Ernstfall der Republik

Von Michael Stürmer |
Als Gerhard Schröder sich als Kanzler bewarb, da versprach er, die Zahl der registrierten Arbeitslosen auf dreieinhalb Millionen zu senken. Andernfalls, so verpfändete er sein Schicksal und das seiner Regierung, seien sie nicht wert zu regieren.
Er verknüpfte, mit anderen Worten, die Existenz der Regierung mit dem Rückgang der Massenarbeitslosigkeit. Er spielte mit der Frage der Legitimität der rot-grünen Regierung, und dahinter mit der Legitimität der Bundesrepublik Deutschland. Dass Schröder ungeachtet der mittlerweile viel höheren Schreckenszahlen keine Anstalten macht, sich nach Hannover zurückzuziehen, ist eine Sache. Eine ganz andere, dass das Gemeinwesen sich längst in ernsten Prüfungen befindet. Es geht mittlerweile um mehr als das Schicksal einer bestimmten Koalition und Regierung. Es geht um die Frage, ob der Staat noch schaffen kann, was er verspricht und, wenn nicht, wie es dann weitergeht.

Die Demokratie ist seit ihren Anfängen gegründet auf das Recht auf die Suche nach dem Glück. So hat es die Aufklärung vor 200 Jahren formuliert: The right to the pursuit of happiness. Das Grundgesetz, welches die Würde des Menschen und die freie Entfaltung der Persönlichkeit zur Rechtfertigung des Staates erhebt, steht in der großen Tradition dieses Glücksversprechens. Zugleich aber hat sich die 2. deutsche Republik, nicht nur in den Studierstuben der Historiker, sondern noch viel mehr im Deutschen Bundestag, immer wieder umgeblickt, ob die Wiedergänger von Weimar kommen und die alten Gespenster am Tisch Platz nehmen. Alles diente dem Zweck, die unheimlichen Gäste fernzuhalten, die jetzt da sind, um zu bleiben.

Die Soziale Marktwirtschaft suchte den Ausgleich zwischen sozialem Frieden und unternehmerischer Freiheit und wies dabei nicht nur Gewerkschaften und Arbeitnehmern eine Schlüsselrolle zu, sondern verpflichtete auch den Staat, die Gleichgewichte immer neu zu tarieren. Doch Gewerkschaften und Arbeitgeber, wenn sie auch sonst über 1000 Dinge zerstritten waren, waren doch in einem einig: Sich auf Kosten des Staates und des Steuerzahlers lieber früher als später zu einigen, Fehlentscheidungen und Zukunftslasten abzuwälzen auf die Allgemeinheit. Die politischen Parteien wollten nicht Spielverderber sein, und konnten es auch nicht. Denn es ging um Stimmen und damit um Macht.

Notfalls lieh der verblichene Lord Keynes dem Geldausgeben und Schuldenmachen, wenn die Lage es erforderte, eine halbe Stimme. Die andere halbe, wo der britische Ökonom zum Sparen in guten Zeiten mahnte, wurde wenig gehört, noch weniger befolgt. Keynes hatte mit seiner Theorie die Folgerungen gezogen aus der Großen Depression seit 1929, die den Demokratien den Boden wegriss. Der klassischen Volkswirtschaftslehre, wie sie noch Reichskanzler Brüning 1930 /32 exekutierte, setzte er eine politische Rettungslehre entgegen. In den Vereinigten Staaten war es der "New Deal", mit dem Präsident Franklin Roosevelt eine gänzlich neue Sozialpolitik und staatliche Arbeitsbeschaffung ins Leben rief. In Deutschland und Japan war es Aufrüstung, die alsbald Vollbeschäftigung und steigende Löhne nach sich zog und entsprechend Zustimmung zur Führung. Doch in den meisten Staaten Europas zog sich das zermürbende Elend bis in die frühen Jahre des Zweiten Weltkriegs.

In Bretton Woods waren es dann 1944 die Amerikaner, die Lehren zogen aus dem Nullsummenspiel des Wirtschaftsnationalismus der Zwischenkriegszeit, aus dem Zusammenbruch der Weltwirtschaft und aus der totalitären Versuchung. So entstanden Rahmen und Grundlage für die Prosperität der Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg, eingeschlossen Marshall-Plan und deutsches Wirtschaftswunder.

Lange ging es gut und sehr gut. In der ersten Ölpreiskrise 1973/74 allerdings wurde es kritisch. Da verband Kanzler Helmut Schmidt die deutsche Geschichtsangst mit dem Griff in die Vollen: "Lieber fünf Prozent Inflation als fünf Prozent Arbeitslosigkeit." - So als ob das die Alternative sei. Doch Schmidt warnte auch: "Ende der Fahnenstange" - doch es war zu spät. Ansprüche und Versprechen der Sozialpolitik stammten aus den guten Jahren, als die Kühe fett waren. Als aber die mageren Kühe ans Land stiegen und die fetten fraßen, da erwies sich: Es war kein weiser Josef in Ägyptenland gewesen, und kein Pharao, der gegebenenfalls mit harter Hand die Kornscheuern füllen ließ.

Die Bundesregierung ist entsetzt über die Hiobsbotschaften vom Arbeitsmarkt. Heimlich geht der Blick zurück in die Große Depression der 30er Jahre mit ihren Folgen, Auflösung der Weimarer Republik und Aufstieg der Diktatur. Vieles ist anders, Geschichte wiederholt sich nicht. Doch längst ist das Gemeinwesen in einem gefahrvollen Zwiespalt: Künftige Generationen noch mehr zu belasten, gefährdet die Zukunft; die heutige Lage der "ruhigen Hand" zu überlassen, die Gegenwart.

Der 1938 in Kassel geborene Michael Stürmer studierte in London, Berlin und Marburg, wo er 1965 promovierte. Nach seiner Habilitation wurde er 1973 ordentlicher Professor für Neuere und Neueste Geschichte, Sozial- und Verfassungsgeschichte; außerdem lehrte er u.a. an der Harvard University, in Princeton und der Pariser Sorbonne. 1984 wurde Stürmer in den Vorstand der Konrad-Adenauer-Stiftung berufen und zwei Jahre später zum Vorsitzenden des Forschungsbeirates des Center for European Studies in Brüssel. Zehn Jahre lang war er überdies Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik. Zu seinen Veröffentlichungen zählen: "Das ruhelose Reich", "Dissonanzen des Fortschritts", "Bismarck - die Grenzen der Politik" und zuletzt "Die Kunst des Gleichgewichts. Europa in einer Welt ohne Mitte". Im so genannten Historikerstreit entwickelte Stürmer die von Habermas und Broszat bestrittene These von der Identität stiftenden Funktion der Geschichte. Stürmer, lange Kolumnist für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung", schreibt jetzt für die "Welt" und die "Welt am Sonntag".