Jürgen Wiebicke: "Sieben Heringe. Meine Mutter, das Schweigen der Kriegskinder und das Sprechen vor dem Sterben"
Kiepenheuer und Witsch, Köln 2021
256 Seiten, 20 Euro
Auf den Spuren einer seelisch kaputten Gesellschaft
38:06 Minuten
Die Generation der Kriegskinder hat ihre Erinnerungen an den NS oft beschwiegen. Der Philosoph Jürgen Wiebicke beschreibt, wie seine Mutter kurz vor ihrem Tod die heilsame Wirkung des Sprechens entdeckt. Und was wir heute davon lernen können.
"Ich wollte mich selber heilen", sagt Jürgen Wiebicke über die Motivation zum Schreiben seines jüngsten Buches: "Sieben Heringe. Meine Mutter, das Schweigen der Kriegskinder und das Sprechen vor dem Sterben". Über Monate hat der Philosoph und Journalist seine sterbende Mutter begleitet und mit ihr lange Gespräche geführt, vor allem über ihre Kindheit im Nationalsozialismus und ihre Kriegserinnerungen. "Wenn ich jetzt nicht die verbleibende Zeit gut nutze", habe er gedacht, "dann wird irgendwann nicht nur meine Mutter tot sein, sondern dann werden auch Geschichten nicht mehr erzählt werden können, die weitergegeben werden wollen."
Die Sprachlosigkeit überwinden
Traumatisierende Geschichten sind das, etwa wie die Mutter auf dem Weg zum Broteschmieren für ausgebombte Familien verbrannte Leichen von Erwachsenen auf dem Gehweg gesehen habe, die auf Kindergröße zusammengeschrumpft waren. "Das ist eine solche Erfahrungswucht, mit 13 Jahren, dass das Sprechen erst mal nicht das Naheliegende ist – sondern: Was da erlebt wurde, wird verpackt – und das arbeitet weiter!"
Seine Mutter etwa habe bis an ihr Lebensende oft nachts geschrien. "Und dann ist die Frage: Gibt es eine Möglichkeit, dass dieses Verkapselte am Ende doch noch rausmöchte?" Bei Wiebickes Mutter ist genau das passiert: "Und dann hat sie selbst die Erfahrung gemacht, dass ihr das gut tut. Als ganz alte Frau merkt sie auf einmal, welche Kraft darin steckt, wenn man mit dem Reden beginnt. Und dann wollte sie immer weitererzählen." Um diese heilende Kraft des Sprechens geht es in seinem Buch: "Was ich zeigen möchte, ist die Kraft und die Macht von Sprache: Wie offenes Sprechen menschliche Verhältnisse verändern kann."
Der lange Atem des Faschismus
Aber nicht nur um die Traumatisierung durch Kriegserlebnisse geht es in Wiebickes Buch. Im Zentrum steht auch das Nachwirken autoritärer Prägungen durch ein Aufwachsen im Nationalsozialismus: "Ich glaube, es gibt auch einen unbewussten Faschismus. Es gibt eine psychologische Dimension, die dann eine Rolle spielt, wenn man genauer anschaut: Was haben eigentlich die eigenen Eltern weitergegeben, ohne darüber nachgedacht zu haben? Wie finden sich, Jahre und Jahrzehnte später, Verhaltensweisen der Kälte im Alltag?"
Dieses "Nazigift im Inneren" habe nach dem Ende des Nationalsozialismus als politisches System noch lange weitergewirkt. Seine Spuren findet Wiebicke etwa in der Unfähigkeit seiner Mutter zu weinen, wenn sie traurig war. Aber auch in den Kommandos, die er – wie viele andere – als Kind am Esstisch zu hören bekam: "Es wird gegessen, was auf den Tisch kommt, mach den Teller leer, sprich nicht, trink nicht beim Essen…"
Über seine Generation – Wiebicke ist Jahrgang 1962 – sagt er: "Wir alle sind Produkte einer seelisch kaputten Gesellschaft gewesen. Das ist eine erschreckende Erkenntnis, zeigt aber auch die Notwendigkeit, nochmal so spät selber an diese Frage heranzugehen." Nicht zuletzt, weil darin eine wichtige Lehre für unsere Gegenwart liege, in der autoritäre Tendenzen wieder auf dem Vormarsch sind: "Wenn wir uns für eine autoritäre Gesellschaft entscheiden, dann heißt das auch, dass wir ein anderes Miteinander im Privaten haben werden. Deswegen versuche ich darauf aufmerksam zu machen, was diese Schulen der Kälte und der Härte in den Psychen anrichten."
Heutige "Hassbereitschaft": Wegbereiter einer autoritären Gesellschaft?
Warum aber entfalten autoritäre Denkweisen heute trotzdem wieder eine solche Anziehungskraft? Für Wiebicke liegt die Antwort darauf in der emotionalen Intensität, die sie verheißen. Was sich früher in der allgemeinen Kriegsbegeisterung niederschlug, erkennt er heute in einer weit verbreiteten "Hassbereitschaft": "Autoritäre Gesellschaften kommen nicht aus dem Nichts, sondern auch die müssen vorbereitet sein durch das Leben zuvor. Und ich glaube, auch das ist eine psychische Dimension von Faschismus, dass es eine Ablehnung von Kompromiss und mühsamem Austarieren gibt."
Eben dies aber sei der Kern des Politischen in einer Demokratie: Keine unmittelbare Umsetzung unserer jeweiligen Überzeugungen und Gefühle, sondern "harte Arbeit im Maschinenraum". Und "was dann rauskommt aus dem Maschinenraum, das ist richtig sprödes Graubrot."
Dieses demokratische Graubrot in seiner Nüchternheit zu schätzen und der vergifteten autoritären Versuchung vorzuziehen, auch das ist eine Lektion, die vielleicht gerade von der Generation seiner Eltern zu lernen sei. So sei sein Vater fassungslos über die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten gewesen: "Warum diese Erregung, warum dieser Hass, warum diese Ablehnung des Kompromisses? Das war ihm so fremd geworden, dass ich gedacht habe: Das ist eigentlich jetzt seine politische Erbschaft, die er am Ende mitgibt. Dass er sagt: Mensch, diese Lektion sollten wir doch eigentlich verinnerlicht haben."
(ch)
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