Erinnerungspflege
Immer mehr Menschen in Deutschland leiden an Alzheimer oder an einer Demenz. Tendenz steigend. Denn, mit zunehmender Lebenserwartung steigt auch die Wahrscheinlichkeit an einer Demenz zu erkranken. Entsprechend nimmt auch der Bedarf an Pflegeplätzen zu. Schon heute ist jeder Zweite Bewohner in einem Alten- bzw. Pflegeheim verwirrt. Eine Herausforderung für das Pflegepersonal.
Immer mehr wird in der Altenpflege über neue, andere Wege in der Pflege bei verwirrten Menschen nachgedacht. Eine Pflegeform scheint dabei besonders gut geeignet zu sein: die so genannte Erinnerungspflege. Das Konzept wird momentan in St. Lukas getestet, einer Einrichtung der katholischen Keppler- Stiftung. Bundesweit gilt das Pflegeheim im württembergischen Wernau als Pilotprojekt.
"Und so haben sie ihre Frau kennen gelernt, gell? Ja! Mit Knickerbocker und Dirndl. Ja. Ja. Schön, gell? Aha. Süß, wie sie da aussehen! Ha, jung! Ha jung, gell. "
Der weißhaarige alte Herr grinst. Vor ihm steht eine Kiste. Der Inhalt:
Schwarz-Weiß-Fotos. Altenpflegerin Margot Wachtler greift ganz nach unten und zieht ein vergilbtes Familienbild vor:
"Was ist denn da drauf? Oder wer? Also, ich weiß jetzt nicht, ob die zwei noch leben - der Vater und Mutter? Die leben nimmer! Sie sind ja schon 91, aber sie sehen ihrem Vater ähnlich! Ja. Gell? Sie sehen fast aus wie ihr Vater. Das ist der Vater und das ist die Mutter. Ja. Und wo sind sie? Des isch er. "
Immer mehr Fotos kommen aus der Kiste und mit den Fotos die Erinnerungen.
Der alte Herr, der früher Lehrer war, erzählt von seiner russischen Kriegsgefangenschaft. Im Lager hat er einen Chor gegründet und mit dem Chor ist er aufgetreten - sonntags vor den Offizieren. Nächstes Bild, nächste Erinnerung: die erste Tochter!
Auch von ihr gibt es viel zu berichten und der alte Herr darf erzählen, ja er soll sogar erzählen, denn das ist Teil der Therapie in St. Lukas.
Altenpflegerin Margot Wachtler hat die Erfahrung gemacht, dass es nicht viel bringt, die verwirrten Menschen mit Tagesereignissen zu konfrontieren.
Wer sein Kurzzeitgedächtnis verloren hat, wird sich nicht merken können, welcher Tag heute ist, auch wenn man es ständig sagt:
"Ne, also wir versuchen zwar mit dem Kalender oder mit dem Monatsblatt immer zu zeigen, in welcher Jahreszeit sie sind, auch mit Blumen oder mit Gedichten - zu der Jahreszeit passend. Aber bei den meisten dementen Leuten kommt das halt nicht an. Bei denen kommt halt nur der Moment an und da müssen sie sich wohl fühlen. "
Fotos, aber auch vertraute Utensilien werden zur kommunikativen Brücke zwischen den Bewohnern und ihren Betreuern.
Da erzählt einer aus seiner Kriegsgefangenschaft, viele von der Flucht. Und plötzlich versteht man, warum die alte Dame oft so verschlossen ist und immer weint. Ein Brückenschlag gelingt - oft genug getragen von Mitleid, das die Pflegenden angesichts der Dramatik der Erzählung empfinden.
Doch heute Morgen ist es heiter in der Erinnerungsstube von Frau Wachtler. In der Kiste einer alten Dame finden sich Handschuhe, eine Postkarte ein getrocknetes Edelweiß und das Mundstück eines Blasinstruments. Zusammengestellt von der Tochter der Bewohnerin. Stoff für Erinnerungen, wenn es sein muss ausreichend für einen ganzen Tag. Frau Wachtler hält das Mundstück hoch, zeigt es der Dame und fragt: wer damit gespielt hat?
"Mein Mann - ihr Mann - und sagen sie mal, wo der gespielt hat?
Ha, beim Mosch. Beim Ernst Mosch. Ha, der war immer Tenorspieler. Hmm. "
Deckel zu. Für heute reicht es. Bald gibt es Mittagessen. Die kleine Gruppe bricht auf. Demenzkranke Menschen sind oft verunsichert, wollen am liebsten weg - erzählt Margot Wachtler unterwegs Dann fällt auch das Erinnern schwer:
"Viele Demenz-Erkrankte, die sind ja so in ihrer Welt, dass die mehr auf Zuwendung angewiesen sind. Dass die merken, dass man sie in den Arm nimmt oder an der Hand nimmt und das regelmäßig, dann fassen sie schon auch Vertrauen zu einem, aber natürlich viel schwieriger als ein orientierter Mensch. "
Wer zum ersten Mal nach St. Lukas kommt, könnte auch meinen, er hätte sich in einem Heimatmuseum verirrt. Überall stehen Möbel und Gegenstände, die mindestens so alt sind wie ihre Bewohner. Jeder Gang endet in einer großen Nische. In jeder Nische findet sich thematisch ein Zimmer. So endet der Südgang in einer alten Bauernküche, das andere Ende des Gangs führt in eine alte Schlafkammer. Federbetten türmen sich in offenen Bettladen, dazwischen eine Kupfer- Wärmflasche. Auf dem Nachtisch steht eine Kerze, das Kinderbettchen ist leer; Raum für eigene Phantasien, sagt Sozialdienstleiterin Janina Lapmann:
"Wir haben erst die Erinnerungsecken eingerichtet, aber es sollte nicht so aussehen wie in einem Museum. Die Ecken sollten leben. Und deshalb haben wir das wieder umgestellt und Platz geschaffen, wo die Erinnerungsecke lebt. Lebt und füllt sich mit Erinnerungen unserer Bewohner. "
Aus der Ferne nähert sich mit schweren Schritten ein Mann mit Kinderwagen. Das Vehikel ist steinalt. Wortlos dreht er sich vor der Schlafecke um und geht wieder den Gang zurück. Er scheint eins mit sich, auch noch Stunden später, als er immer noch den. selben Weg mit dem gleichen Wagen daherkommt.
Während der eine Bewohner gerne erinnert wird und dadurch regelrecht auftaut,
genügt dem anderen bisweilen nur ein Gegenstand, der nicht reizt, der vertraut scheint, um zu versinken, sagt Pflegedienstleiterin Silvia Balbuchta:
"Das hat nicht viel damit zu tun, dass er jetzt aus seinem Langzeitgedächtnis Dinge hervorkramt und dann drüber erzählt, sondern dass er in dem Moment schon einfach Dinge wiederfindet und diese für diese Situation nutzt, ohne zurück zu müssen. Einfach, das im Hier und Jetzt wohl fühlen und leben können. "
Gleich wird das Mittagessen verteilt. Das Haus füllt sich. Angehörige und freiwillige Helfer kommen, sonst könnten die Bewohner nicht alle zusammen essen.Eine alte Frau im Rollstuhl, den Rücken fast bis zur Tischkante gekrümmt, schüttelt den Kopf: sie will nicht. Erst vor wenigen Tagen hat die Tochter ihre Mutter nach St. Lukas gebracht. Die mögliche Lösung klingt banal, doch am Tisch in einem Altenpflegeheim noch ungewohnt:
"Au wenn der Bewohner nicht essen will und der Angehörige schier am verzweifeln ist, da natürlich zu sagen, was hat er denn früher gerne gegessen, versuchen wir es mit dem; irgendein Ritual, das er hatte, da ihn mit einzubeziehen. "
In St. Lukas arbeiten genauso viele Pflegekräfte wie in anderen vergleichbaren Einrichtungen. Doch mehr als andere Heime, zieht St. Lukas ehrenamtliche Helfer regelrecht an. Das liegt wohl an Sozialdienstleiterin Janina Lapman, sie hat die Türen der Einrichtung aufgemacht; lässt alle rein, die sich einbringen wollen und lässt Raum für eigene Ideen. Wann immer es geht, kommt beispielsweise Ursula Ruttkowski. Noch vor ein paar Jahren stellte sie bei einem Besuch fest:
"Mein Gott, die Leute sitzen da und langweilen sich. Und da hab ich gedacht Da muss ich irgendetwas machen. Da muss man, wenn es auch bloß ein Tropfen auf den heißen Stein ist, aber einfach ein bisschen etwas tun, um den Leuten ein bisschen die Zeit zu vertreiben. "
Sie hatte die Idee, eine Ratestunde einzuführen. Frau Lapmann sagte ja - und seit diesem Tag ist Ursula Ruttkowski dabei.
"Was gibt es denn noch? Es gibt so eine Art, auch Orchideen-Art, fängt auch mit "E" an ... denkt einmal an einen Hut ...an einen Hut und noch etwas davor...
fängt mit "E" an - Eisenhut? Richtig! "
Plötzlich geht die Tür auf - der Kindergartenchor aus der Nachbarschaft marschiert ein. Gleich vier Jubilare stehen heute auf der Liste. Rund um die Uhr: Im Haus ist immer was los!
Kind: "Herzlichen Glückwunsch Frau .... "
"Das weiß ich nicht einmal, dass ich Geburtstag gehabt habe. "
Der Chor zieht weiter. Nur die kleine Gratulantin steht mit offenem Mund vor dem Geburtstagskind und scheint nicht glauben zu wollen, dass man so einen Tag einfach vergessen kann.
Mittagspause - ein Angebot, keine Pflicht.
Einige Bewohner stehen auf und drehen eine kleine Runde. Andere werden aufs Zimmer gebracht. Angehörige, die ihre Mutter oder den Vater nach St. Lukas bringen entscheiden sich meist bewusst für das Haus. Sie füllen einen Biografiebogen aus, der auch nach scheinbar banalen Kleinigkeiten, wie dem Kosenamen fragt Schmerzlich werden dabei bisweilen auch Angehörige an das Leben mit dem Menschen erinnert, der nun scheinbar alles vergessen hat. Pflegedienstleiterin Silvia Balbuchta:
"Also Angehörige und Bewohner gehören letztendlich zusammen. Weil, ohne die Angehörigen bringt uns die Erinnerungspflege nichts, die Biografiearbeit recht wenig, weil wir auf die Informationen der Angehörigen angewiesen sind und der Angehörige natürlich auch informiert werden muss, dass auch bei einem Demenzkranken der Besuch nicht umsonst war. Er muss dieses Wissen kriegen - dass der Moment eigentlich für diesen Demenzkranken das Wichtigste letztendlich ist. "
Hinter den Angehörigen liegen oft viele Jahre, in denen sie die verwirrte Mutter oder Vater gepflegt haben. Viele pflegende Angehörige sind mit ihren Kräften am Ende, wenn sie einen Platz in St. Lukas beantragen. Die Nacht wurde oft zum Tag, Schuhe fanden sich im Kühlschrank, die Nachbarschaft musste oft mit helfen, den Verwirrten zu suchen. Doch auch in St. Lukas werden die Türen nicht verschlossen, die Demenzkranken Menschen nicht in ihren Betten festgebunden. Heimleiterin Claudia Sauer:
"Das Risiko, das muss man auch tragen und das heißt natürlich auch, dass die Mobilität dieser Menschen erhalten bleibt. Ich kann stürzen, wenn ich lauf, wenn ich im Bett fixiert bin stürze ich nicht mehr. Aber meine Lebensqualität ist dadurch deutlich eingeschränkt. "
Neue Wege in der Altenpflege. Auch das Pflegepersonal muss in St. Lukas umdenken. Gelernte, zum Teil über Jahrzehnte hinweg verselbständigte Tagesabläufe müssen neu gedacht werden.
"Weg von diesem stupiden waschen, Essen geben, Toilettengänge. Sondern, dass Pflege letztendlich mehr bedeute als diese drei Tätigkeiten. Dass es dieses Ganzheitliche ist und man wesentlich mehr Augenmerk auf diese Dinge, die viel mit Kommunikation und sich mit dem anderen beschäftigen zu tun haben. "
Die Mitarbeiter, sagt Silvia Balbuchta, müssen motiviert werden. Am Anfang Als die Erinnerungspflege eingeführt wurde, war viel Aufklärungsarbeit und Geduld notwendig. Auch neues Personal ist nicht ganz so einfach zu finden. Doch immer mehr Schwestern und Pfleger fühlen sich wohler, mit dem neuen Wind in St. Lukas. Noch einmal Pflegedienstleiterin Silvia Balbuchta:
"Für das Pflegepersonal ist es einerseits natürlich sehr interessant. Interessant in der Weise, dass sie Dinge erfahren, von denen sie möglicherweise nichts wissen können, davon profitieren sie. Und auch die Reaktion der Bewohner, das ist immer so eine Freude vom Personal:" Au, jetzt hat er mir was erzählt, jetzt habe ich mal was erfahren. Und es langt auch offenbar schon nur ein Lächeln. "
Jetzt gibt es Kaffee und Tee. Immer noch kommen Gäste: ein Junge mit Motorradhelm unter dem Arm besucht den Urgroßvater, Frau Schuster hat Besuch von ihrer Tochter. Die geborene Berlinerin ist 92 und noch klar im Kopf, wie sie sagt. Sie fühlt sich wohl hier in St. Lukas, das Konzept der Erinnerungspflege kommt ihr entgegen. Auch die Einrichtung ihres Zimmers stammt aus alten Zeiten:
"Mein Sessel, mein Fernseher, mein Sessel, wo ich Mittagsschlaf immer mache, gell. Also, als ich gekommen bin, habe ich gesagt: wie daheim - gell - lacht - wie daheim! "
Das Lachen von Frau Schuster will so gar nicht zu dem passen, was die alte Dame dann erzählt:
"Also ich habe Hilfe von meinen Kindern, das kann ich sagen, ganz große Hilfe. Sie zahlen ja auch, gell. Meine Rente, ich habe vier Renten, die langen auch nicht mehr, gell. Der Arzt hat gesagt, man kann dem Alter bei mir nichts mehr machen. Wenn ich Schmerzen habe, sagt er, er kann nicht mehr machen. Er verschreibt mir nichts mehr. "
Es ist die letzte Station ihrer Lebensreise, da macht sich Gertrud Schuster nichts vor:
"Ich bin jetzt nun mal hier und jetzt warte ich nur noch auf mein Ende bis ich mal einschlafe und nicht mehr aufwache, gell. Auf das warte ich, gell. "
Auch der Tod wird nicht verschwiegen in St. Lukas. Stirbt ein Bewohner so brennt sichtbar an der Wand im Aufenthaltsraum eine Kerze. Die Bewohner, so das erklärte Ziel, müssen wie erwachsene Menschen behandelt werden. Sie haben ein Recht auf Information, auch sie wenn diese Informationen vielleicht anders verarbeiten. Wer weiß das schon?
Auf dem Gang riecht es angenehm nach Lavendel, zarte Klänge dudeln aus dem Lautsprecher. Auf dem Biedermeiersofa in der Wohlfühlecke sitzt eine alte grauhaarige Frau - ihre verbogenen, geschwollenen Hände liegen auf dem Schoß von Kosmetikerin Silvia Schwab. Mit geschlossenen Augen genießt die Dame Frau Schwabs Massage:
"Man merkt des, man spürt das - wann werden Menschen so berührt, oder ältere Menschen? Und - ja das ist auch für mich was Tolles, wenn man sieht, dass sie sich fallen lassen können, dass die Nervosität weggeht, dass sie einfach auch gerne kommen. "
Man redet miteinander - über früher - die alte Frau erzählt von ihrem Leben als Schneiderin. Christa Schwab hört geduldig zu. Die Bewohnerin würfelt die Zeit durcheinander und wähnt sich bisweilen wieder Zuhause. Aber sie bleibt ruhig sitzen und genießt und erzählt zufrieden -
Auch auf dem Sofa nebenan wird massiert. Wann immer sie Zeit hat, kommt Christa Reyhbohle, ebenfalls Kosmetikerin, nach St. Lukas, ehrenamtlich:
"Gönn mir einfach auch für mich die Zeit und für die Bewohner Nehm ich die Zeit, dass man einfach mal was Gutes tut denen; mir machen auch mal was für die Hände und Gesichtspflege - so dass sie einfach mal das Gefühl wieder haben: wir leben noch! "
Berühren, fühlen, erinnern, erzählen - ruhig werden. Es ist Abend in St, Lukas. Fast alle Bewohner liegen jetzt in ihren Betten - es ist still im Haus. "Das Schlimmste Übel ist ausscheiden aus der Schar der Lebendigen, ehe man stirbt." sagte einst der römische Philosoph Seneca. St. Lukas scheint zu beweisen, dass das unumgängliche Ausscheiden auch menschenwürdig geschehen kann.
"Und so haben sie ihre Frau kennen gelernt, gell? Ja! Mit Knickerbocker und Dirndl. Ja. Ja. Schön, gell? Aha. Süß, wie sie da aussehen! Ha, jung! Ha jung, gell. "
Der weißhaarige alte Herr grinst. Vor ihm steht eine Kiste. Der Inhalt:
Schwarz-Weiß-Fotos. Altenpflegerin Margot Wachtler greift ganz nach unten und zieht ein vergilbtes Familienbild vor:
"Was ist denn da drauf? Oder wer? Also, ich weiß jetzt nicht, ob die zwei noch leben - der Vater und Mutter? Die leben nimmer! Sie sind ja schon 91, aber sie sehen ihrem Vater ähnlich! Ja. Gell? Sie sehen fast aus wie ihr Vater. Das ist der Vater und das ist die Mutter. Ja. Und wo sind sie? Des isch er. "
Immer mehr Fotos kommen aus der Kiste und mit den Fotos die Erinnerungen.
Der alte Herr, der früher Lehrer war, erzählt von seiner russischen Kriegsgefangenschaft. Im Lager hat er einen Chor gegründet und mit dem Chor ist er aufgetreten - sonntags vor den Offizieren. Nächstes Bild, nächste Erinnerung: die erste Tochter!
Auch von ihr gibt es viel zu berichten und der alte Herr darf erzählen, ja er soll sogar erzählen, denn das ist Teil der Therapie in St. Lukas.
Altenpflegerin Margot Wachtler hat die Erfahrung gemacht, dass es nicht viel bringt, die verwirrten Menschen mit Tagesereignissen zu konfrontieren.
Wer sein Kurzzeitgedächtnis verloren hat, wird sich nicht merken können, welcher Tag heute ist, auch wenn man es ständig sagt:
"Ne, also wir versuchen zwar mit dem Kalender oder mit dem Monatsblatt immer zu zeigen, in welcher Jahreszeit sie sind, auch mit Blumen oder mit Gedichten - zu der Jahreszeit passend. Aber bei den meisten dementen Leuten kommt das halt nicht an. Bei denen kommt halt nur der Moment an und da müssen sie sich wohl fühlen. "
Fotos, aber auch vertraute Utensilien werden zur kommunikativen Brücke zwischen den Bewohnern und ihren Betreuern.
Da erzählt einer aus seiner Kriegsgefangenschaft, viele von der Flucht. Und plötzlich versteht man, warum die alte Dame oft so verschlossen ist und immer weint. Ein Brückenschlag gelingt - oft genug getragen von Mitleid, das die Pflegenden angesichts der Dramatik der Erzählung empfinden.
Doch heute Morgen ist es heiter in der Erinnerungsstube von Frau Wachtler. In der Kiste einer alten Dame finden sich Handschuhe, eine Postkarte ein getrocknetes Edelweiß und das Mundstück eines Blasinstruments. Zusammengestellt von der Tochter der Bewohnerin. Stoff für Erinnerungen, wenn es sein muss ausreichend für einen ganzen Tag. Frau Wachtler hält das Mundstück hoch, zeigt es der Dame und fragt: wer damit gespielt hat?
"Mein Mann - ihr Mann - und sagen sie mal, wo der gespielt hat?
Ha, beim Mosch. Beim Ernst Mosch. Ha, der war immer Tenorspieler. Hmm. "
Deckel zu. Für heute reicht es. Bald gibt es Mittagessen. Die kleine Gruppe bricht auf. Demenzkranke Menschen sind oft verunsichert, wollen am liebsten weg - erzählt Margot Wachtler unterwegs Dann fällt auch das Erinnern schwer:
"Viele Demenz-Erkrankte, die sind ja so in ihrer Welt, dass die mehr auf Zuwendung angewiesen sind. Dass die merken, dass man sie in den Arm nimmt oder an der Hand nimmt und das regelmäßig, dann fassen sie schon auch Vertrauen zu einem, aber natürlich viel schwieriger als ein orientierter Mensch. "
Wer zum ersten Mal nach St. Lukas kommt, könnte auch meinen, er hätte sich in einem Heimatmuseum verirrt. Überall stehen Möbel und Gegenstände, die mindestens so alt sind wie ihre Bewohner. Jeder Gang endet in einer großen Nische. In jeder Nische findet sich thematisch ein Zimmer. So endet der Südgang in einer alten Bauernküche, das andere Ende des Gangs führt in eine alte Schlafkammer. Federbetten türmen sich in offenen Bettladen, dazwischen eine Kupfer- Wärmflasche. Auf dem Nachtisch steht eine Kerze, das Kinderbettchen ist leer; Raum für eigene Phantasien, sagt Sozialdienstleiterin Janina Lapmann:
"Wir haben erst die Erinnerungsecken eingerichtet, aber es sollte nicht so aussehen wie in einem Museum. Die Ecken sollten leben. Und deshalb haben wir das wieder umgestellt und Platz geschaffen, wo die Erinnerungsecke lebt. Lebt und füllt sich mit Erinnerungen unserer Bewohner. "
Aus der Ferne nähert sich mit schweren Schritten ein Mann mit Kinderwagen. Das Vehikel ist steinalt. Wortlos dreht er sich vor der Schlafecke um und geht wieder den Gang zurück. Er scheint eins mit sich, auch noch Stunden später, als er immer noch den. selben Weg mit dem gleichen Wagen daherkommt.
Während der eine Bewohner gerne erinnert wird und dadurch regelrecht auftaut,
genügt dem anderen bisweilen nur ein Gegenstand, der nicht reizt, der vertraut scheint, um zu versinken, sagt Pflegedienstleiterin Silvia Balbuchta:
"Das hat nicht viel damit zu tun, dass er jetzt aus seinem Langzeitgedächtnis Dinge hervorkramt und dann drüber erzählt, sondern dass er in dem Moment schon einfach Dinge wiederfindet und diese für diese Situation nutzt, ohne zurück zu müssen. Einfach, das im Hier und Jetzt wohl fühlen und leben können. "
Gleich wird das Mittagessen verteilt. Das Haus füllt sich. Angehörige und freiwillige Helfer kommen, sonst könnten die Bewohner nicht alle zusammen essen.Eine alte Frau im Rollstuhl, den Rücken fast bis zur Tischkante gekrümmt, schüttelt den Kopf: sie will nicht. Erst vor wenigen Tagen hat die Tochter ihre Mutter nach St. Lukas gebracht. Die mögliche Lösung klingt banal, doch am Tisch in einem Altenpflegeheim noch ungewohnt:
"Au wenn der Bewohner nicht essen will und der Angehörige schier am verzweifeln ist, da natürlich zu sagen, was hat er denn früher gerne gegessen, versuchen wir es mit dem; irgendein Ritual, das er hatte, da ihn mit einzubeziehen. "
In St. Lukas arbeiten genauso viele Pflegekräfte wie in anderen vergleichbaren Einrichtungen. Doch mehr als andere Heime, zieht St. Lukas ehrenamtliche Helfer regelrecht an. Das liegt wohl an Sozialdienstleiterin Janina Lapman, sie hat die Türen der Einrichtung aufgemacht; lässt alle rein, die sich einbringen wollen und lässt Raum für eigene Ideen. Wann immer es geht, kommt beispielsweise Ursula Ruttkowski. Noch vor ein paar Jahren stellte sie bei einem Besuch fest:
"Mein Gott, die Leute sitzen da und langweilen sich. Und da hab ich gedacht Da muss ich irgendetwas machen. Da muss man, wenn es auch bloß ein Tropfen auf den heißen Stein ist, aber einfach ein bisschen etwas tun, um den Leuten ein bisschen die Zeit zu vertreiben. "
Sie hatte die Idee, eine Ratestunde einzuführen. Frau Lapmann sagte ja - und seit diesem Tag ist Ursula Ruttkowski dabei.
"Was gibt es denn noch? Es gibt so eine Art, auch Orchideen-Art, fängt auch mit "E" an ... denkt einmal an einen Hut ...an einen Hut und noch etwas davor...
fängt mit "E" an - Eisenhut? Richtig! "
Plötzlich geht die Tür auf - der Kindergartenchor aus der Nachbarschaft marschiert ein. Gleich vier Jubilare stehen heute auf der Liste. Rund um die Uhr: Im Haus ist immer was los!
Kind: "Herzlichen Glückwunsch Frau .... "
"Das weiß ich nicht einmal, dass ich Geburtstag gehabt habe. "
Der Chor zieht weiter. Nur die kleine Gratulantin steht mit offenem Mund vor dem Geburtstagskind und scheint nicht glauben zu wollen, dass man so einen Tag einfach vergessen kann.
Mittagspause - ein Angebot, keine Pflicht.
Einige Bewohner stehen auf und drehen eine kleine Runde. Andere werden aufs Zimmer gebracht. Angehörige, die ihre Mutter oder den Vater nach St. Lukas bringen entscheiden sich meist bewusst für das Haus. Sie füllen einen Biografiebogen aus, der auch nach scheinbar banalen Kleinigkeiten, wie dem Kosenamen fragt Schmerzlich werden dabei bisweilen auch Angehörige an das Leben mit dem Menschen erinnert, der nun scheinbar alles vergessen hat. Pflegedienstleiterin Silvia Balbuchta:
"Also Angehörige und Bewohner gehören letztendlich zusammen. Weil, ohne die Angehörigen bringt uns die Erinnerungspflege nichts, die Biografiearbeit recht wenig, weil wir auf die Informationen der Angehörigen angewiesen sind und der Angehörige natürlich auch informiert werden muss, dass auch bei einem Demenzkranken der Besuch nicht umsonst war. Er muss dieses Wissen kriegen - dass der Moment eigentlich für diesen Demenzkranken das Wichtigste letztendlich ist. "
Hinter den Angehörigen liegen oft viele Jahre, in denen sie die verwirrte Mutter oder Vater gepflegt haben. Viele pflegende Angehörige sind mit ihren Kräften am Ende, wenn sie einen Platz in St. Lukas beantragen. Die Nacht wurde oft zum Tag, Schuhe fanden sich im Kühlschrank, die Nachbarschaft musste oft mit helfen, den Verwirrten zu suchen. Doch auch in St. Lukas werden die Türen nicht verschlossen, die Demenzkranken Menschen nicht in ihren Betten festgebunden. Heimleiterin Claudia Sauer:
"Das Risiko, das muss man auch tragen und das heißt natürlich auch, dass die Mobilität dieser Menschen erhalten bleibt. Ich kann stürzen, wenn ich lauf, wenn ich im Bett fixiert bin stürze ich nicht mehr. Aber meine Lebensqualität ist dadurch deutlich eingeschränkt. "
Neue Wege in der Altenpflege. Auch das Pflegepersonal muss in St. Lukas umdenken. Gelernte, zum Teil über Jahrzehnte hinweg verselbständigte Tagesabläufe müssen neu gedacht werden.
"Weg von diesem stupiden waschen, Essen geben, Toilettengänge. Sondern, dass Pflege letztendlich mehr bedeute als diese drei Tätigkeiten. Dass es dieses Ganzheitliche ist und man wesentlich mehr Augenmerk auf diese Dinge, die viel mit Kommunikation und sich mit dem anderen beschäftigen zu tun haben. "
Die Mitarbeiter, sagt Silvia Balbuchta, müssen motiviert werden. Am Anfang Als die Erinnerungspflege eingeführt wurde, war viel Aufklärungsarbeit und Geduld notwendig. Auch neues Personal ist nicht ganz so einfach zu finden. Doch immer mehr Schwestern und Pfleger fühlen sich wohler, mit dem neuen Wind in St. Lukas. Noch einmal Pflegedienstleiterin Silvia Balbuchta:
"Für das Pflegepersonal ist es einerseits natürlich sehr interessant. Interessant in der Weise, dass sie Dinge erfahren, von denen sie möglicherweise nichts wissen können, davon profitieren sie. Und auch die Reaktion der Bewohner, das ist immer so eine Freude vom Personal:" Au, jetzt hat er mir was erzählt, jetzt habe ich mal was erfahren. Und es langt auch offenbar schon nur ein Lächeln. "
Jetzt gibt es Kaffee und Tee. Immer noch kommen Gäste: ein Junge mit Motorradhelm unter dem Arm besucht den Urgroßvater, Frau Schuster hat Besuch von ihrer Tochter. Die geborene Berlinerin ist 92 und noch klar im Kopf, wie sie sagt. Sie fühlt sich wohl hier in St. Lukas, das Konzept der Erinnerungspflege kommt ihr entgegen. Auch die Einrichtung ihres Zimmers stammt aus alten Zeiten:
"Mein Sessel, mein Fernseher, mein Sessel, wo ich Mittagsschlaf immer mache, gell. Also, als ich gekommen bin, habe ich gesagt: wie daheim - gell - lacht - wie daheim! "
Das Lachen von Frau Schuster will so gar nicht zu dem passen, was die alte Dame dann erzählt:
"Also ich habe Hilfe von meinen Kindern, das kann ich sagen, ganz große Hilfe. Sie zahlen ja auch, gell. Meine Rente, ich habe vier Renten, die langen auch nicht mehr, gell. Der Arzt hat gesagt, man kann dem Alter bei mir nichts mehr machen. Wenn ich Schmerzen habe, sagt er, er kann nicht mehr machen. Er verschreibt mir nichts mehr. "
Es ist die letzte Station ihrer Lebensreise, da macht sich Gertrud Schuster nichts vor:
"Ich bin jetzt nun mal hier und jetzt warte ich nur noch auf mein Ende bis ich mal einschlafe und nicht mehr aufwache, gell. Auf das warte ich, gell. "
Auch der Tod wird nicht verschwiegen in St. Lukas. Stirbt ein Bewohner so brennt sichtbar an der Wand im Aufenthaltsraum eine Kerze. Die Bewohner, so das erklärte Ziel, müssen wie erwachsene Menschen behandelt werden. Sie haben ein Recht auf Information, auch sie wenn diese Informationen vielleicht anders verarbeiten. Wer weiß das schon?
Auf dem Gang riecht es angenehm nach Lavendel, zarte Klänge dudeln aus dem Lautsprecher. Auf dem Biedermeiersofa in der Wohlfühlecke sitzt eine alte grauhaarige Frau - ihre verbogenen, geschwollenen Hände liegen auf dem Schoß von Kosmetikerin Silvia Schwab. Mit geschlossenen Augen genießt die Dame Frau Schwabs Massage:
"Man merkt des, man spürt das - wann werden Menschen so berührt, oder ältere Menschen? Und - ja das ist auch für mich was Tolles, wenn man sieht, dass sie sich fallen lassen können, dass die Nervosität weggeht, dass sie einfach auch gerne kommen. "
Man redet miteinander - über früher - die alte Frau erzählt von ihrem Leben als Schneiderin. Christa Schwab hört geduldig zu. Die Bewohnerin würfelt die Zeit durcheinander und wähnt sich bisweilen wieder Zuhause. Aber sie bleibt ruhig sitzen und genießt und erzählt zufrieden -
Auch auf dem Sofa nebenan wird massiert. Wann immer sie Zeit hat, kommt Christa Reyhbohle, ebenfalls Kosmetikerin, nach St. Lukas, ehrenamtlich:
"Gönn mir einfach auch für mich die Zeit und für die Bewohner Nehm ich die Zeit, dass man einfach mal was Gutes tut denen; mir machen auch mal was für die Hände und Gesichtspflege - so dass sie einfach mal das Gefühl wieder haben: wir leben noch! "
Berühren, fühlen, erinnern, erzählen - ruhig werden. Es ist Abend in St, Lukas. Fast alle Bewohner liegen jetzt in ihren Betten - es ist still im Haus. "Das Schlimmste Übel ist ausscheiden aus der Schar der Lebendigen, ehe man stirbt." sagte einst der römische Philosoph Seneca. St. Lukas scheint zu beweisen, dass das unumgängliche Ausscheiden auch menschenwürdig geschehen kann.