Erös: Großteil der Entwicklungshilfe versickert

Reinhard Erös im Gespräch mit Birgit Kolkmann |
Der Gründer der Kinderhilfe in Afghanistan, Reinhard Erös, hat dem Westen eine Mitschuld an der Korruption im Land gegeben. Inzwischen liege der Anteil der Korruption bei staatlichen Aufträgen bei weit über 50 Prozent, sagte Erös.
Birgit Kolkmann: Per Esel wurden die Wahlurnen auch in die entlegensten Dörfer Afghanistans gebracht, während die Taliban überall im Lande versuchen, die Wähler einzuschüchtern und sie zum Wahlboykott zu bewegen. Zugleich landeten Raketen im Garten des Präsidentenpalastes, verüben Selbstmordattentäter Anschläge auf die ISAF-Truppen, das Signal soll klar sein: Wer wählen geht, gefährdet sein Leben. Keine 24 Stunden sind es bis zum Beginn der Präsidentenwahlen, viele Wahllokale werden vielleicht gar nicht öffnen können. Dr. Reinhard Erös war Oberstarzt bei der Bundeswehr und ist Gründer der Organisation Kinderhilfe Afghanistan, die im Süden des Landes zwei Dutzend Schulen und Gesundheitsstationen betreibt. Ihn begrüße ich in der "Ortszeit". Guten Morgen, Herr Erös!

Reinhard Erös: Guten Morgen, Frau Kolkmann!

Kolkmann: Haben denn die Taliban die Menschen so eingeschüchtert, dass viele nicht zur Wahl gehen werden?

Erös: Nein, um Gottes Willen! Die Anzahl der Anschläge hat sich in den letzten Tagen vielleicht verdoppelt, vielleicht verdreifacht im Vergleich zu früher. Das ist so, als wäre in Deutschland die Anzahl der Autounfälle auf den Autobahnen verdoppelt, da würde deshalb auch keiner zögern, in sein Auto zu steigen und morgens loszufahren. Also die Versuche der Taliban, die Menschen einzuschüchtern oder auch andere Signale damit zu senden, werden im Sand verlaufen. Es werden eine überwältigende Mehrheit der Afghanen sich an dieser zweiten Präsidentenwahl in der Geschichte dieses Landes beteiligen.

Kolkmann: Wenn die Menschen das tun, was ihre Stammesführer ihnen sagen, also wenn die sagen, geht wählen, gehen Sie wählen, und wenn die sagen, wählt den, wählen sie auch den?

Erös: Nun ja, wir sprechen hier in Afghanistan nicht von Wahlen, die in ihrer Struktur oder in ihrem Rechtsdemokratieverständnis mit denen eines Staates wie Deutschland vergleichbar wären. In Afghanistan wählt man denjenigen oder diejenige, von dem oder von der man erwartet, dass sie für einen selber, für die eigene Familie, das Dorf, den Stamm die größten Wohltaten, die größten Vorteile bringt. Das Wahlverhalten orientiert sich nicht an Parteiprogrammen, die es dort sowieso nicht gibt, oder auch nicht an anderen Gegebenheiten, was die Person betrifft, sondern ausschließlich bringt der, wenn er im Präsidentenamt sitzt, mir mehr Vorteile, als wenn ich den anderen wähle.

Kolkmann: Es geht also irgendwie auch um Vorteilsnahme. Präsident Karsai steht ja zum Beispiel auch unter Korruptionsverdacht, besser gesagt seine Familie, sein Bruder. Das ist ja ein ganz großes Thema im Wahlkampf und überhaupt. Der ehemalige Handelsminister Farhang sagte vorgestern hier im Deutschlandradio, auch die Hilfsorganisationen seien da mitverantwortlich. Was haben die mit Korruption zu tun, wie ist Ihre Einschätzung, Sie helfen ja auch?

Erös: Zur Korruption gehören bekanntlich immer zwei, einer, der gibt, und einer, der nimmt. Und als die westliche Welt 2001/2002 beschloss, nach Afghanistan zu gehen, dort die Taliban zu verjagen und das Land wieder aufzubauen mit viel, viel Geld, nahm man auch sehr, sehr viel Geld in die Hand, und damit begann das Unheil in Afghanistan mit der Korruption. Das heißt, es war am Anfang fast ausschließlich der Westen, es waren die großen UN-Organisationen, es waren die Staaten, die, oft mit geschlossenen Augen das Geld wahllos verstreut haben oder ganz bewusst auch diese 10 oder 20 Prozent, so viel waren es am Anfang, an Korruption bezahlt haben. Inzwischen liegt die Korruption bei staatlichen Aufträgen oder suprastaatlichen Aufträgen, die es im Lande gibt, bei weit über 50 Prozent. Wir wissen, dass selbst deutsche Organisationen, die etwa in Afghanistan Straßen bauen, von dem Geld, was die Straße kosten soll, also was auf der Abrechnung steht, 20, 30 Prozent an die Taliban geben, damit sie überhaupt gesichert die Straße bauen dürfen, und weitere 50 Prozent an den jeweiligen Gouverneur und so weiter. Wir kennen auch klare Zahlen, die den Gesamtbetrag etwa der deutschen Entwicklungshilfe betreffen. Wir haben aus dem Jahr 2006 Zahlen, dass von den 80 Millionen Euro, die 2006 aus Deutschland nach Afghanistan gingen, maximal 25 Prozent bei Projekten ankamen. Die restlichen 50, 55 Millionen Euro sind versickert, sind verschwunden in Korruption, horrenden Gehältern und sogenannten Verwaltungskosten.

Kolkmann: Hat die Bundesregierung darauf reagiert?

Erös: Ja, sie hat den Betrag erhöht von 80 Millionen auf 130 Millionen.

Kolkmann: Dann kann ja noch mehr versickern.

Erös: Da kann noch mehr versickern, und da ist auch mit Sicherheit mehr versickert.

Kolkmann: Sie sprachen eben davon, dazu gehört einer, der gibt, und einer, der nimmt. Gibt es denn auf der nehmenden Seite durchaus auch die Situation, dass man nehmen muss, weil man sonst nicht leben kann?

Erös: Nun, auf der Ebene des einfachen Polizisten, wenn man mal so ein typisches Beispiel nimmt, weil Polizei in Afghanistan eine wichtige Rolle spielen müsste: Ein Polizist, der mit fünf, sechs Kindern im Monat 70, 80 Dollar verdient, auch noch ein hohes Risiko eingeht, dass er die nächsten zwei Jahre nicht überlebt, sondern erschossen wird, da kann man sich vorstellen, dass er davon nicht leben kann und auch nicht leben will, und dass er deshalb bereit ist und alles tut, um mehr zu verdienen. Das kann entweder sein, dass er sich bei den Taliban zusätzlich anheuert oder dass er eben kassiert. Und das geht dann rauf bis zu den Polizeigenerälen, eigentlich in allen Ebenen. Also ich kenne in Afghanistan relativ wenig Behörden oder Strukturen in den Behörden, in denen nicht brutal korrumpiert wird. Das haben wir aber noch mal als Westen, der am Anfang das Geld gebracht hat und immer noch bringt, mindestens mit zu verantworten. Wenn wir mit einem Finger auf Karsai oder seine Regierung zeigen, dann zeigen bekanntlich vier Finger zurück auf einen selber.

Kolkmann: Wie kann man dieser Situation beikommen und wie leben junge Menschen mit einer solchen Perspektive auch von einer wirtschaftlichen Zukunft? Sie bilden sie ja aus an Ihren Schulen. Wie stellen die sich ihre Zukunft vor?

Erös: Ja, das ist ein ganz, ganz großes Problem. Die Jugend weiß davon, sie erfährt’s natürlich in der Öffentlichkeit, sie erfährt’s auch zu Hause, sie erfährt’s auch im täglichen Leben, dass die Korruption im Prinzip das übliche und normale Mittel ist. Und daran haben die sich inzwischen schon fast gewöhnt. Das macht es uns als kleine Hilfsorganisation ausgesprochen schwer, dort nicht mit Korruption zu arbeiten. Nun tun wir uns als Kinderhilfe Afghanistan etwas leichter, uns nicht an der Korruption zu beteiligen, weil wir dort seit über 20 Jahren tätig sind. Mitte der 80er-Jahre, während der sowjetischen Besatzung, habe ich dort unten angefangen, unter Kriegsbedingungen, unter Lebensgefahr, für die Afghanen als Arzt zu arbeiten, das wissen sie, und deshalb ist die Reputation auch jetzt noch so, dass man mir dort nicht zumutet, an der Korruption uns zu beteiligen. Andere Organisationen, deren Mitarbeiter nur sehr kurz dort sind, die dann wieder ausgewechselt werden nach einem halben Jahr, nach einem Jahr, die natürlich ihre Projekte, die sie in dieser Zeit erledigen sollen, auch erledigen wollen, die tun sich da wesentlich härter.

Kolkmann: Vielen Dank! Das war Reinhard Erös, Oberstarzt ehemals bei der Bundeswehr und Gründer der Organisation Kinderhilfe Afghanistan, die im Süden des Landes tätig ist. Ich danke Ihnen für das Gespräch!

Erös: Ich bedanke mich, Frau Kolkmann!
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