Unsere Reihe "Woran arbeiten Sie?"
Die meisten von uns haben Vorsätze für das kommende Jahr. Noch fünf Tage, dann beginnt das Jahr 2017. In den Tagen zwischen den Jahren wollen wir im Deutschlandradio Kultur von Wissenschaftlern und Kulturschaffenden wissen, wer schon handfest dabei ist, aus einem guten Vorsatz eine Tat zu machen. Das sind unsere Gesprächspartner:
Dienstag, 27.12.
Joseph Vogl, Professor für Literatur- und Kulturwissenschaften an der Berliner Humboldt-Universität, über seine Arbeite an dem Werk "Epoche des Amok"
Hark Bohm, Drehbuchautor, über seine Zusammenarbeit mit Fatih Akin
Götz Aly, Historiker, über den Antisemitismus in Europa
Mittwoch, 28.12.
Ersan Mondtag, Theaterregisseur
Thomas Mettenleiter, Vogelgrippeforscher
Felix Meyer, Musiker
Donnerstag, 29.12.
Günter M. Ziegler, Mathematiker
Stefan Selke, Soziologe
Gila Lustiger, Schriftstellerin
Freitag, 30.12.
Doris Dörrie,Regisseurin
Armin Falk, Verhaltensökonom Armin Falk
Emmanuelle Charpentier, Genforscherin
Samstag, 31.12.
Bruce Allen, Forscher am Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik
Was macht ein Amoklauf mit der Gesellschaft?
Der Kulturwissenschaftler Joseph Vogl beschäftigt sich mit den Folgen von Amoktaten. Er sagt, es verunsichere die Gesellschaft, dass Prävention, Sicherheitsmaßnahmen und die Beobachtung von "Gefährdern" die Taten nicht verhindern.
Nach Überzeugung des Kulturwissenschaftlers Joseph Vogl ist der größte Effekt von Amoktaten, dass sie die sogenannte Präventivgesellschaft in Frage stellen. Im Deutschlandradio Kultur sagte er am Dienstag, diese Verbrechen seien vor allem deshalb so skandalös, "weil offenbar alle Präventionsmaßnahmen, alle Alarmsysteme plötzlich unterlaufen wurden und uns vorgeführt wird: Selbst hochgerüstete Präventionsgesellschaften sind nicht völlig sicher."
Vogl erklärt, dass er bei der Beschäftigung mit der Frage "Wie gehen Gesellschaften mit Risiken, mit Gefahrenlagen, mit Instabilitäten um, wie wird Unsicherheit verwaltet?" beobachtet hat, dass seit den 60er-Jahren, also einer Zeit der stärkeren wirtschaftlichen Deregulierung im Westen so genannte Amoktaten gehäuft aufgetreten sind. "Man könnte also sagen: Es waren immer gehäuftere Unsicherheitsreservate in diesen Gesellschaften."
Was ist mit dem Mittelstand los?
In der Auswertung seien diese Taten dann immer sehr "symptomatisch interpretiert worden", also viel mehr als die Motiv- und Motivationslagen der Täter seien hier die Gesellschaften unter die Lupe genommen worden, in denen die Taten passierten.
"Sobald diese Taten geschehen sind, fängt die jeweilige Gesellschaft an, über sich nachzudenken: Was ist in unseren Kinderzimmern los, was ist mit Computerspielen los, was ist mit sozialen Milieus los, was ist mit dem Mittelstand los, wo sind die toxischen Milieus unserer Gesellschaft?"
Vogl schlussfolgert, dass diese Analysen darauf schließen lassen, dass die Gesellschaft hinter den Taten ein soziales Problem, ein "gewisses Krisenphänomen" ausmachen wollen.
Vogl schlussfolgert: "Diese Form eines Einbruchs von Gewalt mitten in die zivile Ordnung ist etwas, was diese Taten - in Anführungszeichen - für uns besonders attraktiv macht."
Das vollständige Interview zum Nachhören:
Nana Brink: Noch fünf Tage, dann beginnt das Jahr 2017, für viele von uns wahrscheinlich mit dem ein oder anderen guten Vorsatz, der dann erfahrungsgemäß schnell verpufft. In diesen Tagen zwischen den Jahren wollen wir hier in "Studio 9" wissen, wer denn schon handfest dabei ist, aus einem guten Vorsatz auch eine Tat zu machen. Woran arbeiten Sie gerade? Das fragen wir zum Auftakt unserer kleinen Serie Joseph Vogl, er ist Professor für Literatur- und Kulturwissenschaft an der Berliner Humboldt-Universität. 2015 erschien von ihm "Der Souveränitätseffekt" und jetzt arbeitet er an einer "Epoche des Amok". Ich grüße Sie!
Joseph Vogl: Guten Morgen, Frau Brink!
Brink: Wie sind Sie denn auf die Idee gekommen, sich mit der Geschichte des Amoklaufs beziehungsweise der Amokläufer zu beschäftigen, gab es da irgendwie einen konkreten Anlass?
Vogl: Ich beschäftige mich eigentlich sehr lange damit und ich muss gestehen, ich hatte immer falsche Thesen, ich hatte immer falsche Vorstellungen. Ich habe so viele Irrtümer in diesem Thema begangen, dass ich mir im Augenblick dachte, ich will einen letzten Versuch machen, dieses Thema zu fassen, dieses Thema auch, wenn man so will, in meinem eigenen Kopf richtigzustellen. Was mich daran interessierte, ist eine generelle Frage, ist nämlich die Frage, wie gehen eigentlich unsere Gesellschaften mit Risiken, mit Gefahrenlagen, mit Instabilitäten um. Das heißt also, wie wird gewissermaßen Unsicherheit verwaltet? Und da war für mich eine sehr überraschende Beobachtung die, dass seit den 60er-Jahren, also im Grunde seit einer Zeit, in der sich auch die westlichen Wirtschaften, insbesondere die Vereinigten Staaten dereguliert haben, dass in einem gehäuften Maße sogenannte Amoktaten aufgetaucht sind. Man könnte also sagen, es sind im Grunde immer größere Unsicherheitsreservate in diesen Gesellschaften gewesen. Das war ein ganz wichtiger Punkt, der mich interessierte. Es kommt etwas Zweites hinzu, das ebenso für mich überraschend war, dass nämlich das, was man Amoklauf nennt und was heute auch in School Shootings beispielsweise noch eine gewisse Gestalt hat, dass diese Verbrechen anders als Lustmorde, Eifersuchtsdramen, Raubmorde et cetera immer besonders symptomatisch interpretiert wurden. Man erfährt weniger etwas über die Täter, als dass man etwas über die Gesellschaften, in denen diese Taten passieren, erfährt. Das waren glaube ich zwei ganz wichtige Aspekte, die mich an diesen doch sehr, sehr seltenen Taten interessierten.
Brink: Jetzt bin ich neugierig und würde da gerne einhaken, weil Sie sagen, es sagt etwas über unsere Gesellschaft: Wenn wir mal nun diese Amokläufe, die uns ja hier in Deutschland auch beschäftigt haben – Sie haben gesagt die Schulamokläufe, ich sag da nur Erfurt, ich sage Winnenden, ich sage die vielen School Shootings, die Sie ja erwähnt haben, in Amerika –, ja, was sagt denn das dann über diese Gesellschaft?
Vogl: Lassen Sie mich das noch mal genauer sagen, sobald diese Taten geschehen sind, fängt die jeweilige Gesellschaft an, über sich nachzudenken: Was ist in unseren Kinderzimmern los, was ist mit Computerspielen los, was ist mit sozialen Milieus los, was ist mit dem Mittelstand los, wo sind die toxischen Milieus unserer Gesellschaft, was passiert in den Schulen? Das heißt also, so würde ich das gerne fassen, man hat es hier mit einer hohen diagnostischen Aktivität zu tun, die nicht bei Hausarztunfällen oder bei Eifersuchtsdramen oder sonst irgendwas passieren. Es scheint also so zu sein, als ob wir, als ob diese Gesellschaften sehr schnell in diesen Taten ein gewisses Krisenphänomen erkennen oder irgendein soziales Problem, irgendeine Implosion, der man hier plötzlich begegnet.
Brink: Ist es nicht so, irritiert das nicht in hohem Maße, sind das nicht die ganz normalen Fragen, die man sich stellt?
Vogl: Es sind die normalen Fragen, die man sich stellt. Es ist aber gleichzeitig so, dass – und das ist eine interessante Wendung –, dass man sehr wenig über die jeweiligen Täter erfährt. Das heißt also, auch die Psychiatrie, die versucht, sich diesen Taten zu nähern, gerät in ein Karussell von unterschiedlichen Diagnosen, Psychopathen, Soziopathen, dissoziative Persönlichkeitsstörung et cetera. Lassen Sie mich da einen Schritt weitergehen: Das, was glaube ich in Anführungszeichen attraktiv ist an diesen Taten, liegt darin, dass man es im Grunde in den meisten Fällen mit sehr radikalen Feindschaftserklärungen zu tun hat und dass hier offenbar meistens junge Männer eine Szene der zivilen Ordnung – sei es in Supermärkten, sei es in Schulen, sei es in Universitäten –, eine Szene der zivilen Ordnung in eine Art Kriegslandschaft verwandelt, dass also gewissermaßen quasi- oder pseudomilitärische Aktionen hier sichtbar werden. Und ich glaube, diese Form eines Einbruchs von Gewalt mitten in die zivile Ordnung ist etwas, was diese Taten in Anführungszeichen für uns besonders attraktiv macht.
Brink: Ist das dann auch eine Erklärung – weil Sie sagten, das häuft sich seit den 60er-Jahren?
Vogl: Ja und nein. Also, zunächst mal, um es noch einmal zu wiederholen: Diese Taten sind äußerst selten, die Gefährdung, durch diese Taten in irgendeiner Weise zum Opfer zu werden, ist äußerst selten. Man konnte aber etwa in den Vereinigten Staaten – und in dieser Hinsicht kann man auch davon sprechen, dass sich selbst das Verbrechen gewissermaßen amerikanisiert, auch in Deutschland –, man konnte in den Vereinigten Staaten ab den 70er Jahren, aber dann verstärkt vor allem ab den 80ern unter Reagan eine gehäufte Anzahl von Verbrechen dieser Art feststellen und hat es tatsächlich in Zusammenhang mit den sogenannten Reaganomics gebracht. Also, das heißt mit der Privatisierung von staatlichen Unternehmen, beispielsweise Postämtern, mit der Deregulierung der Arbeitswelt, mit der Privatisierung von Sozialleistungen et cetera. In den Vereinigten Staaten ist zu dieser Zeit Ausdruck entstanden, der bis heute synonym zum Amoklauf ist, das heißt "going postal". Und das bezog sich tatsächlich auf ehemalige ausgestellte Postbeamte, die zurück an ihre Arbeitsplätze gegangen sind und wild um sich geschossen haben. Und da lässt sich tatsächlich ein Zusammenhang bemerken: soziale Deregulierung auf der einen Seite und eine erhöhte Anzahl von sogenannten Workplace Crimes, also von Arbeitsplatzverbrechen.
Brink: Können wir dann diesen, wie Sie es ja genannt haben: Kriegserklärungen gar nicht begegnen? Können wir die gar nicht verhindern dann letztendlich?
Vogl: Ich glaube, es hat in all diesen Fällen einen Moment gegeben, wo man sich eingestehen musste: Es ist passiert und wir hätten es nicht verhindern können. Insofern ist eigentlich weniger die Antwort als die Frage interessant. Und ich glaube, dass wir mit den sogenannten Amokläufen ein Verbrechen vor Augen haben, das uns selbst eine ganz spezifische Gestalt unserer Gesellschaft widerspiegelt, nämlich das, was man die Präventionsgesellschaften nennen könnte. Das heißt also, Gesellschaften, die schon immer in einen gewissen Alarmzustand versetzt sind, die sich mit der Vorwegnahme von möglichen Taten, von möglichen Gefährdungen beschäftigt. Sie kennen das alle, der Ausdruck des "Gefährders" heute ist sozusagen in aller Munde. Das heißt also, wir gehen im Grunde sehr intensiv mit bestimmten Taten um, die noch nicht begangen wurden, die bestenfalls in Potenz oder in Potenzial vorliegen, in sozialen Dunkelzonen, wo auch immer. Und ich glaube, das macht für uns diese Verbrechen so skandalös, weil offenbar alle Präventionsmaßnahmen, alle Alarmsysteme plötzlich unterlaufen wurden und uns vorgeführt wird: Selbst hochgerüstete Präventionsgesellschaften sind nicht völlig sicher.
Brink: Ja, das ist ja genau die Diskussion, die wir haben auch seit dem Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt. Wobei das ja dann in dem Sinne kein klassischer Amoklauf ist, aber trotzdem bringt man ja diese Begriffe doch miteinander in Verbindung.
Vogl: Ja, es gibt keinen klassischen Amoklauf. "Amoklauf" ist ein sehr unscharfer Begriff für Taten, die, wie ich schon sagte, vielleicht eine gewisse pseudomilitärische Anmutung haben. Aber gerade in den letzten Monaten konnte man die gesamte Unschärfe dieser Terminologien, glaube ich, erkennen, das war nicht zuletzt in München der Fall, wo zunächst die Ahnung bestand, dass man es mit einem Terroranschlag zu tun hat, bis sich dann schließlich ein sogenannter Amoklauf herausgestellt hat. Geraume Zeit war das Attentat in Berlin völlig ungeklärt. Also, es sind unscharfe Grenzen, in denen Attentate, Wahnsinnstaten, Gewaltverbrechen, Amokläufe und Terrorakte irgendwo ineinander übergehen. Und ich glaube, es ist wirklich sehr schwer, da ganz klare definitorische Grenzlinien zu ziehen.
Brink: Was ist dann die wichtigste Frage, die Sie sozusagen Ihrem Buch – was ja noch nicht erschienen ist – voranstellen würden?
Vogl: Die wichtigste Frage wird tatsächlich die sein, inwieweit in unseren Gesellschaften eine bestimmte Form der Rebellion, der Revolte, des Aufruhrs, die hässlichste aller Grimasse gewonnen hat, nämlich in diesen Tagen.
Brink: Vielen Dank, Professor Joseph Vogl. Er lehrt Kulturwissenschaften an der Berliner Humboldt-Universität und arbeitet gerade an einem Buch über die "Epoche des Amok". Vielen Dank für Ihre Zeit!
Vogl: Haben Sie großen Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.