in diesen Briefen der damaligen Kinder ist eben beschrieben, welche Angst sie hatten, welches Elend im Land herrschte, welche Armut, welche Grausamkeiten auch seitens der Gesellschaft vorgekommen sind. Und das möchte ich den heutigen Kindern näherbringen.
von Billerbeck: Wenn Sie diese ganzen Entwicklungen, die in Russland ablaufen derzeit, die Sie selbst ja auch beschreiben, betrachten – es gab ja vor wenigen Tagen eine Bemerkung Putins, die mich wirklich empört hat, nämlich da ging es um die Punkerinnen von Pussy Riot, denen er also Antisemitismus vorwarf, also eine glatte Lüge –, haben Sie jemals in Betracht gezogen, Russland zu verlassen? Denn gerade Juden haben ja aus der Geschichte die bittere Lehre gezogen, dass es manchmal zu spät sein könnte für den letzten Zug!
Ulitzkaja: Ich erinnere mich gut an die Geschichte der deutschen Juden, die deutschen Juden waren ja damals auch sehr eng in der deutschen Kultur, im deutschen Leben eingebunden. Und ich denke, für sie war diese Tragödie, die letztendlich geschehen ist, undenkbar, das war regelrecht absurd!
Also, ich weiß darüber Bescheid, aber was mich selber betrifft, so bin ich sehr meiner Sprache verbunden, meinem Land verbunden. In meiner Familie bin ich die letzte Jüdin. Mein Mann war kein Jude mehr und auch meine Kinder haben Russen geheiratet. Für mich ist das trotzdem sehr wichtig. Aber ich denke nicht, dass der Antisemitismus in der heutigen russischen Föderation das Problem ist, es ist eher die Xenophobie, die Fremdenfeindlichkeit insgesamt, die Angst vor Fremden, die vom Staat sehr gekonnt manipuliert wird. Das sind zum Beispiel Menschen aus Aserbaidschan oder die Tschetschenen oder überhaupt aus dem gesamten Gebiet Kaukasus.
Also, ich nehme den Antisemitismus sicherlich ernst und er ist im russischen Alltag sicherlich auch noch anzutreffen, aber ich bin überzeugt, dass es nicht die Politik des Staates ist, Antisemitismus zu betreiben.
von Billerbeck: Die russische Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja, derzeit auf Lesereise in Deutschland mit ihrem bei Hanser erschienenen, von Hanna-Maria Braungardt übersetzten Roman "Das grüne Zelt". Heute Abend liest sie in Dresden, morgen in Erfurt. Mein Gespräch mit ihr in der Wohnung ihrer Berliner Freundin hat Barbara Sachse übersetzt.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
"Links zum Thema bei dradio.de:"
Humanismus für alle
Ljudmila Ulitzkaja und ihr neuer Roman "Das grüne Zelt"
"Ein wenig wie zu Sowjetzeiten"
Künstler in Moskau diskutieren die Lage nach dem Pussy-Riot-Urteil
Neue Erkenntnisse über Sowjet-Terror
Historiker weist die Verantwortung an den Verbrechen in der Sowjetunion einzig und allein Stalin zu
Großer Idealist in kleinem Körper
Ljudmila Ulitzkaja: "Daniel Stein", Carl Hanser Verlag, 496 Seiten
Zweite Chance für Pechvögel
Die Erzählungen "Maschas Glück" von Ludmila Ulitzkaja
Eine Enttäuschung
Ljudmila Ulitzkaja: "Ergebenst, euer Schurik"
Ich habe mit Ljudmila Ulitzkaja in der Wohnung ihrer Berliner Freundin gesprochen und sie zuerst gefragt, was sie bewogen hat, noch einmal einen so großen Roman zu schreiben, dessen Geschehen sich ja über 50 Jahre spannt, von Stalins Tod 1953 bis fast zur Jahrtausendwende?
Ljudmila Ulitzkaja: Ich denke, das war das erste Mal in meiner schriftstellerischen Biografie, wo der Wunsch, ein solches Buch zu schreiben, nicht nur von mir, von innen heraus kam, sondern auch von meiner Umgebung so ausgesprochen wurde. In Russland gibt es jetzt eine Tendenz, den Namen oder die Persönlichkeit Stalins wiederzubeleben, und das betrübt mich endlos.
Außerdem gibt es bei uns im Land so eine Tendenz, dass die junge Generation – nicht die ganz junge, sondern die, die circa 25 bis 35 Jahre alt sind – gewisse Vorwürfe oder Ansprüche gegenüber denjenigen haben, die jetzt bereits 60 sind. Viele Misserfolge der russischen Politik und der russischen Wirtschaft, dafür macht diese Generation nicht die kommunistische Führung verantwortlich oder nicht die Führung des KGB, sondern die Generation derjenigen, die jetzt 60 Jahre alt ist. Und das finde ich erstens ungerecht und zweitens mal auch falsch, ungebildet, unwissend.
von Billerbeck: Sie erzählen ja die Geschichte dreier Freunde, Ilja, Micha, Sanja, die schon in der Schule Außenseiter waren und sich anfreunden, die sich für Fotografie, vor allen Dingen Literatur und Musik interessieren. Sie sind ja Menschen Ihrer Generation. Ist das also auch so ein bisschen der Versuch der Rehabilitierung dieser Generation?
Ulitzkaja: Ohne Zweifel. Ich wollte natürlich die Wahrheit über eine Generation erzählen, von der die heutige Generation faktisch nichts weiß. Und in meinem Sichtfeld sind nicht die Helden, nicht die Führungspersönlichkeiten der Protestbewegungen der 60er-Jahre, sondern es sind ganz normale Menschen, die den Kampf gegen die Verhältnisse bei uns nicht zu ihrem Hauptziel erklärt haben. Und deswegen ist einer der Gedanken in meinem Roman eben der Gedanke, wie die Sowjetmacht den Charakter und auch die Schicksale von Menschen gebrochen hat, die ja eigentlich gar nicht unbedingt Feinde dieser Führung waren, sondern einfach nur normale, nüchtern denkende Menschen.
von Billerbeck: Sie haben Ihrem Roman ja ein Motto vorangestellt, das Sie einem Brief entnommen haben, den Boris Pasternak an Warlam Schalamow geschrieben hat: "Trösten Sie sich nicht damit, dass die Zeit im Unrecht ist. Dass sie moralisch im Unrecht ist, bedeutet noch nicht, dass wir im Recht sind. Ihre Unmenschlichkeit heißt nicht, dass wir, weil wir mit ihr nicht einverstanden sind, dadurch allein Menschen sind." Heißt das also, Sie wollen Ihre Protagonisten, die ja für ihre Ideale, für ihre kulturellen Werte teilweise durchaus einen hohen Preis gezahlt haben, auch diese normalen Menschen – Verfolgung, Haft, Emigration, Tod –, dennoch nicht als Helden sehen?
Ulitzkaja: Wissen Sie, ich kenne die Atmosphäre dieser damaligen Zeit sehr gut und ich kenne somit auch die Menschen, die damals lebten. Zum Beispiel Natascha, die 1968 auf den Platz rausgegangen ist, als die russischen Streitkräfte in Prag eingefallen sind. Sie war eine meiner Freundinnen. Oder auch ???, die fünf Jahre lang im Lager abgesessen hat für ihre Tätigkeit, für ihre schriftstellerische.
Das alles sind Menschen, die es einfach verdienen, dass auch ihrer gedacht wird, dass man vielleicht künstlerische Werke über sie schreibt. Eigentlich sind es durchschnittliche Leute. Wobei, durchschnittlich ist nicht der richtige ... Das sind schon auch hervorragende Leute, es sind alles meine Freunde und hinter jedem meiner Freunde verbirgt sich ein Charakter, ein Held in meinem Buch.
von Billerbeck: Ilja, Micha und Sanja, Ihre Protagonisten, die kommen aus einer bestimmten Schicht, aus der russischen-jüdischen Intelligenz, in der Reichtum ganz anders definiert wird, in der die Literatur einen Stellenwert hat wie für andere nur Gold und Geld. Sie zitieren da auch und sagen, so viele Gedichte, eine solche Zeit gab es in Russland weder zuvor noch danach jemals wieder. Die Gedichte füllen den luftleeren Raum, sie wurden selbst zu Luft, vielleicht, wie ein Dichter es ausdrückte, zu gestohlener Luft. Welche Kraft hatte die Literatur für Ihre Protagonisten, für Micha, Ilja und Sanja?
Ulitzkaja: Wissen Sie, es war schon eine einzigartige Zeit. Der Durst nach Kultur ... Es war ja eigentlich immer so, dass Kultur in schwierigen Situationen des Lebens geholfen hat, manchmal gerettet hat. Und in den 60er- und 70er-Jahren, in einer Periode, wo so ein starker ideologischer Druck ausgeübt wurde, gab es trotzdem Menschen, die in dieser Zeit nach Kultur gesucht haben, für die das ein Ausweg war, ein Rettungsanker. Das gibt es jetzt, in der jetzigen Zeit so nicht. Und vielleicht ist das einer der Vorwürfe an die jetzige Regierung. Ich meine, ich habe eine lange Liste von Vorwürfen, so ist es nicht. Aber der wichtigste Vorwurf auch, dass sie die Vernichter von Kultur sind.
von Billerbeck: Die russische Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja ist bei uns zu Gast. Ihr neues Buch, "Das grüne Zelt", ist jetzt erschienen. Ihr Roman, haben wir schon gesagt, beginnt ja mit Stalins Tod, den Reaktionen in den jüdischen, teilweise auch verfolgten Familien Ihrer Helden darauf, und es gibt eine Szene, die habe ich immer noch im Kopf, in der Sie die Massenpanik in Moskau beschreiben bei der Aufbahrung von Stalins Leichnam. Und ich dachte sofort, als ich das las, an den englischen Historiker Orlando Figes, den wir hier auch mal im Studio hatten, der ja in seinem Buch "Die Flüsterer" beschrieben hat, wie ein ganzes Volk aus Angst in den Sog von Bespitzelung und Verrat geraten ist. Welche Rolle spielt die Angst für Ihre Romanfiguren und für die realen Menschen in dieser Zeit in der Sowjetunion?
Ulitzkaja: Die Angst ist ein sehr starkes Gefühl, die tief in der Natur des Menschen verwurzelt ist. Ich würde sie sogar animalisch nennen, sie ist auch in der animalischen Natur des Menschen. Und viele verstehen auch, dass Angst etwas sehr Erniedrigendes ist. Es gibt Menschen, die in ganz unterschiedlicher Intensität diese Erniedrigung auch durchlebt haben, dass sie feige sind, dass sie Angst haben, dass sie zittern müssen vor den Umständen des Lebens.
Ich denke, alle Menschen haben Angst erlebt und das ist auch ganz natürlich, aber man muss dagegen kämpfen. Man muss wissen, dass Angst nicht weiterhilft. Man muss eine bewusste Einstellung haben gegen seine Angst oder mit seiner Angst zu leben, egal was es für eine Angst ist. Die Angst vor dem Lehrer oder die Angst vor dem Opa, der wieder mit dem Riemen da steht, oder auch die Angst vor dem Aufstand auf der Straße. Wir alle haben irgendwelche Phobien oder Ängste in uns, aber wir müssen begreifen, dass wir dagegen ankämpfen müssen. Und ich denke, die Art, wie wir mit unseren Ängsten umgehen, sie bestimmt letztendlich auch unser Selbstwertgefühl.
Der Selbstmord meines Helden Micha, der mir sehr am Herzen liegt, ist im Prinzip geschehen, um vor der Angst zu fliehen. Micha will mit allen seinen Möglichkeiten frei sein, er hat Angst, wieder ins Lager zu kommen, er hat Angst, wieder im Gefängnis zu landen. Und deswegen ist er bereit, diese wirklich sehr schreckliche Tat zu begehen, um dem allem zu entfliehen.
von Billerbeck: Sie haben schon mehrfach erwähnt, dass Sie vieles im Kopf haben, was Sie dem heutigen Russland, der heutigen Macht in Russland vorwerfen. Wenn wir uns dieses Russland der Gegenwart ansehen, sehen Sie da eine Gefahr vielleicht nicht der neuen Stalinisierung, aber den Versuch, wieder ein imperiales Land zu werden?
Ulitzkaja: Ja, das kann ich zweifelsohne so bejahen. Vieles, was bei uns jetzt passiert, erinnert mich tatsächlich an das Leben zu Stalins Zeiten. Und ich muss sagen, das bedrückt mich wirklich sehr. Und das, was ich dagegen tun kann: Ich spreche darüber in meinen Büchern, ich versuche, dem einen künstlerischen Ausdruck zu geben. Ich schreibe jetzt zum Beispiel an einem Sammelwerk, das ist ein Kinderbuch. Es sind gesammelte Briefe von Kindern und das Buch heißt auch "Kindheit von 1945 bis 1953". Und in diesen Briefen der damaligen Kinder ist eben beschrieben, welche Angst sie hatten, welches Elend im Land herrschte, welche Armut, welche Grausamkeiten auch seitens der Gesellschaft vorgekommen sind. Und das möchte ich den heutigen Kindern näherbringen.
von Billerbeck: Wenn Sie diese ganzen Entwicklungen, die in Russland ablaufen derzeit, die Sie selbst ja auch beschreiben, betrachten – es gab ja vor wenigen Tagen eine Bemerkung Putins, die mich wirklich empört hat, nämlich da ging es um die Punkerinnen von Pussy Riot, denen er also Antisemitismus vorwarf, also eine glatte Lüge –, haben Sie jemals in Betracht gezogen, Russland zu verlassen? Denn gerade Juden haben ja aus der Geschichte die bittere Lehre gezogen, dass es manchmal zu spät sein könnte für den letzten Zug!
Ulitzkaja: Ich erinnere mich gut an die Geschichte der deutschen Juden, die deutschen Juden waren ja damals auch sehr eng in der deutschen Kultur, im deutschen Leben eingebunden. Und ich denke, für sie war diese Tragödie, die letztendlich geschehen ist, undenkbar, das war regelrecht absurd!
Also, ich weiß darüber Bescheid, aber was mich selber betrifft, so bin ich sehr meiner Sprache verbunden, meinem Land verbunden. In meiner Familie bin ich die letzte Jüdin. Mein Mann war kein Jude mehr und auch meine Kinder haben Russen geheiratet. Für mich ist das trotzdem sehr wichtig. Aber ich denke nicht, dass der Antisemitismus in der heutigen russischen Föderation das Problem ist, es ist eher die Xenophobie, die Fremdenfeindlichkeit insgesamt, die Angst vor Fremden, die vom Staat sehr gekonnt manipuliert wird. Das sind zum Beispiel Menschen aus Aserbaidschan oder die Tschetschenen oder überhaupt aus dem gesamten Gebiet Kaukasus.
Also, ich nehme den Antisemitismus sicherlich ernst und er ist im russischen Alltag sicherlich auch noch anzutreffen, aber ich bin überzeugt, dass es nicht die Politik des Staates ist, Antisemitismus zu betreiben.
von Billerbeck: Die russische Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja, derzeit auf Lesereise in Deutschland mit ihrem bei Hanser erschienenen, von Hanna-Maria Braungardt übersetzten Roman "Das grüne Zelt". Heute Abend liest sie in Dresden, morgen in Erfurt. Mein Gespräch mit ihr in der Wohnung ihrer Berliner Freundin hat Barbara Sachse übersetzt.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
"Links zum Thema bei dradio.de:"
Humanismus für alle
Ljudmila Ulitzkaja und ihr neuer Roman "Das grüne Zelt"
"Ein wenig wie zu Sowjetzeiten"
Künstler in Moskau diskutieren die Lage nach dem Pussy-Riot-Urteil
Neue Erkenntnisse über Sowjet-Terror
Historiker weist die Verantwortung an den Verbrechen in der Sowjetunion einzig und allein Stalin zu
Großer Idealist in kleinem Körper
Ljudmila Ulitzkaja: "Daniel Stein", Carl Hanser Verlag, 496 Seiten
Zweite Chance für Pechvögel
Die Erzählungen "Maschas Glück" von Ludmila Ulitzkaja
Eine Enttäuschung
Ljudmila Ulitzkaja: "Ergebenst, euer Schurik"