Der Wahn um die Kalorien
In der Fastenzeit haben Diäten Hochkonjunktur - und wir fangen wieder an, Kalorien zu zählen. Doch macht das überhaupt Sinn? Kaum, sagt die Historikerin Nina Mackert. Denn die Vorstellung, dass eine Zahl die Energie von Nahrung exakt ausdrückt, sei fragwürdig.
Im späten 19. Jahrhundert wurde die Kalorie als Maßeinheit für den Energiegehalt von Nahrungsmitteln eingeführt - und sie hat unsere Vorstellung davon, was "richtige" Ernährung ist, massiv verändert. Nicht unbedingt zum Guten, sagt die Historikerin Nina Mackert. Sie forscht an der Universität Erfurt zu dem Thema Ernährung, Gesundheit und soziale Ordnung.
Die Einführung der Kalorie habe zu dem Glauben geführt, dass der Wert von Nahrung eindeutig messbar ist, sagt Mackert in Deutschlandradio Kultur, "weil es suggeriert, dass die Zahl, die auf dem Essen drauf steht uns ausdrückt, wieviel Energie dieses Essen für unsere Körper hat - und quasi mit einer Handlungsaufforderung versieht, darauf zu achten."
Als Folge habe sich auch die Vorstellung des optimalen Gewichts verändert, so die Historikerin. Es sei kein Zufall, dass in dem Moment, wo die Kalorie in den USA populär wurde, auch das Dicksein erstmals massenhaft problematisiert wurde. Gleichzeitig hätten die Leute versucht, über das Zählen von Kalorien abzunehmen.
Inzwischen gebe es am Konzept der Kalorie zwar mehr Kritik als früher - dahingehend, "dass sich das eben nicht verallgemeinern lässt, weil die Körper zu unterschiedlich sind". Dennoch mache die Kalorie gerade auch wieder Karriere. Mackert: "In den USA zum Beispiel steht sie in manchen Karten auf den Speisekarten anstatt des Preises."
Das Gespräch im Wortlaut:
Nana Brink: Vielleicht haben Sie ja auch ein paar gute Vorsätze für die Fastenzeit, neben weniger Autofahren und Konsumverzicht steht ja oft das ganz sprichwörtliche Fasten oben auf der Agenda, also weniger Fett, kein Wein oder Bier, keine Schokolade. Ganz ehrlich: Mal abgesehen von gesundheitlichen Aspekten machen wir ja das oft auch, um schlicht Fett und Pfunde zu verlieren. Also auf zum fröhlichen Kalorienzählen. Schon mal überlegt, woher diese Kalorien eigentlich kommen, also nicht in den Nahrungsmitteln, sondern der Begriff? Das will ich jetzt klären mit Nina Mackert. Sie ist Mitarbeiterin am Institut für Nordamerikanische Geschichte an der Uni Erfurt, und zu ihren Forschungsschwerpunkten zählt die Kulturgeschichte und auch die Geschichte vom Essen und Ernähren. Ich grüße Sie, guten Morgen!
Die Idee vom Menschen als Verbrennungsmotor
Nina Mackert: Guten Morgen, Frau Brink!
Brink: Der Begriff Kalorie kommt ja eigentlich aus Deutschland, hat aber Karriere gemacht in den USA. Wie ist das gekommen?
Mackert: Ja, genau. Der erste, der den Begriff der Nahrungskalorie in dem Sinne benutzt hat, wie wir ihn heute kennen, war in der Tat ein deutscher Chemiker, Max Rubner. Der hatte allerdings unter anderem in seinem Labor einen Gast, Wilbur Atwater aus den USA, und der ist dann Ende des 19. Jahrhunderts in die USA gegangen und hat diese Idee mitgenommen und die ersten Versuche am Menschen gemacht in den USA.
Brink: Was heißt Versuche am Menschen?
Mackert: Er hat einen Doktoranden von sich genommen und in eine große Box gestellt, die er zusammen mit einem Physiker in dem Laborkeller aufgebaut hat, hat den Doktoranden da für fünf Tage und Nächte reingesteckt und ihn gebeten, abwechselnd Gewichte zu stemmen und schwierige Bücher zu lesen, das heißt deutsche Traktate der Physik.
Brink: Oh mein Gott!
Mackert: Und hat ihn dann mit genau abgemessenen Portionen von Essen versorgt. Es gab Meat Balls und Kartoffelpüree und Bohnen. Und 24 Stunden, rund um die Uhr beobachtet mit seinem Team, und die haben dann gemessen, während der Student dann Gewichte gehoben hat und gelesen hat, haben sie gemessen, was der an Wärme produziert, an CO2 und anderen Ausscheidungen. Und daraus haben sie dann den Kaloriengehalt der Nahrung berechnet.
Brink: Also sozusagen diese Formel berechnet. Wenn ich mir das jetzt versuche vorzustellen, wie dieser arme Mensch da in dieser Box drin hängt, dann kommt man ja darauf, dass da ein ganz eigenartiges Bild vom Körper eigentlich dahintersteckt, also sozusagen der Mensch gleich Maschine, man steckt was rein, und Energie kommt raus.
Mackert: Genau. Das ist das Bild vom Menschen als Verbrennungsmotor. Das hat sich im 19. Jahrhundert etabliert, beruhte auf den thermodynamischen Gesetzen, die sich in dem Zeitraum etabliert haben. Und man ging eben davon aus, dass wirklich der Input, wie Sie gesagt haben, dem Output entspricht. Die Nahrung geht rein, die Arbeit geht raus.
Und das bedeutete eben, das suggerierte, dass Essen sich genau vergleichen lässt und dass eben nicht nur genau gesagt werden konnte, wie viele Kalorien das Essen hat, sondern auch, wie viele Kalorien Körper brauchen, um bestimmte Tätigkeiten zu verrichten.
Mit der Einführung der Kalorie wurde Dicksein zum Problem
Brink: Aber was macht das mit uns, wenn man so ein Menschenbild hat?
Mackert: Das macht eine ganze Menge mit uns, weil es uns suggeriert, dass die Zahl, die auf dem Essen drauf steht, uns ausdrückt, wie viel Energie dieses Essen für unseren Körper hat und uns quasi mit einer Handlungsaufforderung versieht, darauf zu achten, weil die Kalorie suggeriert, dass das eben so eindeutig messbar ist.
Brink: In Zeiten der Selbstoptimierung kann man dann ja sagen, dass diese Kalorie auch dann unseren Umgang mit dem eigenen Gewicht prägt?
Mackert: Also ich halte es für keinen Zufall, dass in dem Zeitraum, in dem die Kalorie in den USA populär wurde, nicht nur Dicksein auch massenhaft problematisiert wurde zum ersten Mal, sondern die Leute eben angefangen haben, zu versuchen, mit der Kalorie abzunehmen. Der erste Diätratgeber, der in den USA richtig populär war, der Kalorienzählen empfohlen hat, da stand dann richtig drin, wenn ihr dicke Leute auf der Straße seht, geht hin und fordert die auf zum Kalorienzählen.
Brink: Aber man kann ja auch sagen, dass die Kalorie dann etwas auch über die Qualität des Essens aussagt, weil eigentlich ist es ja eigentlich egal, was man isst, Hauptsache, es hat dann genug Energie.
Mackert: Genau. Also die hat zu einem Zeitpunkt – inzwischen ist es ein bisschen anders, würde ich sagen, aber zu einem gewissen historischen Zeitpunkt hat sie auch den Kohlenhydrat-, Protein- und Fettgehalt des Essens sozusagen in den Hintergrund gedrängt und eben die Aussage mit sich gebracht, der wahre Wert der Nahrung lässt sich an dieser Zahl messen.
Brink: Sie haben es angedeutet schon mal eben gerade in Ihrer Antwort, also das Kalorienzählen steht nicht mehr so im Vordergrund wie in den letzten Jahrzehnten. Was ist da passiert, was hat sich geändert?
Mackert: Zurzeit gibt es ja schon – also es gibt gegenwärtig mehr Kritik als früher am Konzept der Kalorie, dass sich das eben nicht verallgemeinern lässt, weil die Körper zu unterschiedlich sind. Dann gibt es ja, das kennen Sie sicher, die Rede von den guten und den schlechten Kalorien, je nachdem, von welchem Lebensmittel die Rede ist.
Ganz gegenwärtig würde ich aber sogar sagen, dass die Kalorie wieder einmal mehr Karriere macht, mehr Momentum hat als vorher. In den USA zum Beispiel steht sie in manchen Restaurants auf den Speisekarten statt des Preises. Und eine der letzten Amtshandlungen von Michelle Obama war auch, neue Labels einzuführen für das Essen, für verpackte Lebensmittel, wo die Kalorie deutlich größer draufsteht als vorher.
Die Kalorie als Argument in der Sozialpolitik
Brink: Ist dann, wenn Sie – Sie haben ja – wir sprechen jetzt über die Kalorie sozusagen auch als kulturelle Angelegenheit. Wie hat die denn unsere Vorstellungen wirklich geändert, oder andersherum gefragt, war sie eine gute Idee?
Mackert: Das ist immer schwer, eine Historikerin zu fragen …
Brink: Tu ich aber.
Mackert: Was ich bemerkenswert finde, ist, wie die Kalorie während ihrer Erfindung im Kontext von Sozialpolitik stand. Also was sie ermöglicht hat, an Sozialpolitik zu regulieren. Weil dieser Atwater, der gleiche Chemiker, der die Versuche durchgeführt hat, war auch Teil einer Gruppe von ErnährungswissenschaftlerInnen, die durch die Lande gefahren sind in den USA und die Ernährung der Arbeiterklasse gemessen haben oder mit Hilfe der Kalorie aufgenommen haben, und das zu einem Zeitpunkt, zu dem es große Debatten gab um Hunger, und in dem die Ernährung als soziale Frage diskutiert wurde.
Und da konnten die dann mit der Kalorie im Rücken sagen, Hunger ist euer Problem, weil ihr euch falsch ernährt. Ihr könntet euren Kalorienbedarf genauso gut mit Haferflocken decken, was kauft ihr auch das teure Fleisch.
Brink: Und das hat sich ja heute geändert. Oder das würden Sie auch problematisieren?
Mackert: Ja.
Brink: Nina Mackert, Mitarbeiterin am Institut für nordamerikanische Geschichte an der Uni Erfurt und Fachfrau in Sachen Kalorien. Vielen Dank für Ihre Geschichte der Kalorie in den USA und auch bei uns.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.