Kira Meyer schreibt ihre Doktorarbeit über das Verhältnis von Nachhaltigkeit und Freiheit. Neben ihrer akademischen Tätigkeit arbeitet sie als freie Journalistin.
Erinnerungspolitik am 8. Mai
Ein Gendenkort in den Konfliktlinien der Gegenwart: Eine ukrainische Flagge verhüllt den Panzer am sowjetischen Ehrenmal in Berlin, als Protest gegen Russlands Angriff auf die Ukraine. © picture alliance/dpa/Kay Nietfeld
Von der Kraft historischer Daten
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Der 8. Mai ist aus russischer Sicht der „Tag des Sieges“. Dieses Jahr steht der Feiertag, der an die Kapitulation der deutschen Wehrmacht 1945 erinnert, unter dem Eindruck des Ukrainekriegs. Welchen Einfluss haben historische Daten auf die Politik?
„Die Große Revolution führte einen neuen Kalender ein. Der Tag, mit dem ein Kalender einsetzt, fungiert als ein historischer Zeitraffer. Und es ist im Grunde genommen derselbe Tag, der in Gestalt der Feiertage, die Tage des Eingedenkens sind, immer wiederkehrt.“ So schreibt Walter Benjamin in seinen Aufzeichnungen „Über den Begriff der Geschichte“ 1940.
Fünf Jahre später sollte sich eine andere Umwälzung vollziehen, als Benjamin sie hier vor Augen hatte, die aber tatsächlich eine neue Zeitrechnung einführte: der Sieg der Alliierten über Nazi-Deutschland am 8. Mai 1945.
Dieses Datum, das an das erzwungene Ende der durch Deutschland angerichteten Gräuel erinnert, ist seither Jahr für Jahr eine erinnerungspolitische Marke, die – wie Benjamin schreibt – im Geiste den Beginn der neuen Zeitrechnung einzuholen versucht: den Sieg über Nazi-Deutschland.
„Tag der Niederlage“ oder „Tag der Befreiung“?
Doch wofür diese erinnerungspolitische Marke genau steht, das unterscheidet sich von Land zu Land. Daran wird deutlich, dass es nicht die eine Geschichte gibt, sondern die jeweilige Perspektive darauf entscheidend ist. Gemeinsam ist dieser perspektivischen Vielfalt auf die Vergangenheit jedoch, dass, so Benjamin, Geschichtsschreibung stets diejenige der Sieger ist.
Was gewesen ist, das wird als Beitrag zu einer stetigen Erfolgs- und Fortschrittsgeschichte erzählt. Deutlich wird das auch bei der Benennung des am 8. Mai stattfindenden Gedenktages.
In Deutschland wurde dieser in der Nachkriegszeit als „Tag der Niederlage“ begangen, während sich seit Mitte der 80er-Jahre die heute wiederum umstrittene Deutung vom „Tag der Befreiung“ durchgesetzt hat. Beide Bezeichnungen spiegeln innerhalb der Logik von Sieger und Besiegtem die Position des Verlierers.
Jenseits der Logik von Sieger und Verlierer
Das Pendant dazu wird in Russland und vielen weiteren ehemaligen Sowjet-Staaten gefeiert: nämlich der „Tag des Sieges“– allerdings einen Tag später. Denn als die Kapitulation der deutschen Wehrmacht gegenüber der Roten Armee unterzeichnet wurde, war in Moskau aufgrund der Zeitverschiebung bekanntlich bereits der 9. Mai angebrochen.
Ein und dasselbe Ereignis, zwei verschiedene Daten – die abweichende Terminierung des Gedenktages an das Ende des Zweiten Weltkrieges in Russland und vielen europäischen Staaten ist symbolisch für die Erkenntnis, die spätestens seit dem Kriegsbeginn zutage getreten ist: Russland und die europäischen Staaten leben auch im übertragenden Sinne in verschiedenen Zeiten.
Der Logik von Sieg und Niederlage setzt Benjamin seinen berühmten „Engel der Geschichte“ entgegen, der in der Vergangenheit nicht siegreiche Fortschrittsmomente, sondern eine Aneinanderreihung von Katastrophen erkennt. Deren erschütternder Anblick hält seinen Blick in Richtung Vergangenheit gefangen, sodass er sich nicht der Zukunft zuwenden kann. Auch heute wachsen in Mariupol und Butscha erneut Trümmerhaufen zum Himmel.
Konfrontiert mit diesen ganz konkreten Trümmern, ist der 8. Mai 2022 unweigerlich mit der Frage verbunden, was die Wucht dieses historischen Datums für den Krieg Russlands gegen die Ukraine bedeutet. Fest steht, dass Russland diesen Tag künftig, ebenso wenig wie die Ukraine, als „Tag der Niederlage“ erinnern will.
Ein Feiertag als Brandbeschleuniger
Putin setzt alles daran, die Geschichte vom heroischen und siegreichen Russland aufrechtzuerhalten – und den Überfall auf die Ukraine in diese Linie zu stellen: Koste es, was es wolle, an militärischer und rhetorischer Gewalt. Der 8. Mai als Feiertag wirkt hier also wie ein Brandbeschleuniger im Ringen um Sieg und Niederlage, um Ruhm und Schande.
Die einzige Hoffnung, die uns heute bleibt, so scheint es, ist die auf die Durchbrechung dieser von Benjamin angemahnten Logik von Sieger und Verlierer. Es ist gewissermaßen die Hoffnung auf eine andere Zeitrechnung – eine, in der die Logik von Sieger und Besiegten aufgehoben wäre, indem sich beide Parteien des Krieges als Sieger verstünden.
Utopischer noch: indem die Logik von Sieg und Niederlage ersetzt wäre durch eine von gleichberechtigten, aber ungleichen Partnern. Es wäre eine Partnerschaft, in der Russland die auf sich geladene Schuld auf sich nehmen und Verantwortung für sie tragen würde. Dann erst könnte Benjamins Engel seinen Blick von den ukrainischen Trümmerhaufen lösen und sich der Zukunft dieses verletzten Landes zuwenden.