"Erotische Gefühle sehen, das kann man nicht"
Der Medizinethiker Giovanni Maio warnt im Zusammenhang mit der Neurobiologie und dem Erkennen pädophiler Neigungen vor einem "Neuro-Hype". In ihrer Anschaulichkeit hätten die Bilder von Gehirnregionen eine "übertölpelnde Kraft", die den komplexen Beziehungen von Hirnaktivität und Handlungsweisen nicht gerecht werde, sagte er.
Katrin Heise: Pädophilie ist unser Thema beziehungsweise die Erkennung, frühzeitige Erkennung dessen. Immer mehr Menschen wenden sich an Ärzte, weil sie wissen wollen, ob sie pädophil veranlagt sind oder nicht. Das Problem ist nur, es gibt zwar Tests, aber die sind in einigen Fällen nicht zuverlässig. Die Patienten bleiben also verunsichert. Medizinern an der Kieler Universitätsklinik ist da wahrscheinlich nach jahrelanger Forschung ein Durchbruch gelungen, denn sie können Pädophilie unter Magnetresonanztomografen erkennen. Auf diesen MRT-Bildern sehen sie, welche Gehirnregionen bei Pädophilen besonders aktiv sind, wenn sie Fotos von Kindern sehen.
Und jetzt begrüße ich Giovanni Maio, er ist Direktor des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin in Freiburg. Guten Tag, Herr Maio!
Giovanni Maio: Guten Tag, Frau Heise!
Heise: Straftaten verhindern, das klingt doch sehr wünschenswert. Was halten Sie von der Methode?
Maio: Natürlich ist das wünschenswert und man muss dann natürlich darüber nachdenken, wie man dieses Ziel am besten erreichen kann. Ganz sicher nicht dadurch, dass man eine Rasterfahndung vornimmt, denn es geht ja darum, dass diese Menschen, die vielleicht in sich schon spüren, dass sie eine Veranlagung haben, dass sie einen Zugang bekommen zu Medizin, dass sie Ärzte finden, die ihnen helfen wollen, darum muss es ja gehen, eine Beziehung zu diesen Menschen herzustellen.
Heise: Also, Sie sehen ein Problem in diesem bildgebenden Verfahren?
Maio: Nun, das Problem ist nicht das bildgebende Verfahren. Ich denke, da muss man zunächst einmal sehr vorsichtig sein, was die Interpretation dieser Bilder angeht. Man muss natürlich schon überlegen, was sieht man da eigentlich. Man sieht bunte Bilder, Sie sehen sie anschaulich an und sie haben natürlich auch übertölpelnde Kraft, weil sie durch diese Anschaulichkeit so suggestiv sind. Und man meint, man könnte da Denken sehen oder hier in diesem Fall Gefühle sehen, erotische Gefühle sehen, das kann man nicht. Man kann nur sehen, dass in diesen Arealen eben eine Aktivität da ist. Aber was für eine Aktivität? Man misst ja nur den Sauerstoffgehalt zum Beispiel, man muss ... Man kann nichts über die Inhalte sagen der Gefühle. Man weiß nur, wo und wie intensiv. Aber es kann zum Beispiel auch, es können ganz andere Gefühle sein, das können ja auch ...
Heise: ... und erst recht kann man ja nicht sagen, ob dieses Stimuliertsein, dass daraus folgert, diese Stimulation auch zu suchen und ihr nachzugeben?
Maio: Ja, das ist eben der zweite Punkt. Man kann natürlich schon sagen, dass da sich im Gehirn sich etwas tut, wenn diese Bilder gezeigt werden. Was genau sich tut, wissen wir nicht, aber allein, dass sich da was tut, bedeutet ja nicht, dass wir sagen können, oh, dieser Mensch ist jetzt gefährlich. Diese Kluft, die muss man aushalten. Aus den Bildern folgt nicht, dass wir vorhersagen können, was diese Menschen tun werden. Und da, glaube ich, müssen die therapeutischen Ansätze doch starten, dass die Medizin versucht, Kontakt zu diesen Menschen zu finden, um ihnen frühzeitig zu helfen. Aber nicht dadurch, dass sie quasi durch die Röhre geschleust werden mit dem Effekt möglicherweise, dass am Ende diese Menschen ja auch ein Stück weit sich abgestempelt fühlen oder auch von außen natürlich kritisch beäugt werden. Das kann auch zu einer Selbststigmatisierung führen.
Heise: Wenn ich Sie richtig verstehe, dann sind Sie auch in Zukunft, also, wenn beispielsweise sicherere Verfahren noch entwickelt würden, bildgebende Verfahren, wären Sie trotzdem nicht der Meinung, dass diese Diagnose zu Recht zu stellen ist?
Maio: Nein, also die Diagnose, dass wir sagen, durch die Bilder wissen wir entweder, er war es oder er wird mal Straftäter sein, das lässt sich, aus den Bildern wird sich das nie herauslesen können. Sie werden nie Bilder haben, die etwas über die Zukunft des Handelns sagen werden.
Heise: Aber die Männer, das haben wir auch gehört, suchen nach Aufklärung über ihre eigenen Neigungen, die ihnen ja, so im Untergrund vielleicht bewusst sind. Hilfe verwehren kann man ihnen aber auch nicht?
Maio: Nein, im Gegenteil. Nein, im Gegenteil. Also, ich finde, man muss die Medizin so verstehen, dass sie ein Hilfsangebot macht und natürlich sich interessieren muss für diese Männer. Und wenn es Männer gibt, die nur latent dieses Gefühl haben, dann muss die Medizin offene Tore haben und diese Menschen aufnehmen und mit ihnen sprechen.
Aber immer mit dem Gestus, ich möchte dir helfen, und nicht mit dem Gestus, ich überführe dich jetzt. Das darf keine Rasterfahndung sein. Und man kann natürlich sagen, wir machen das alles nur auf freiwilliger Basis. Das Problem ist nur, wenn Sie das nur auf freiwilliger Basis machen, dann haben Sie irgendwo ein Verfahren und ein Mensch sagt, nein, ich möchte diese Bilder nicht, dann ist das quasi schon eine Vorverurteilung. Das ist dann für ihn dann ... Allein, dass er diese Bilder verweigert, ist er quasi schon in einen Generalverdacht verstrickt. Und deswegen ... Allein das Angebot dieser Untersuchungen ist ja nicht unproblematisch. Also, das wird auch nicht allein freiwillig bleiben, wenn man sagt, man könnte da detektieren.
Deswegen meine ich, man muss zunächst einmal schauen, dass man diesen Menschen hilft, dass die Medizin frühzeitig Zugang zu diesen Menschen finden wird und weg von diesem Hinweis auf Strafverfolgung. Das darf auf keinen Fall sein.
Heise: Giovanni Maio, Medizinethiker, zu Erkenntnissen der Neurobiologie im Bezug auf pädophile Neigungen. Herr Maio, die Neurobiologie ist in den letzten Jahren ja sehr in den Vordergrund getreten. Sie wird ins Feld geführt, wenn es um Aggressionen geht, greift ein in Erziehungsfragen bei unkonzentrierten Kindern, findet in der Kriminologie Beachtung, denn man meint, Geisteszustände neurowissenschaftlich untersuchen zu können. Wenn ich Sie richtig verstehe, kritisieren Sie diese Entwicklung aber auch insgesamt?
Maio: Ja, die kritisiere ich schon. Also nicht in dem Sinne, dass wir keine Forschung betreiben dürfen, sondern in dem Sinne, dass die Ergebnisse überinterpretiert werden und auch von Forschern oft natürlich in einer Weise vermittelt werden, dass man meint, man hätte hier plötzlich den Geist entdeckt. Und das muss man natürlich schon zurückweisen und anerkennen, dass das Gehirn natürlich nicht quasi ein Organ ist, das den Menschen steuert. Wir haben das Menschenbild vor Augen, das quasi sehr mechanistisch geprägt ist, immer noch, und wir denken, da ist ein Gehirn und aus dem Gehirn heraus macht der Mensch bestimmte Dinge.
Wir müssen das Gehirn als ein Beziehungsorgan betrachten, als ein Organ, das eben nur in der Beziehung nach außen irgendetwas leistet, und der Mensch dann dennoch seine Freiheit hat. Ich denke, es ist ein Reduktionismus, wenn wir meinen, anhand von Hirnbildern irgendwas über den Menschen aussagen zu können. Weil der Mensch ... Auch das, was im sich Gehirn sich abspielt, ist Resultat der Erfahrungen, Resultat dessen, was der Mensch empfunden hat. Und er wird auch aus dem, was das Gehirn hier zeigt, auch nicht uniform handeln, sondern jeder Mensch wird dann daraus auch seine eigene Handlungsweise ableiten und ...
Heise: ... aber die Gefahr ist zu groß, dass diese Bilder einseitig interpretiert werden? Sie könnten ja sonst ein Baustein in diesem Prozess sein, von dem Sie sprechen?
Maio: Richtig, genau. Also, als Baustein würde ich das auch vollkommen akzeptieren und ich denke, für die Grundlagenforschung mag das ja auch eine große Hilfe sein. Aber wir können nicht anhand dieser Bilder den Menschen neu erklären.
Heise: Und vor allem würden ja anhand dieser Bilder sozusagen falsche Empfindungen ausfindig gemacht werden. Also, das ist ja auch eine Interpretation dessen, was falsch und richtig ist?
Maio: Ja, in jedem Fall. Also, es wird ja so getan, als würde das Gehirn bereits alles diktieren und die Menschen wären quasi den Gehirnprozessen ausgeliefert. Und das ist das falsche Bild. Also, der Mensch ist frei, auch wenn wir etwas im Gehirn nachweisen können. Weil, letztlich reagiert er nur bezogen auf das, was er erfährt. Und diese Beziehungen, wissen Sie, das ist doch das Zentrale. Wir dürfen den Menschen nicht reduzieren auf ein somatisches Ereignis, auf ein körperliches Ereignis im Gehirn.
Heise: Aber ein körperliches Ereignis könnte man zum Beispiel medikamentös in den Griff bekommen und das hört man ja auch immer wieder. Ist ja vielleicht auch so eine Gefahr. Sehen Sie so ein bisschen auch die Pharma-Lobby dahinter?
Maio: Ich würde hier sagen, es ist der Machbarkeitsglaube, verstehen Sie. Also, wenn viele Menschen, selbst Psychiater meinen, sie könnten schwere psychische Erkrankungen über zum Beispiel technische Eingriffe im Gehirn lösen, obwohl erwiesenermaßen diese Erkrankungen doch eher auf Erfahrungen beruhen, auf Beziehungen, die fehlgelaufen sind und so weiter, dann muss ich eben sagen, das ist ein ... Die Verbindung von mechanistischem Menschenbild und der Machbarkeitsglaube, zu denken, man gibt da eine Pille und dann ist alles gut, oder man macht eine Tiefenhirnstimulation, schon haben wir das Problem Depression gelöst – das halte ich für sehr reduktionistisch und einseitig. Also, diese ...
Heise: ... aber ist der Zug dann noch zurückzuhalten?
Maio: Nun, er muss zurückgehalten werden durch Vernunft. Ich glaube nicht, dass wir diesem Hype – wir erleben einen Neuro-Hype – einfach so nachgeben dürfen, weil er irrational ist und weil wir schon das Gehirn eben als ein Beziehungsorgan betrachten müssen und nicht denken müssen, dass quasi wie, es quasi eine Maschine ist im Kopf, die den Menschen wie eine Marionette handeln lässt. Das ist ein falsches Bild, das dem Menschen nicht gerecht wird. Und, also interpretieren, aber in einem bescheidenen Maße muss man das.
Heise: Hinweise von Giovanni Maio, er ist Direktor des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin in Freiburg. Herr Maio, danke schön für dieses Gespräch!
Maio: Ich danke Ihnen, Frau Heise!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Und jetzt begrüße ich Giovanni Maio, er ist Direktor des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin in Freiburg. Guten Tag, Herr Maio!
Giovanni Maio: Guten Tag, Frau Heise!
Heise: Straftaten verhindern, das klingt doch sehr wünschenswert. Was halten Sie von der Methode?
Maio: Natürlich ist das wünschenswert und man muss dann natürlich darüber nachdenken, wie man dieses Ziel am besten erreichen kann. Ganz sicher nicht dadurch, dass man eine Rasterfahndung vornimmt, denn es geht ja darum, dass diese Menschen, die vielleicht in sich schon spüren, dass sie eine Veranlagung haben, dass sie einen Zugang bekommen zu Medizin, dass sie Ärzte finden, die ihnen helfen wollen, darum muss es ja gehen, eine Beziehung zu diesen Menschen herzustellen.
Heise: Also, Sie sehen ein Problem in diesem bildgebenden Verfahren?
Maio: Nun, das Problem ist nicht das bildgebende Verfahren. Ich denke, da muss man zunächst einmal sehr vorsichtig sein, was die Interpretation dieser Bilder angeht. Man muss natürlich schon überlegen, was sieht man da eigentlich. Man sieht bunte Bilder, Sie sehen sie anschaulich an und sie haben natürlich auch übertölpelnde Kraft, weil sie durch diese Anschaulichkeit so suggestiv sind. Und man meint, man könnte da Denken sehen oder hier in diesem Fall Gefühle sehen, erotische Gefühle sehen, das kann man nicht. Man kann nur sehen, dass in diesen Arealen eben eine Aktivität da ist. Aber was für eine Aktivität? Man misst ja nur den Sauerstoffgehalt zum Beispiel, man muss ... Man kann nichts über die Inhalte sagen der Gefühle. Man weiß nur, wo und wie intensiv. Aber es kann zum Beispiel auch, es können ganz andere Gefühle sein, das können ja auch ...
Heise: ... und erst recht kann man ja nicht sagen, ob dieses Stimuliertsein, dass daraus folgert, diese Stimulation auch zu suchen und ihr nachzugeben?
Maio: Ja, das ist eben der zweite Punkt. Man kann natürlich schon sagen, dass da sich im Gehirn sich etwas tut, wenn diese Bilder gezeigt werden. Was genau sich tut, wissen wir nicht, aber allein, dass sich da was tut, bedeutet ja nicht, dass wir sagen können, oh, dieser Mensch ist jetzt gefährlich. Diese Kluft, die muss man aushalten. Aus den Bildern folgt nicht, dass wir vorhersagen können, was diese Menschen tun werden. Und da, glaube ich, müssen die therapeutischen Ansätze doch starten, dass die Medizin versucht, Kontakt zu diesen Menschen zu finden, um ihnen frühzeitig zu helfen. Aber nicht dadurch, dass sie quasi durch die Röhre geschleust werden mit dem Effekt möglicherweise, dass am Ende diese Menschen ja auch ein Stück weit sich abgestempelt fühlen oder auch von außen natürlich kritisch beäugt werden. Das kann auch zu einer Selbststigmatisierung führen.
Heise: Wenn ich Sie richtig verstehe, dann sind Sie auch in Zukunft, also, wenn beispielsweise sicherere Verfahren noch entwickelt würden, bildgebende Verfahren, wären Sie trotzdem nicht der Meinung, dass diese Diagnose zu Recht zu stellen ist?
Maio: Nein, also die Diagnose, dass wir sagen, durch die Bilder wissen wir entweder, er war es oder er wird mal Straftäter sein, das lässt sich, aus den Bildern wird sich das nie herauslesen können. Sie werden nie Bilder haben, die etwas über die Zukunft des Handelns sagen werden.
Heise: Aber die Männer, das haben wir auch gehört, suchen nach Aufklärung über ihre eigenen Neigungen, die ihnen ja, so im Untergrund vielleicht bewusst sind. Hilfe verwehren kann man ihnen aber auch nicht?
Maio: Nein, im Gegenteil. Nein, im Gegenteil. Also, ich finde, man muss die Medizin so verstehen, dass sie ein Hilfsangebot macht und natürlich sich interessieren muss für diese Männer. Und wenn es Männer gibt, die nur latent dieses Gefühl haben, dann muss die Medizin offene Tore haben und diese Menschen aufnehmen und mit ihnen sprechen.
Aber immer mit dem Gestus, ich möchte dir helfen, und nicht mit dem Gestus, ich überführe dich jetzt. Das darf keine Rasterfahndung sein. Und man kann natürlich sagen, wir machen das alles nur auf freiwilliger Basis. Das Problem ist nur, wenn Sie das nur auf freiwilliger Basis machen, dann haben Sie irgendwo ein Verfahren und ein Mensch sagt, nein, ich möchte diese Bilder nicht, dann ist das quasi schon eine Vorverurteilung. Das ist dann für ihn dann ... Allein, dass er diese Bilder verweigert, ist er quasi schon in einen Generalverdacht verstrickt. Und deswegen ... Allein das Angebot dieser Untersuchungen ist ja nicht unproblematisch. Also, das wird auch nicht allein freiwillig bleiben, wenn man sagt, man könnte da detektieren.
Deswegen meine ich, man muss zunächst einmal schauen, dass man diesen Menschen hilft, dass die Medizin frühzeitig Zugang zu diesen Menschen finden wird und weg von diesem Hinweis auf Strafverfolgung. Das darf auf keinen Fall sein.
Heise: Giovanni Maio, Medizinethiker, zu Erkenntnissen der Neurobiologie im Bezug auf pädophile Neigungen. Herr Maio, die Neurobiologie ist in den letzten Jahren ja sehr in den Vordergrund getreten. Sie wird ins Feld geführt, wenn es um Aggressionen geht, greift ein in Erziehungsfragen bei unkonzentrierten Kindern, findet in der Kriminologie Beachtung, denn man meint, Geisteszustände neurowissenschaftlich untersuchen zu können. Wenn ich Sie richtig verstehe, kritisieren Sie diese Entwicklung aber auch insgesamt?
Maio: Ja, die kritisiere ich schon. Also nicht in dem Sinne, dass wir keine Forschung betreiben dürfen, sondern in dem Sinne, dass die Ergebnisse überinterpretiert werden und auch von Forschern oft natürlich in einer Weise vermittelt werden, dass man meint, man hätte hier plötzlich den Geist entdeckt. Und das muss man natürlich schon zurückweisen und anerkennen, dass das Gehirn natürlich nicht quasi ein Organ ist, das den Menschen steuert. Wir haben das Menschenbild vor Augen, das quasi sehr mechanistisch geprägt ist, immer noch, und wir denken, da ist ein Gehirn und aus dem Gehirn heraus macht der Mensch bestimmte Dinge.
Wir müssen das Gehirn als ein Beziehungsorgan betrachten, als ein Organ, das eben nur in der Beziehung nach außen irgendetwas leistet, und der Mensch dann dennoch seine Freiheit hat. Ich denke, es ist ein Reduktionismus, wenn wir meinen, anhand von Hirnbildern irgendwas über den Menschen aussagen zu können. Weil der Mensch ... Auch das, was im sich Gehirn sich abspielt, ist Resultat der Erfahrungen, Resultat dessen, was der Mensch empfunden hat. Und er wird auch aus dem, was das Gehirn hier zeigt, auch nicht uniform handeln, sondern jeder Mensch wird dann daraus auch seine eigene Handlungsweise ableiten und ...
Heise: ... aber die Gefahr ist zu groß, dass diese Bilder einseitig interpretiert werden? Sie könnten ja sonst ein Baustein in diesem Prozess sein, von dem Sie sprechen?
Maio: Richtig, genau. Also, als Baustein würde ich das auch vollkommen akzeptieren und ich denke, für die Grundlagenforschung mag das ja auch eine große Hilfe sein. Aber wir können nicht anhand dieser Bilder den Menschen neu erklären.
Heise: Und vor allem würden ja anhand dieser Bilder sozusagen falsche Empfindungen ausfindig gemacht werden. Also, das ist ja auch eine Interpretation dessen, was falsch und richtig ist?
Maio: Ja, in jedem Fall. Also, es wird ja so getan, als würde das Gehirn bereits alles diktieren und die Menschen wären quasi den Gehirnprozessen ausgeliefert. Und das ist das falsche Bild. Also, der Mensch ist frei, auch wenn wir etwas im Gehirn nachweisen können. Weil, letztlich reagiert er nur bezogen auf das, was er erfährt. Und diese Beziehungen, wissen Sie, das ist doch das Zentrale. Wir dürfen den Menschen nicht reduzieren auf ein somatisches Ereignis, auf ein körperliches Ereignis im Gehirn.
Heise: Aber ein körperliches Ereignis könnte man zum Beispiel medikamentös in den Griff bekommen und das hört man ja auch immer wieder. Ist ja vielleicht auch so eine Gefahr. Sehen Sie so ein bisschen auch die Pharma-Lobby dahinter?
Maio: Ich würde hier sagen, es ist der Machbarkeitsglaube, verstehen Sie. Also, wenn viele Menschen, selbst Psychiater meinen, sie könnten schwere psychische Erkrankungen über zum Beispiel technische Eingriffe im Gehirn lösen, obwohl erwiesenermaßen diese Erkrankungen doch eher auf Erfahrungen beruhen, auf Beziehungen, die fehlgelaufen sind und so weiter, dann muss ich eben sagen, das ist ein ... Die Verbindung von mechanistischem Menschenbild und der Machbarkeitsglaube, zu denken, man gibt da eine Pille und dann ist alles gut, oder man macht eine Tiefenhirnstimulation, schon haben wir das Problem Depression gelöst – das halte ich für sehr reduktionistisch und einseitig. Also, diese ...
Heise: ... aber ist der Zug dann noch zurückzuhalten?
Maio: Nun, er muss zurückgehalten werden durch Vernunft. Ich glaube nicht, dass wir diesem Hype – wir erleben einen Neuro-Hype – einfach so nachgeben dürfen, weil er irrational ist und weil wir schon das Gehirn eben als ein Beziehungsorgan betrachten müssen und nicht denken müssen, dass quasi wie, es quasi eine Maschine ist im Kopf, die den Menschen wie eine Marionette handeln lässt. Das ist ein falsches Bild, das dem Menschen nicht gerecht wird. Und, also interpretieren, aber in einem bescheidenen Maße muss man das.
Heise: Hinweise von Giovanni Maio, er ist Direktor des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin in Freiburg. Herr Maio, danke schön für dieses Gespräch!
Maio: Ich danke Ihnen, Frau Heise!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.