Erna Sassen: "Das hier ist kein Tagebuch"
Aus dem Niederländischen von Rolf Erdorf
Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2015
180 Seiten, 17,90 Euro, ab 14 Jahren
Weg aus der Einsamkeit
Ob Mobbing oder Amoklauf, Magersucht oder Flüchtlinge – oft verarbeiten Jugendbuch-Autoren als erste aktuelle Konfliktbereiche. Auch die Niederländerin Erna Sassen greift in ihrem neuen Roman "Das hier ist kein Tagebuch" ein aktuelles Thema auf: Depression.
Wenn jemand trotzig behauptet "Das hier ist kein Tagebuch", dann können wir davon ausgehen, dass er uns – und sich selbst – etwas vormacht! Der 16-jährige Bou schreibt drei Monate lang auf, was er denkt und fühlt, was er erlebt und woran er sich erinnert. Sein Vater hat ihn dazu verdonnert. Bou muss schreiben und jeden Abend Pergolesis "Stabat Mater" hören. Wenn er das nicht tut, lässt ihn der Vater in die Psychiatrie einweisen. Denn Bou steckt seit Monaten in einer schweren Depression und hat sich total zurückgezogen. Eine späte Folge des Selbstmords seiner Mutter vor fünf Jahren. Der Vater traut und mutet dem Sohn nun zu, selbst Verantwortung für seine Gesundung zu übernehmen.
Ein trauriges Setting entwirft Erna Sassen, doch daraus ist absolut kein trauriges Buch geworden. Denn neben den schrecklichen Erinnerungen an die lange psychische Krankheit und den schrecklichen Tod der Mutter gibt es eine ganze Menge Lichtblicke in Bous Leben. Da ist seine kleine Schwester Fussel, die kindlich und klug zugleich ins Leben schaut und Bou ebenso rührend liebt wie er sie. Dann ist da der Vater, der seinem Sohn nicht nur vertraut, sondern ihm auch die richtige "Medizin" verordnet. Dazu kommen seine verständnisvolle Großmutter, eine liebevolle Tante und schließlich die Musik.
Musik kann Schmerzen und Enttäuschung lösen und trösten
Bou hört Pergolesi und Prokofieff, Rachmaninow und Arvo Pärt in seiner Matratzengruft. Und das Unwahrscheinliche passiert: die tief traurige, bewegende Musik des "Stabat Mater" trägt den Jungen nicht weiter in die Depression hinein, sondern verschafft ihm einen Raum, in dem er seine vielen verdrängten Gefühle wieder wahrnehmen kann. Wut und Hass auf die Mutter, tiefe Trauer und schließlich auch Verzeihung. Was Therapeuten längst wissen: Musik kann Schmerzen und Enttäuschung lösen und trösten.
Trotz trauriger Themen, trotz Tiefpunkten und Tränen – Erna Sassens "Das hier ist kein Tagebuch" ist ein aufbauendes, beglückendes Buch. Nicht nur, weil Bou – auch durch seine Zuneigung zu Pauline – langsam aus dem Abgrund seiner Depression herausfindet. "Die Liebe nimmt die Furcht hinweg" – Bou erfährt diese wunderbare Einsicht am eigenen Leib.
Schreibend sich selbst auf der Spur
Bemerkenswert ist vor allem, in welch schlichter, intensiver Sprache Erna Sassen ihren Protagonisten erzählen lässt. Je knapper, desto eindrücklicher sind seine Berichte. In spröder Lakonie seziert er seine Gefühle, einfach und eindringlich berichtet er von seiner Liebe zu Pauline, die er einmal brutal verletzt hat. In berührenden Bildern schildert er seine Angst und seine Einsamkeit, und zugleich bewahrt er sich trotzdem ein Stück Selbstironie und Sarkasmus.
Dass auch das Schreiben in diesem fiktiven Tagebuch eine so wichtige Rolle spielt, ist ein zusätzliches Plus. Schreibend kommt der 16-Jährige sich selbst auf die Spur, Briefe schreibend nähert er sich Pauline wieder an. Schreiben heilt! Und lesend dürfen wir an dieser ermutigenden Entwicklung teilnehmen.