Die Jahre werden wieder wild
07:10 Minuten
Vor 50 Jahren erschien die erste Single von Ton Steine Scherben. Seit Rio Reisers Tod verwaltet sein Bruder Gert Möbius das musikalische Erbe. Er freut sich, dass die junge Generation die Songs von damals neu entdeckt und feiert.
Ute Welty: Ralph Christian Möbius ist besser bekannt als Rio Reiser. Er wird später König von Deutschland und gründet erst mal mit Ton Steine Scherben eine Band, die sich Kultstatus erspielt. Die erste Single erscheint heute vor 50 Jahren: "Macht kaputt, was euch kaputt macht."
Um das musikalische Erbe seines Bruders Rio Reiser kümmert sich Gert Möbius, der Ton Steine Scherben auch managt zu Beginn. Ist Ihnen bewusst gewesen, was für einen Song Sie da auf den Markt bringen, dass der über Jahrzehnte im Ohr bleiben wird?
Der Song ist Geschichte
Möbius: Er wurde ja '70 produziert in Kreuzberg, aber er wurde auch nur ein Jahr gespielt von der Band, weil man Angst hatte, dass dieser Song zu viel Aggressionen auslösen könnte. Zumal die Band damals sehr viel in Westdeutschland gespielt hat, und dann wurden oft Häuser besetzt und Ähnliches mehr. Da hat Rio gesagt, nein, diesen Song will ich lieber nicht mehr spielen.
Aber er wurde ja jetzt wieder von der Formation, die sich Scherben und Gymmick nennt, aufgenommen. Das finde ich ganz erstaunlich. Der Song hat ja wirklich irgendeine Wirkung, und Rio hat auch gesagt, dieser Song, der wird eines Tages eine Geschichte sein. Er ist auch Geschichte geworden. Ich staune, dass Sie diesen Song spielen im Rundfunk. Normalerweise werden Scherben-Songs gar nicht gespielt, auch Rio-Songs fast gar nicht mehr.
Welty: Wie dieses Stück wirkt, das hat sich auch 1970 beim Festival auf der Insel Fehmarn gezeigt, denn da geht die Bühne in Flammen auf. Inwieweit hat das die damals noch junge Band zum Nachdenken gebracht?
Möbius: Es hatte nicht damit zu tun, dass sie diesen Song gespielt haben.
Welty: Da ist auch Geld verschwunden.
Möbius: Veranstalter sind abgehauen. Dann kamen auch die ganzen Helfer zu uns und haben gesagt, wir müssen uns zusammentun, wir müssen die Veranstalter jagen, damit Sie ihr Geld bekommen. Das war eine ganz blöde Situation, die aber auch nicht nur von den Scherben ausgelöst war, sondern von den Veranstaltern in erster Linie.
Neue Resonanz
Welty: Was denken Sie heute mit 77, wenn Sie auf die wilden Jahre zurückblicken?
Möbius: Wilde Jahre, ich denke mir, die werden ja wieder wild. Man merkt es auch hier an den großen Demonstrationen, jetzt nicht wegen Corona, sondern wegen der Klimageschichte. Das ist schon noch so, dass auch die jungen Leute ziemlich aktiv werden. Ich merke es auch an der Resonanz, was die Scherben und Rio betrifft, dass die wieder sehr viel diese Musik hören. Im Rundfunk wird das nicht gespielt, aber die kaufen die CDs. Sie sind nach wie vor an der Musik interessiert, weil es mit ihrem Wunsch nach Veränderung einhergeht.
Welty: Jetzt sind Texte und Songs ja geduldig und tauchen oft auch in Zusammenhängen auf, die ursprünglich gar nicht vorgesehen sind. Mit welchen Gefühlen beobachten Sie, dass sich zum Beispiel rechte Identitäre für diese erste Scherben-Single interessieren?
Möbius: Das ist nun wirklich kriminell, was da passiert, aber nicht erst jetzt. Schon nach der Wende ging das los, dass rechte Gruppen auch Scherben-Musik gespielt haben. Zum Teil haben sie die Texte verändert. Ich konnte da nicht viel gegen tun. Juristisch dagegen vorgehen, war nur begrenzt möglich. Aber ich finde es unglaublich. Das ist nicht gerade im Sinne der Band und nicht im Sinne von meinem Bruder gewesen.
Die Songs kamen von Herzen
Welty: Ihr Bruder Rio Reiser hat den Song mit seiner Stimme geprägt, wie er überhaupt alle seine Songs mit seiner Stimme geprägt hat, aber hat er ihn auch gemocht?
Möbius: Er hat nur Songs gesungen, die er auch gut gefunden hat. Er sagte in einem Interview, ich kann es so gut interpretieren, weil ich dahinterstehe, weil das Songs sind, die ich vom Herzen her vertreten kann. Ich glaube, dass es für ihn ganz wichtig war, wie man Dinge betont. Er konnte alles, er konnte auch Schlager singen. Er konnte auch alle englischen Songs und amerikanischen Songs auswendig. Er war sehr umfangreich gebildet. Er hat versucht, mit Betonung die Songs lebendig werden zu lassen, und das finde ich entscheidend, dass man mit der Sprache arbeitet.
Welty: Ist das ein Prozess gewesen, der gedauert hat, der mehr durch den Kopf bestimmt war, oder waren es dann auch häufig Bauchentscheidungen?
Möbius: Mein Bruder hat sehr früh angefangen, Musik zu machen. Er hat schon in der Schule für Märzfeiern Stücke geschrieben. Er hat immer in der Musik gelebt. Alles andere hat ihn, außer Karl May und Ben Hur, nicht so interessiert. Oder die Bibel, die hat er immer dabeigehabt. Das waren für ihn auch von der Sprache her ganz wichtige Anregungen.
Man kann sehen, dass man auch in der Musik sein Leben wiedersieht, auch seine Seele wieder auflebt immer wieder aufs Neue, weil man auch viele Enttäuschungen hat. Also Rio und die Scherben haben auch viele Enttäuschungen gehabt, was das Finanzielle betrifft und Ähnliches mehr. Einfach haben sie es sich nicht gemacht.
Keine Angst vor gutem Kitsch
Welty: Wenn wir noch mal einen Moment bei den Texten bleiben und seiner Art, mit Sprache umzugehen, ist auch eines seiner Geheimnisse gewesen, dass er keine Angst gehabt hat vor Kitsch?
Möbius: Wenn der Kitsch gut war, hat er es auch gut gefunden!
Welty: Guter Kitsch geht, schlechter Kitsch geht gar nicht!
Möbius: Gute Schlager sind auch gute Musik, hat er mal geschrieben. Weil man ihn immer so angegriffen hat, er wäre jetzt Schlagerfuzzi geworden, weil er da "König von Deutschland" gemacht hat. Aber das hat ihn nicht interessiert. Er sagte, auch gute Schlager sind gute Musik.
Welty: Heute vor 50 Jahren erscheint die erste Scherben-Single, heute vor 24 Jahren stirbt Rio Reiser. Gibt es schon Planungen für den besonderen Jahrestag 2021?
Möbius: Dieses Jahr haben wir es verschoben: die Umbenennung vom Heinrichplatz in Kreuzberg in Rio Reiser-Platz.
Welty: Verschoben ist ja auch der Rio Reiser-Songpreis?
Möbius: Genau, der wurde auch verschoben. Wir werden dann auch eine Veranstaltung machen im SO36, und in dem Zusammenhang gibt es da eine ganze Woche mit Scherben und Musik von Rio. Das ist schon alles vorgeplant, aber man weiß nicht, was im nächsten Jahr ist. Also die ganze Coronas-Sache bringt alles ein bisschen durcheinander.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.