Ernst Piper: Rosa Luxemburg. Ein Leben
Blessing, München 2018
832 Seiten, 32 Euro
"Ihre Gedanken sind sehr aktuell"
28:45 Minuten
Verhasst, verehrt, vergessen: Vor 100 Jahren wurde Rosa Luxemburg ermordet. Für viele war sie Visionärin einer gerechten Welt, für andere eine gefährliche Demagogin. Ihre Ideen aber sind aktuell wie nie, meint der Historiker Ernst Piper.
Rosa Luxemburg wusste, wie man sich Gehör verschafft. Als mitreißende Rednerin und scharfsinnige Theoretikerin kämpfte sie zeitlebens für ihre Utopie von einer gerechten Gesellschaft. Zu einer Zeit, als Politik fast ausnahmslos Männersache war, wurde sie in der SPD zur wichtigsten Vordenkerin des linken Flügels – und das, obwohl sie als Frau gar nicht Parteimitglied werden, geschweige denn Ämter oder Mandate übernehmen konnte.
"Sie hat ein Leben lang für eine Partei gekämpft, die sie nicht einmal wählen durfte", sagt ihr Biograf Ernst Piper. Dabei stritt Luxemburg innerhalb der SPD, etwa mit dem einflussreichen Parteistrategen Karl Kautsky, durchaus heftig um den richtigen Kurs zur Verwirklichung des Sozialismus. "Die Revolution ist großartig, alles andere ist Quark", sagte sie 1906 in einer Kölner Rede, ermutigt durch die Revolution im russischen Zarenreich ein Jahr zuvor, wo die Arbeiterbewegung den Kaiser durch Massenstreiks in Bedrängnis gebracht und ihm einige Rechte und Freiheiten abgetrotzt hatte. Der reformorientierte Kurs der SPD erschien Luxemburg demgegenüber allzu zögerlich.
Alle Räder stehen still – ob die SPD das will?
"Sie hat gesagt: Wir diskutieren hier immer nur über den Massenstreik", erklärt Ernst Piper, "und Kautsky sagt, wir sind zwar eine revolutionäre aber keine Revolution machende Partei. Aber wir müssen jetzt doch mal Theorie und Praxis zusammenbringen. Irgendwann, liebe Leute, müsst ihr auch mit eurer Programmatik mal Ernst machen. - Denn sie hatte den berechtigten Verdacht, dass der reformistische Flügel innerhalb der SPD, der immer stärker wurde, den Massenstreik de facto nicht wollte. Dieser Konflikt hat dann später auch zur Spaltung der Partei geführt."
Im Dezember 1918 verfasste Rosa Luxemburg das Programm des Spartakusbundes, der im Januar 1919 in der Kommunistischen Partei Deutschlands aufging. Darin brachte sie ihr Vertrauen in die historische Aufgabe der Arbeiterschaft zum Ausdruck. "Die proletarische Revolution", schrieb Luxemburg, "ist kein verzweifelter Versuch einer Minderheit, die Welt mit Gewalt nach ihrem Ideal zu modeln, sondern die Aktion der großen Millionenmasse des Volkes, die berufen ist, die geschichtliche Mission zu erfüllen und die geschichtliche Notwendigkeit in Wirklichkeit umzusetzen."
Keine Revolution von oben
Luxemburg wollte keine Revolution "von oben". Lenins Konzept einer führenden Kaderpartei lehnte sie ab. Sie glaubte aber auch nicht an eine sozialistische Reform. Ihre Hoffnung galt der Revolution "von unten" mit dem Ziel einer sozialistischen Räterepublik. Dabei bezog sie sich auf Karl Marx‘ Vorstellung von einer "permanenten Revolution".
"Der Begriff der ‚permanenten Revolution‘ bezieht sich darauf, dass das Handeln des Proletariats in der Revolution ein permanenter Lernprozess ist", erläutert Piper. "Luxemburgs Idee von der permanenten Revolution hängt mit ihrem prinzipiellen Widerspruch zum Modell der Kaderpartei zusammen, die beschließt, wie die Revolution zu funktionieren hat, und dann anschließend an die Arbeitermassen die Befehle ausgibt. Das war das genaue Gegenteil dessen, was sie wollte."
Gegen nationale Alleingänge
Vor 100 Jahren, am 15. Januar 1919, wurden Rosa Luxemburg und ihr Mitstreiter in der KPD-Führung Karl Liebknecht in Berlin von deutschen Freikorps-Soldaten ermordet. Ernst Piper sieht Luxemburgs geistiges Erbe vor allem in ihrem unbedingten Bekenntnis zum Internationalismus:
"Sie sagt: Wir müssen das Zeitalter der Nationalstaaten überwinden, wir wollen ja eine proletarische Weltrevolution. Wir wollen nicht Nationalstaaten restituieren, wo dann wieder die Bourgeoisie an der Macht ist, sondern wir wollen die Arbeiterklasse emanzipieren. Und das ist natürlich gerade in der heutigen Zeit aktueller denn je: Es gibt keine Alternative dazu, sich internationaler zu organisieren. Der Kapitalismus tut das sowieso. Dieser Globalisierungsprozess hat ja längst stattgefunden. Und wenn man dem etwas entgegensetzen will, dann geht das natürlich nicht, wenn einzelne Nationalstaaten agieren."
Engagement als permanenter Lernprozess
Rosa Luxemburgs Vorstellung von Selbstverwirklichung durch den politischen Prozess sei immer noch inspirierend und ermutigend, sagt Ernst Piper. Auch wenn sich die politischen Verhältnisse in den letzten 100 Jahren sehr verändert haben.
"Im 20. Jahrhundert, dem Zeitalter der Ideologien, haben wir viele politische Bewegungen gehabt, die gesagt haben: Der Weg, der vor uns liegt ist schwierig und unerfreulich, aber das Endziel ist ganz toll. Und da sind die Leute inzwischen verständlicherweise sehr skeptisch. Deshalb ist Luxemburgs Gedanke, dass man sich engagiert, aktiv wird und auch dass dieser Prozess ein permanenter Lernprozess sein soll, sehr aktuell"
Ihre philosophischen Schriften sind eine Entdeckung wert
Rosa Luxemburg hat sich als Berufsintellektuelle und politische Aktivistin mit Mut und Leidenschaft gegen unzählige Widerstände behauptet. Da äußerlich von kleiner Statur, stieg sie bei ihrem ersten öffentlichen Auftritt vor der sozialistischen Internationale 1893 auf einen Stuhl, um überhaupt gesehen zu werden. Da war die Studentin der Staatswissenschaften, die zuvor schon Kurse in Philosophie, Botanik und Rechtswissenschaften belegt hatte, gerade 22 Jahre alt.
Die Führer der europäischen Arbeiterbewegung merkten sich ihren Namen. Ihre wenig bekannten philosophischen Schriften sind gerade heute eine Wiederentdeckung wert.