Wer wohnte früher in unserem Haus?
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Geschäftsleute, Maler, Journalisten lebten früher in der Mommsenstraße 6 in Berlin. Unter ihnen viele Juden. Jahrzehntelang vergessen, rufen heutige Bewohner die Erinnerung an diese Menschen wieder wach - und schaffen ein "Denkmal am Ort".
"Wenn ich aus dem Fenster schaue Richtung Gartenhaus, dann sehe ich - oder kann ich sehen - Menschen, die in den verschiedenen Etagen gelebt haben", sagt Wolf Baumann. "Und sofern ich Fotografien habe, kann ich mir auch vorstellen, wer sie waren. Wie die Familien aussahen, die Ehepaare, die Kinder, die dort gelebt haben."
Wolf Baumann spricht von den einstigen Bewohnern des Hauses in der Mommsenstraße 6 in Berlin-Charlottenburg. Seit zweieinhalb Jahren erkunden er und seine Frau Claudia Saam deren Lebenswege. Unter ihnen waren Maler, Musiker, Journalisten, Geschäftsleute: Bürger in einem bürgerlichen Stadtteil.
Erzwungener Umzug in Judenhäuser
Viele von ihnen waren Juden. Ihre Zahl nahm in den Jahren nach 1933 ab, stattdessen zogen andere in das Haus, wie Claudia Saam sagt:
"Wir haben dann festgestellt, dass einige der nachgezogenen Bewohner Menschen waren, Berliner, die in Abrissgebieten wohnten. Und zwar sind die Abrissgebiete die Gebiete, die Albert Speer ausgedeutet hat, auf denen Germania entstehen sollte. Diese Mieter mussten mit Wohnungen ver-sorgt werden. Und so ein Berliner aus einem Abrissgebiet ist auch hier in eine Wohnung reinge-zogen. In eine Wohnung von einer jüdischen Familie, die vorher ausgezogen ist."
Deren erzwungener Umzug in eins der sogenannten Judenhäuser, wo sie unter beengten Verhältnissen leben mussten, war die Vorstufe zu ihrer späteren Deportation und Ermordung. Andere jüdische Bewohner des Hauses emigrierten. So Erna und Paul Fiegel, die 1939 mit ihrem 20-jährigen Sohn Bernhard nach Sydney in Australien ausreisten. Wolf Baumann ging ihren Spuren nach:
"Ich habe dann gesucht im Internet, ob möglicherweise ein Name Bernhard Fiegel in Sydney zu finden ist und bin tatsächlich auch fündig geworden", berichtet er. "Er war Inhaber einer Firma für keramische Produkte. Es war ein Artikel über ihn zu finden, und in diesem Artikel wurde festgehalten, dass die Informationen darüber von einer Naomi Fiegel zusammengestellt worden sind, seiner Tochter."
"Sie sprachen nicht darüber und wir fragten nicht"
Auch ein Sohn des 1939 emigrierten Bernhard Fiegel tauchte auf, Paul Fiegel. Er und seine Schwester Naomi unterstützten die Spurensuche des Ehepaars aus Berlin-Charlottenburg, schickten Dokumente ihrer Familie. Und kamen schließlich selbst nach Deutschland, um das frühere Lebensumfeld und das Geschick ihrer Vorfahren und Verwandten zu erkunden. Denn davon wussten sie kaum etwas, wie sich Naomi Fiegel erinnert:
"Unser Vater und unsere Großmutter lebten zu unserer Zeit und sie starben, als wir Mitte zwanzig waren. In diesem Alter fragst du nicht viel. Wir wussten, dass einige Familienmitglieder gestorben waren. Aber wir wussten überhaupt nichts davon, dass sie hier in einem so engen Familienverband gelebt haben. Davon hatten wir keine Ahnung."
Die deutsche Herkunft der Familie spielte im Grunde keine Rolle. Die Mutter der beiden war Australierin und so wurde zuhause kaum deutsch gesprochen. Naomis Bruder Paul Fiegel hat es ähnlich erlebt:
"Wir wussten sehr wenig. Wir haben ein paar Fotos gesehen, aber wir kannten die Leute darauf nicht. Sie sprachen nicht darüber und wir fragten nicht."
Das ist nun anders. Mit Wolf Baumann und Claudia Saam spüren sie die Lebenswege ihrer Verwandtschaft auf, vor und nach der Emigration aus Deutschland. Unter den nahezu durchgängig deutsch verfassten Briefen fand sich auch ein englischer, der Naomi Fiegel sehr nahe ging. Die Eltern ihres Vaters schrieben ihn 1945 an ihre Kusine in New York.
"Sie schrieben, dass sie traurig sind. Sie sitzen an der Heizung, um sich warm zu halten. Meine Großmutter macht Blumengestecke, um sie zu verkaufen. Sie haben kein Geld. Ich meine, sie hatten Dienstmädchen, sie hatten eine Firma. Was für ein Wechsel im Leben!"
Durch die Spurensuche des Charlottenburger Ehepaares erfuhren Naomi und Paul Fiegel nun, wie die Großeltern und der Vater vor Flucht nach Australien gelebt hatten. Sie sahen die Wohnung in der Mommsenstraße 6, die Schule, in die der Vater ging. Das Haus, in dem seine Großmutter gewohnt hatte, und auch das in der Bleibtreustraße 15, wo seine Tante Helene Dannenbaum wohnte. Die nahm den geliebten Königspudel Billy auf, der nicht mit nach Australien genommen werden konnte.
Keine Chance mehr, aus Deutschland herauszukommen
Als es für sie keine Chance mehr gab, Deutschland zu verlassen, hat sie sich, wie Claudia Saam erzählt, "nochmal aufgemacht 1941, hat sich ein schönes Kleid angezogen, hat den Pudel Billy frisch frisieren lassen und hat sich einen Strauß Blumen untern Arm geklemmt und hat sich vor ihrem Haus fotografieren lassen und auch vor dem Haus der Fiegels in der Mommsenstraße 6. Diese Fotos hat sie dann beschriftet und 'mit lieben Grüßen' und 'zur Erinnerung' 1941 nach Australien geschickt an ihre Familie."
Ein Jahr darauf nahm sich die Tante das Leben. Naomi und Paul Fiegel haben ihr Grab besucht. Sie fanden heraus, wie das Leben ihrer Verwandten bedroht und vernichtet wurde. Aber auch, wie sie davor gelebt hatten. Von beidem haben sie Zeugnisse zusammengetragen. Darunter sehr persönliche Dinge wie das Tagebuch ihres seinerzeit siebzehnjährigen Vaters, das Kochbuch der Großmutter, den Koffer, mit dem die Großeltern nach Australien ausgereist sind. Ergänzt um Poster, die Wolf Baumann und Claudia Saam aus den verfügbaren Dokumenten erstellt haben, bilden sie einen besonderen Raum der Erinnerung, eine Art "Denkmal am Ort".
Im Rahmen der gleichnamigen Berliner Initiative konnten Besucher Anfang Mai diesen Raum in der Mommsenstraße 6 auf sich wirken lassen und mit den Nachkommen der aus Deutschland Vertriebenen ins Gespräch kommen. Und erfahren, dass ihre Verwandten und Bekannten in diesem Charlottenburger Viertel einst zuhause waren. Claudia Saam, die es intensiv mit Naomi und Paul Fiegel erkundet hat, erzählt:
"Wir haben mit Fiegels unter anderem versucht, das auf einer kleinen Ausschnittkarte von Charlottenburg optisch darzustellen. Haben dann aber auch gleichzeitig festgestellt, dass sie alle im vom Generalbauinspektor Speer später als judenreine Zone gekennzeichneten Gebiet in Charlottenburg gewohnt haben."