Erinnerungsliteratur oder: Muss man Politiker-Memoiren lesen?
Dass beschäftigungslose Politiker Memoiren schreiben, ist ja nichts Neues. Niemals zuvor in der Geschichte hat jedoch ein ehemaliger Regierungschef so schnell geschossen wie Gerhard Schröder. Deshalb gehört keine prophetische Gabe dazu, vorauszusehen: Diese Politiker-Erinnerungen dürften noch langweiliger sein als die, die wir schon kennen.
Und ihre Haltbarkeit dürfte denkbar kurz bemessen sein. Alles spricht dafür, dass es Schröder vor allem um eines geht: weiterhin mitzumischen. Hier hält jemand an der Politik fest. Diesen Eindruck konnte man ja bereits haben, als man sah, wie Schröder auf den Ausgang der letzten Bundestagswahlen reagierte: Er nahm ihn schlichtweg zunächst einmal gar nicht zur Kenntnis.
Dieses Nichtloslassenkönnen ist freilich in der Politik weitverbreitet und vor allem in der deutschen Geschichte bestens bekannt.
Gerade den beiden bedeutendsten deutschen Kanzlern ging es nicht anders. Weder Adenauer noch Bismarck wollten einsehen, dass es mit ihrem politischen Leben ein Ende haben müsse. Und beide haben mit ihren Memoiren weiterhin versucht, sich in die Politik einzumischen. Sie ließen sich allerdings mehr Zeit. Und im Gegensatz zu Schröder ging doch ihr Ehrgeiz weit darüber hinaus, nur für den Tag und die Stunde zu schreiben. Aus diesem Grunde, aber natürlich auch, weil sie geschichtsmächtiger waren, werden Bismarcks und Adenauers Erinnerungen auch heute noch von vielen Historikern herangezogen. Im Fall von Bismarck kann man überdies hinzufügen: Sie werden sogar gelesen.
Wenn man sich heute fragt, wie es zu dieser Popularität kommen konnte, wird man nicht nur an den patriotischen Stolz denken, der sich für die Mehrzahl der Deutschen so lange mit der Figur Bismarcks verband, der als "eiserner Kanzler" fast 30 Jahre lang ziemlich unumschränkt regieren konnte und darüber hinaus als Reichsgründer von 1871 tatsächlich Geschichte geschrieben hatte. Bismarck war darüber hinaus auch ein glänzender Stilist. Dies bezeugt nicht nur sein Memoiren-Alterswerk. Es geht auch aus den Briefen an seine Frau Johanna, geborene von Puttkammer, hervor. Vor allem aber ist es an den Berichten ablesbar, die Bismarck als Beamter des Auswärtigen Amtes an seine Vorgesetzten schrieb. Als Diplomat alter Schule hatte Bismarck noch unter dem Einfluß einer literarischen Kultur gestanden, die es heute nicht mehr gibt und die auch Politikern wie Kohl oder Schröder, die ihre Bücher bekanntlich nicht selbst geschrieben haben, vollkommen fremd ist.
Diese literarische Kultur kennzeichnet auch die Memoiren eines anderen Kanzlers, der mit seinen "Erinnerungen" kolossal erfolgreich war, obwohl die Historiker am Quellenwert seiner Darlegungen schon immer zweifelten: gemeint ist Bernhard von Bülow, der von 1900 bis 1909 das höchste Regierungsamt im Deutschen Reich bekleidete. Auch hier fand der Leser viel Reizvolles, was nicht nur dem Hang zur treffenden Boshaftigkeit geschuldet war, für die Bülow bekannt war, sondern auch seinen Schilderungen einer untergegangenen Welt, der Welt der kleinen Höfe, die Bülow am Beispiel des Herzogtums Mecklenburg-Strelitz, in dem er groß geworden war, sehr anschaulich heraufbeschwor.
Blickt man schließlich über die deutschen Grenzen hinaus, erkennt man leicht, dass das so genannte Politikerbuch geradezu ein eigenes Genre darstellt, an dem gemessen Schröders Ergüsse noch mehr abfallen dürften. Bekanntlich erhielt eines von ihnen, nämlich Churchills große Studie über den Zweiten Weltkrieg, sogar den Literaturnobelpreis. Geradezu eine Verpflichtung, literarische Zeugnisse zu hinterlassen, existiert aber vor allem in Frankreich. Seit den Tagen Philippe de Commynes, der unter anderem Kanzler Karls des Kühnen war und zum Schluss seiner Karriere als Gesandter in Venedig von 1489 bis 1498 seine Lebenserinnerungen redigierte, besteht in Frankreich die Tradition, dass Politiker nicht nur Rechenschaft für ihr Handeln ablegen, sondern auch die von ihnen durchlebte und mitgestaltete Epoche historisch, philosophisch, kulturgeschichtlich durchleuchten.
Das Musterbeispiel für diesen gewaltigen Anspruch stellen nach wie vor die dreibändigen "Erinnerungen von jenseits des Grabes" dar, die wir dem Grafen Chateaubriand verdanken. Wie keiner unter den Zeitgenossen hatte der begriffen, dass 1789 die große Epochenzäsur darstellte. Als er am Ende seines langen Lebens (er starb 1848) seine Erinnerungen schrieb, tat er alles, um sich zu einem Menschen zu stilisieren, der einem vergangenen Zeitalter angehörte. Ihm verdanken wir die am präzisesten formulierte Erkenntnis, die allen großen politischen Erinnerungsbüchern zugrunde liegt: dass nur derjenige etwas Bleibendes mitteilen kann, der sich aus dem Tagesgeschäft verabschiedet hat. Wer, wie Schröder, nur ein Comeback will, muss zu anderen schreiberischen Formen greifen, um zu überzeugen.
Tilman Krause, 1959 in Kiel geboren, Studium der Germanistik, Geschichte und Romanistik in Tübingen. 1980/81 erster von vielen Frankreich-Aufenthalten, beginnend mit einer Stelle als Deutschlehrer am Pariser Lycée Henri IV. 1981 Fortsetzung des Studiums an der Berliner FU. Dortselbst 1991 Promotion zum Dr. phil. mit einer Arbeit über den Publizisten Friedrich Sieburg, den ersten ‚Literaturpapst’ der Bundesrepublik. Seitdem diverse Lehraufträge an der FU, der Humboldt-Universität, an der Universität Hildesheim und am Leipziger Literatur-Institut. Sein journalistischer Werdegang führte Tilman Krause über die "FAZ" (1990-1994) und den "Tagesspiegel" (1994-1998) zu seinem jetzigen Posten als leitendem Literatur-Redakteur bei der "WELT".
Dieses Nichtloslassenkönnen ist freilich in der Politik weitverbreitet und vor allem in der deutschen Geschichte bestens bekannt.
Gerade den beiden bedeutendsten deutschen Kanzlern ging es nicht anders. Weder Adenauer noch Bismarck wollten einsehen, dass es mit ihrem politischen Leben ein Ende haben müsse. Und beide haben mit ihren Memoiren weiterhin versucht, sich in die Politik einzumischen. Sie ließen sich allerdings mehr Zeit. Und im Gegensatz zu Schröder ging doch ihr Ehrgeiz weit darüber hinaus, nur für den Tag und die Stunde zu schreiben. Aus diesem Grunde, aber natürlich auch, weil sie geschichtsmächtiger waren, werden Bismarcks und Adenauers Erinnerungen auch heute noch von vielen Historikern herangezogen. Im Fall von Bismarck kann man überdies hinzufügen: Sie werden sogar gelesen.
Wenn man sich heute fragt, wie es zu dieser Popularität kommen konnte, wird man nicht nur an den patriotischen Stolz denken, der sich für die Mehrzahl der Deutschen so lange mit der Figur Bismarcks verband, der als "eiserner Kanzler" fast 30 Jahre lang ziemlich unumschränkt regieren konnte und darüber hinaus als Reichsgründer von 1871 tatsächlich Geschichte geschrieben hatte. Bismarck war darüber hinaus auch ein glänzender Stilist. Dies bezeugt nicht nur sein Memoiren-Alterswerk. Es geht auch aus den Briefen an seine Frau Johanna, geborene von Puttkammer, hervor. Vor allem aber ist es an den Berichten ablesbar, die Bismarck als Beamter des Auswärtigen Amtes an seine Vorgesetzten schrieb. Als Diplomat alter Schule hatte Bismarck noch unter dem Einfluß einer literarischen Kultur gestanden, die es heute nicht mehr gibt und die auch Politikern wie Kohl oder Schröder, die ihre Bücher bekanntlich nicht selbst geschrieben haben, vollkommen fremd ist.
Diese literarische Kultur kennzeichnet auch die Memoiren eines anderen Kanzlers, der mit seinen "Erinnerungen" kolossal erfolgreich war, obwohl die Historiker am Quellenwert seiner Darlegungen schon immer zweifelten: gemeint ist Bernhard von Bülow, der von 1900 bis 1909 das höchste Regierungsamt im Deutschen Reich bekleidete. Auch hier fand der Leser viel Reizvolles, was nicht nur dem Hang zur treffenden Boshaftigkeit geschuldet war, für die Bülow bekannt war, sondern auch seinen Schilderungen einer untergegangenen Welt, der Welt der kleinen Höfe, die Bülow am Beispiel des Herzogtums Mecklenburg-Strelitz, in dem er groß geworden war, sehr anschaulich heraufbeschwor.
Blickt man schließlich über die deutschen Grenzen hinaus, erkennt man leicht, dass das so genannte Politikerbuch geradezu ein eigenes Genre darstellt, an dem gemessen Schröders Ergüsse noch mehr abfallen dürften. Bekanntlich erhielt eines von ihnen, nämlich Churchills große Studie über den Zweiten Weltkrieg, sogar den Literaturnobelpreis. Geradezu eine Verpflichtung, literarische Zeugnisse zu hinterlassen, existiert aber vor allem in Frankreich. Seit den Tagen Philippe de Commynes, der unter anderem Kanzler Karls des Kühnen war und zum Schluss seiner Karriere als Gesandter in Venedig von 1489 bis 1498 seine Lebenserinnerungen redigierte, besteht in Frankreich die Tradition, dass Politiker nicht nur Rechenschaft für ihr Handeln ablegen, sondern auch die von ihnen durchlebte und mitgestaltete Epoche historisch, philosophisch, kulturgeschichtlich durchleuchten.
Das Musterbeispiel für diesen gewaltigen Anspruch stellen nach wie vor die dreibändigen "Erinnerungen von jenseits des Grabes" dar, die wir dem Grafen Chateaubriand verdanken. Wie keiner unter den Zeitgenossen hatte der begriffen, dass 1789 die große Epochenzäsur darstellte. Als er am Ende seines langen Lebens (er starb 1848) seine Erinnerungen schrieb, tat er alles, um sich zu einem Menschen zu stilisieren, der einem vergangenen Zeitalter angehörte. Ihm verdanken wir die am präzisesten formulierte Erkenntnis, die allen großen politischen Erinnerungsbüchern zugrunde liegt: dass nur derjenige etwas Bleibendes mitteilen kann, der sich aus dem Tagesgeschäft verabschiedet hat. Wer, wie Schröder, nur ein Comeback will, muss zu anderen schreiberischen Formen greifen, um zu überzeugen.
Tilman Krause, 1959 in Kiel geboren, Studium der Germanistik, Geschichte und Romanistik in Tübingen. 1980/81 erster von vielen Frankreich-Aufenthalten, beginnend mit einer Stelle als Deutschlehrer am Pariser Lycée Henri IV. 1981 Fortsetzung des Studiums an der Berliner FU. Dortselbst 1991 Promotion zum Dr. phil. mit einer Arbeit über den Publizisten Friedrich Sieburg, den ersten ‚Literaturpapst’ der Bundesrepublik. Seitdem diverse Lehraufträge an der FU, der Humboldt-Universität, an der Universität Hildesheim und am Leipziger Literatur-Institut. Sein journalistischer Werdegang führte Tilman Krause über die "FAZ" (1990-1994) und den "Tagesspiegel" (1994-1998) zu seinem jetzigen Posten als leitendem Literatur-Redakteur bei der "WELT".