Erinnerungsboom dank Digitalisierung
Weil Speichermedien immer billiger werden, gibt es immer mehr digitale Erinnerungen. Das sagt der Historiker Christoph Classen. Für die Geschichtswissenschaft bestehe die Aufgabe, aus der ungeheuren Datenflut Relevantes von Irrelevantem zu unterscheiden, Klassifizierungen vorzunehmen, um Dinge wiederzufinden und mitunter auch Unwichtiges zu löschen.
Frank Meyer: Das Digitalzeitalter hat zu einer ungeheuren Datenflut geführt: Noch nie haben Menschen so viele Erinnerungsstücke archiviert wie heute – öffentlich und privat. Über die Konsequenzen für unser Geschichtsbild und für die Geschichtswissenschaft reden wir gleich. Vorher berichtet unsere Autorin Catherine Newmark, dass der Archivierungswahn in Zukunft noch viel, viel weiter gehen könnte, bis zur totalen Erinnerung.
Catherine Newmark über die totale Erinnerung dank "Evernote" und "MyLifeBits". Diese anwachsende Datenflut, die ist natürlich eine besondere Herausforderung für die Geschichtswissenschaft, die sich mit den explodierenden privaten und öffentlichen Archiven auseinandersetzen muss. Bei uns im Studio ist jetzt der Historiker Christoph Classen vom Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam, dort forscht er insbesondere zur Mediengeschichte.
Ja, Herr Classen, wovon wir gerade gehört haben, "MyLifeBits" zum Beispiel, ein Mann archiviert praktisch sein gesamtes Leben mit einer Kamera am Kopf, mit der zeichnet er alles auf. Wie ist das für Sie als Historiker, wenn Sie sich das vorstellen, ist das eine herrliche Fundgrube für Ihre Arbeit oder ein grauenerregender Albtraum von Banalitäten?
Christoph Classen: Das kommt, glaube ich, ganz darauf an, um wen es sich dabei handelt. Ich meine, das ist ja zunächst einmal zwar eine neue Form, aber dass Ego-Dokumente archiviert werden, klassischerweise im Sinne von Tagebüchern, ist ja so neu nicht. Und Tagebücher sind durchaus eine Quelle, die Historiker auch jetzt schon nutzen bei Leuten, deren Leben dann auch so interessant ist.
Meyer: Das heißt, die eigentliche Revolution für Sie als Historiker, der in längeren Zeiträumen denkt, ist jetzt gar nicht der digitale Sprung, den wir erleben seit 20 Jahren etwa, sondern der massenhafte Zugang von Menschen zur Schriftkultur?
Classen: Ja gut, der ist ja schon etwas älter. Also, den würden ja irgendwo im 19. Jahrhundert ansetzen, zumindest in den Industrienationen. Die Digitalisierung ist schon ein großer Sprung. Ich weiß allerdings nicht, ob er bei den Historikern und den Archivaren schon wirklich angekommen ist.
Meyer: Wie müssten sie sich darauf einstellen?
Classen: Ja, die Frage ist, wie geht man mit dieser Datenflut um, wie archiviert man sie überhaupt professionell? Es kann ja nicht darum gehen, dass jeder irgendwie entscheidet, okay, das archiviere ich jetzt alles, und das vielleicht auch sogar öffentlich zugänglich macht, sondern die Frage ist ja: Wer entscheidet, was wichtig ist, was nicht, wie finden wir uns überhaupt zurecht in diesem Datensystem, in dieser Datenflut, welche Klassifizierung habe ich, um Dinge überhaupt wiederfinden zu können, wer kassiert auch wieder Material, damit wir in dieser Datenflut überhaupt noch Relevantes von Irrelevantem unterscheiden können?
Meyer: Aber wenn Sie als Historiker von Ihren Bedürfnissen da herangehen, wie müsste so etwas strukturiert sein, damit Sie dann trotz der anwachsenden Flut von Dokumenten noch sinnvoll überhaupt damit arbeiten können?
Classen: Ja gut, das ist auch wieder sehr schwierig zu sagen. Also ich meine, rein theoretisch ist die Frage, was werden wir in Zukunft brauchen, ja nicht beantwortbar, weil wir die Fragen, die die Zukunft an die Geschichte stellt, nicht kennen. Und es hängt dann immer sehr genau davon ab, was mich eigentlich interessiert. Also wenn ich jetzt ein, sagen wir mal, ein Projekt machen will, ein Forschungsprojekt über das Alltagsleben von Informatikern in den 80er-, 90er-Jahren, dann ist das, was Sie am Eingang geschildert haben, vielleicht eine wirklich relevante Quelle, dieser Mensch, der versucht, alles Mögliche zu archivieren.
Wenn mich aber natürlich andere Fragen interessieren, die, ich sag mal, ruhig auch im Bereich der politischen Geschichte liegen oder so, dann werde ich wieder auf klassischere Quellen zurückgreifen. Und dann habe ich möglicherweise sogar ein großes Problem, denn ob zum Beispiel die ganzen E-Mails, die wir heute schreiben, tatsächlich alle archiviert werden, das möchte ich schwer bezweifeln. Also, ich kenne das immer nur so, also auch von mir selber, man kriegt irgendwann einen neuen Rechner, und dann ist das Alte alles irgendwie weg.
Meyer: Das heißt, die E-Mails zum Beispiel von Politikern, auf die man zurückgreifen könnte, sind möglicherweise dann verschwunden und für die historische Forschung nicht mehr zugänglich.
Classen: Ja. Also, wenn es nicht professionelle Sicherungssysteme gibt, die es ja zum Teil, also im Weißen Haus etwa, gibt, dann hat man damit ein Problem. Und wir haben es jetzt noch so, dass wir noch mit Nachlässen arbeiten von wichtigen Leuten, die richtig Briefe geschrieben haben, die man in Archiven finden kann, aber wie wird das im E-Mail-Zeitalter wirklich sein, werden wir da mit klassischen Nachlässen überhaupt noch zu tun haben?
Meyer: Deutschlandradio Kultur, Christoph Classen vom Zentrum für Zeithistorische Forschung aus Potsdam ist bei uns. Wir reden über die radikale Expansion der Erinnerung in unserer Zeit. Und die andere Frage, über die hinaus, wie die Geschichtswissenschaft damit zurechtkommt, ist ja auch: Was macht diese ungeheure Ausweitung der Erinnerungsdokumente, die wir ja alle auch privat erleben, was macht die eigentlich mit unserer Art uns zu erinnern? Erinnern wir uns heute intensiver als früher?
Classen: Intensiver weiß ich nicht, aber mehr, das glaube ich schon. Also dieser Prozess der Medialisierung, dass wir immer mehr Informationen speichern können und über lange Zeiträume abrufen können, führt, glaube ich, schon dazu, dass wir einfach mehr Erinnerungsanlässe haben. Also wenn wir 100 Jahre zurückgehen, da war Fotografie noch etwas sehr Teures, Aufwändiges, das machte man nur zu ganz besonderen Gelegenheiten, und dann hatte man vielleicht hinterher mal irgendwie ein Fotoalbum oder so was.
Heutzutage, mit der digitalen Fotografie, ist das schon völlig inflationär, und es kommen eine Menge andere Medien dazu. Es kommen Tondokumente möglicherweise dazu, Schriftquellen sowieso immer, und so weiter und so fort. Und all das sind natürlich potenzielle Erinnerungsanlässe, und ich glaube, diese Anlässe, dieses Vorhandensein kann schon dazu führen, dass wir uns mehr erinnern, und dass vielleicht auch unsere ganze Gesellschaft mehr vergangenheitsbezogen wird, als sie das früher war.
Meyer: Und wie ist das mit der Qualität der Erinnerung? Wir haben ja auch einen Übergang – weil Sie gerade die Schriftdokumente erwähnten –, heutzutage werden ja vor allem Bilder archiviert, Bilder, Filme, und eben weniger Schriftstücke, Briefe und so weiter, auf die man auch mehr Sorgfalt früher verwendet hat. Heißt das auch, wir erinnern uns in Zukunft vielleicht anders, wenn wir viel mehr auf bildgestützte Erinnerungsstücke eingehen?
Classen: Bilder erfordern eine ganz andere Herangehensweise. Textquellen kann man als Historiker klassisch interpretieren und so weiter. Bei Bildern ist das viel schwieriger, da brauche ich ein ganz anderes Instrumentarium, um damit umzugehen. Und das müssen auch Historiker erst mal lernen, beispielsweise. Es fängt jetzt an, dass wir Bücher haben mittlerweile, die sich etwa mit den Bildern des Krieges beschäftigen, über einen langen Zeitraum. Es gibt inzwischen auch Historiker, die sich mit Filmquellen beschäftigen und so, aber das steckt, verglichen mit dieser Revolution, die ja eigentlich schon eine Revolution des 20. Jahrhunderts ist, immer noch ziemlich in den Anfängen.
Meyer: Haben wir denn mit dieser Ausbreitung der Erinnerungsarchivierungsmöglichkeiten, haben wir auch so etwas wie eine Demokratisierung der Erinnerung in unserer Gesellschaft, weil jetzt praktisch jeder sich ein Archiv anlegen kann, auch von Dokumenten, die sich auf öffentlich relevante Ereignisse beziehen?
Classen: Das würde ich im Prinzip schon so sagen. Wir haben natürlich eine gesellschaftliche Erinnerung, gesellschaftlich breite Erinnerung von unten, wenn man so will, über die eigentlich fast jeder verfügen kann. Der Zugang zu solchen Speichermedien ist extrem billig geworden. Und insofern kann man tatsächlich davon sprechen, dass es so was wie eine Demokratisierung der Erinnerung gibt, ja.
Meyer: Und glauben Sie, dass dieser Erinnerungsboom, über den wir hier reden, hat der nur zu tun mit diesem Angebot, wir haben jetzt die Möglichkeit eben, tausende Fotos von unserem Kleinkind zu machen und so weiter, oder hat das auch zu tun mit einem Bedürfnis unseres immer mehr nomadisch werdenden Lebens heute als moderne Arbeitsindividuen, dass wir uns einen Ort in der Erinnerung schaffen, den wir vielleicht anderswo verloren haben?
Classen: Ja, das glaube ich in der Tat. Also, ich glaube, dass die technische Seite, dass es möglich ist, sozusagen nur die eine Seite ist. Und ich glaube auch, dass der Prozess, also der Anfang dieses Erinnerungsbooms, den wir im Moment erleben, schon vor der Digitalisierung – oder jedenfalls der breiten Durchsetzung der Digitalisierung – einsetzt, nämlich in den 70er-Jahren hierzulande.
Und das hat was damit zu tun, dass das eigentlich die Zeit ist, in der die Zukunft unsicher wird. Wir erleben die ersten größeren Wirtschaftsrezessionen, Ölpreisschock und so weiter, wir erleben in der Zeit Massenarbeitslosigkeit, und wir erleben, dass eine Gesellschaft, die bis dahin sehr stark sich auf Zukunft orientiert und sich in Deutschland der Vergangenheit bis dahin eigentlich eher verweigert hat, plötzlich, wenn man so will, umkippt und sich viel, viel stärker beginnt mit Vergangenheit zu beschäftigen, und wenn man so will, das utopische Potenzial offenbar eher in der Vergangenheit beginnt zu suchen als in der Zukunft. Also bis dahin, dass wir jetzt wieder in Potsdam und Berlin alte Schlösser in die Zentren der Städte setzen, was ja, wenn Sie an die 60er-Jahre denken, ganz undenkbar gewesen wäre. Da baut man eher so etwas dann wie das Centre Pompidou.
Meyer: Also der Erinnerungsboom unserer Zeit ist auch eine Art Abkehr von der Zukunft, sagt der Historiker Christoph Classen vom Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam. Wir haben über die Flut von Erinnerungsdokumenten im Digitalzeitalter geredet. Herzlichen Dank!
Classen: Bitte schön!
Catherine Newmark über die totale Erinnerung dank "Evernote" und "MyLifeBits". Diese anwachsende Datenflut, die ist natürlich eine besondere Herausforderung für die Geschichtswissenschaft, die sich mit den explodierenden privaten und öffentlichen Archiven auseinandersetzen muss. Bei uns im Studio ist jetzt der Historiker Christoph Classen vom Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam, dort forscht er insbesondere zur Mediengeschichte.
Ja, Herr Classen, wovon wir gerade gehört haben, "MyLifeBits" zum Beispiel, ein Mann archiviert praktisch sein gesamtes Leben mit einer Kamera am Kopf, mit der zeichnet er alles auf. Wie ist das für Sie als Historiker, wenn Sie sich das vorstellen, ist das eine herrliche Fundgrube für Ihre Arbeit oder ein grauenerregender Albtraum von Banalitäten?
Christoph Classen: Das kommt, glaube ich, ganz darauf an, um wen es sich dabei handelt. Ich meine, das ist ja zunächst einmal zwar eine neue Form, aber dass Ego-Dokumente archiviert werden, klassischerweise im Sinne von Tagebüchern, ist ja so neu nicht. Und Tagebücher sind durchaus eine Quelle, die Historiker auch jetzt schon nutzen bei Leuten, deren Leben dann auch so interessant ist.
Meyer: Das heißt, die eigentliche Revolution für Sie als Historiker, der in längeren Zeiträumen denkt, ist jetzt gar nicht der digitale Sprung, den wir erleben seit 20 Jahren etwa, sondern der massenhafte Zugang von Menschen zur Schriftkultur?
Classen: Ja gut, der ist ja schon etwas älter. Also, den würden ja irgendwo im 19. Jahrhundert ansetzen, zumindest in den Industrienationen. Die Digitalisierung ist schon ein großer Sprung. Ich weiß allerdings nicht, ob er bei den Historikern und den Archivaren schon wirklich angekommen ist.
Meyer: Wie müssten sie sich darauf einstellen?
Classen: Ja, die Frage ist, wie geht man mit dieser Datenflut um, wie archiviert man sie überhaupt professionell? Es kann ja nicht darum gehen, dass jeder irgendwie entscheidet, okay, das archiviere ich jetzt alles, und das vielleicht auch sogar öffentlich zugänglich macht, sondern die Frage ist ja: Wer entscheidet, was wichtig ist, was nicht, wie finden wir uns überhaupt zurecht in diesem Datensystem, in dieser Datenflut, welche Klassifizierung habe ich, um Dinge überhaupt wiederfinden zu können, wer kassiert auch wieder Material, damit wir in dieser Datenflut überhaupt noch Relevantes von Irrelevantem unterscheiden können?
Meyer: Aber wenn Sie als Historiker von Ihren Bedürfnissen da herangehen, wie müsste so etwas strukturiert sein, damit Sie dann trotz der anwachsenden Flut von Dokumenten noch sinnvoll überhaupt damit arbeiten können?
Classen: Ja gut, das ist auch wieder sehr schwierig zu sagen. Also ich meine, rein theoretisch ist die Frage, was werden wir in Zukunft brauchen, ja nicht beantwortbar, weil wir die Fragen, die die Zukunft an die Geschichte stellt, nicht kennen. Und es hängt dann immer sehr genau davon ab, was mich eigentlich interessiert. Also wenn ich jetzt ein, sagen wir mal, ein Projekt machen will, ein Forschungsprojekt über das Alltagsleben von Informatikern in den 80er-, 90er-Jahren, dann ist das, was Sie am Eingang geschildert haben, vielleicht eine wirklich relevante Quelle, dieser Mensch, der versucht, alles Mögliche zu archivieren.
Wenn mich aber natürlich andere Fragen interessieren, die, ich sag mal, ruhig auch im Bereich der politischen Geschichte liegen oder so, dann werde ich wieder auf klassischere Quellen zurückgreifen. Und dann habe ich möglicherweise sogar ein großes Problem, denn ob zum Beispiel die ganzen E-Mails, die wir heute schreiben, tatsächlich alle archiviert werden, das möchte ich schwer bezweifeln. Also, ich kenne das immer nur so, also auch von mir selber, man kriegt irgendwann einen neuen Rechner, und dann ist das Alte alles irgendwie weg.
Meyer: Das heißt, die E-Mails zum Beispiel von Politikern, auf die man zurückgreifen könnte, sind möglicherweise dann verschwunden und für die historische Forschung nicht mehr zugänglich.
Classen: Ja. Also, wenn es nicht professionelle Sicherungssysteme gibt, die es ja zum Teil, also im Weißen Haus etwa, gibt, dann hat man damit ein Problem. Und wir haben es jetzt noch so, dass wir noch mit Nachlässen arbeiten von wichtigen Leuten, die richtig Briefe geschrieben haben, die man in Archiven finden kann, aber wie wird das im E-Mail-Zeitalter wirklich sein, werden wir da mit klassischen Nachlässen überhaupt noch zu tun haben?
Meyer: Deutschlandradio Kultur, Christoph Classen vom Zentrum für Zeithistorische Forschung aus Potsdam ist bei uns. Wir reden über die radikale Expansion der Erinnerung in unserer Zeit. Und die andere Frage, über die hinaus, wie die Geschichtswissenschaft damit zurechtkommt, ist ja auch: Was macht diese ungeheure Ausweitung der Erinnerungsdokumente, die wir ja alle auch privat erleben, was macht die eigentlich mit unserer Art uns zu erinnern? Erinnern wir uns heute intensiver als früher?
Classen: Intensiver weiß ich nicht, aber mehr, das glaube ich schon. Also dieser Prozess der Medialisierung, dass wir immer mehr Informationen speichern können und über lange Zeiträume abrufen können, führt, glaube ich, schon dazu, dass wir einfach mehr Erinnerungsanlässe haben. Also wenn wir 100 Jahre zurückgehen, da war Fotografie noch etwas sehr Teures, Aufwändiges, das machte man nur zu ganz besonderen Gelegenheiten, und dann hatte man vielleicht hinterher mal irgendwie ein Fotoalbum oder so was.
Heutzutage, mit der digitalen Fotografie, ist das schon völlig inflationär, und es kommen eine Menge andere Medien dazu. Es kommen Tondokumente möglicherweise dazu, Schriftquellen sowieso immer, und so weiter und so fort. Und all das sind natürlich potenzielle Erinnerungsanlässe, und ich glaube, diese Anlässe, dieses Vorhandensein kann schon dazu führen, dass wir uns mehr erinnern, und dass vielleicht auch unsere ganze Gesellschaft mehr vergangenheitsbezogen wird, als sie das früher war.
Meyer: Und wie ist das mit der Qualität der Erinnerung? Wir haben ja auch einen Übergang – weil Sie gerade die Schriftdokumente erwähnten –, heutzutage werden ja vor allem Bilder archiviert, Bilder, Filme, und eben weniger Schriftstücke, Briefe und so weiter, auf die man auch mehr Sorgfalt früher verwendet hat. Heißt das auch, wir erinnern uns in Zukunft vielleicht anders, wenn wir viel mehr auf bildgestützte Erinnerungsstücke eingehen?
Classen: Bilder erfordern eine ganz andere Herangehensweise. Textquellen kann man als Historiker klassisch interpretieren und so weiter. Bei Bildern ist das viel schwieriger, da brauche ich ein ganz anderes Instrumentarium, um damit umzugehen. Und das müssen auch Historiker erst mal lernen, beispielsweise. Es fängt jetzt an, dass wir Bücher haben mittlerweile, die sich etwa mit den Bildern des Krieges beschäftigen, über einen langen Zeitraum. Es gibt inzwischen auch Historiker, die sich mit Filmquellen beschäftigen und so, aber das steckt, verglichen mit dieser Revolution, die ja eigentlich schon eine Revolution des 20. Jahrhunderts ist, immer noch ziemlich in den Anfängen.
Meyer: Haben wir denn mit dieser Ausbreitung der Erinnerungsarchivierungsmöglichkeiten, haben wir auch so etwas wie eine Demokratisierung der Erinnerung in unserer Gesellschaft, weil jetzt praktisch jeder sich ein Archiv anlegen kann, auch von Dokumenten, die sich auf öffentlich relevante Ereignisse beziehen?
Classen: Das würde ich im Prinzip schon so sagen. Wir haben natürlich eine gesellschaftliche Erinnerung, gesellschaftlich breite Erinnerung von unten, wenn man so will, über die eigentlich fast jeder verfügen kann. Der Zugang zu solchen Speichermedien ist extrem billig geworden. Und insofern kann man tatsächlich davon sprechen, dass es so was wie eine Demokratisierung der Erinnerung gibt, ja.
Meyer: Und glauben Sie, dass dieser Erinnerungsboom, über den wir hier reden, hat der nur zu tun mit diesem Angebot, wir haben jetzt die Möglichkeit eben, tausende Fotos von unserem Kleinkind zu machen und so weiter, oder hat das auch zu tun mit einem Bedürfnis unseres immer mehr nomadisch werdenden Lebens heute als moderne Arbeitsindividuen, dass wir uns einen Ort in der Erinnerung schaffen, den wir vielleicht anderswo verloren haben?
Classen: Ja, das glaube ich in der Tat. Also, ich glaube, dass die technische Seite, dass es möglich ist, sozusagen nur die eine Seite ist. Und ich glaube auch, dass der Prozess, also der Anfang dieses Erinnerungsbooms, den wir im Moment erleben, schon vor der Digitalisierung – oder jedenfalls der breiten Durchsetzung der Digitalisierung – einsetzt, nämlich in den 70er-Jahren hierzulande.
Und das hat was damit zu tun, dass das eigentlich die Zeit ist, in der die Zukunft unsicher wird. Wir erleben die ersten größeren Wirtschaftsrezessionen, Ölpreisschock und so weiter, wir erleben in der Zeit Massenarbeitslosigkeit, und wir erleben, dass eine Gesellschaft, die bis dahin sehr stark sich auf Zukunft orientiert und sich in Deutschland der Vergangenheit bis dahin eigentlich eher verweigert hat, plötzlich, wenn man so will, umkippt und sich viel, viel stärker beginnt mit Vergangenheit zu beschäftigen, und wenn man so will, das utopische Potenzial offenbar eher in der Vergangenheit beginnt zu suchen als in der Zukunft. Also bis dahin, dass wir jetzt wieder in Potsdam und Berlin alte Schlösser in die Zentren der Städte setzen, was ja, wenn Sie an die 60er-Jahre denken, ganz undenkbar gewesen wäre. Da baut man eher so etwas dann wie das Centre Pompidou.
Meyer: Also der Erinnerungsboom unserer Zeit ist auch eine Art Abkehr von der Zukunft, sagt der Historiker Christoph Classen vom Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam. Wir haben über die Flut von Erinnerungsdokumenten im Digitalzeitalter geredet. Herzlichen Dank!
Classen: Bitte schön!