Phänomen Erschöpfung

Der Burn-out hat eine lange Geschichte

Mann schimpft seine Sekretärin, 50er Jahre
In den 1950er-Jahren bezeichnete man Erkrankungen, die durch körperliche oder psychische Überbeanspruchung ausgelöst waren, als „Managerkrankheit“. © picture alliance / Oscar Poss
Ein Einwurf von Ann-Kristin Tlusty · 24.03.2022
Burn-out ist eine weitverbreitete Diagnose. Häufig gilt die Erschöfpung vor allem als Resultat der kapitalistischen Moderne. Doch laut Journalistin Ann-Kristin Tlusty hat sie eine lange Tradition in der Menschheitsgeschichte.
Früher war weniger Erschöpfung: Da ist sich jede Hobbysoziologin sicher. Erst um 1900 hätten Industrialisierung und Urbanisierung das Leben zunehmend beschleunigt, und über hundert Jahre später würden ständige Erreichbarkeit, Abstiegsangst und Selbstoptimierungszwänge, garniert durch weltpolitische Katastrophenlage, den Menschen nun endgültig an den Rand seiner Kräfte bringen.

Nachkriegsjahre werden verklärt  

Eine Ausnahme sei nur der Zeitraum zwischen den fünfziger und siebziger Jahren gewesen. Die dreißig wunderbaren Jahre des Nachkriegskapitalismus, in Frankreich les trentes glorieuses genannt, in den USA The Golden Age, in Deutschland schlicht das Wirtschaftswunder, seien eine Phase von Sicherheit und Aufstieg gewesen. Menschen hätten nicht nur sichere Arbeitsplätze, sondern auch stabile Ehen und glückliche Kinder gehabt, die den Wohlstand ihrer Eltern einmal übertreffen würden. Der kollektive Aufstieg ermöglichte auch Arbeiterfamilien Fernreisen und Fernseher.

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Dennoch waren die trentes glorieuses lange nicht so glorreich, wie sie in der nostalgischen Verklärung erscheinen: In Westdeutschland beispielsweise wurden schwule Männer zu Haftstrafen verurteilt, Hausfrauen von der Monotonie ihres Daseins zermürbt, Gastarbeiter:innen erlebten massiven Rassismus und Kinder oftmals eine autoritäre Erziehung. Die Fantasie der stabilen Nachkriegszeit trifft, wenn überhaupt, auf weiße Hetero-Männer zu.

"Phänomen Stress" könnte Menschheit gefährden 

Doch selbst die waren erschöpft. In den 1950er-Jahren bezeichnete man Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems, die durch körperliche oder psychische Überbeanspruchung ausgelöst waren, als „Managerkrankheit“. Dabei handelte es sich bei Weitem nicht nur um eine Elitenpathologie – auch einfache Angestellte waren betroffen. Einer Titelgeschichte des „Spiegel“ aus dem Jahr 1976 zufolge könnte das „Phänomen Stress“ den Fortbestand der Menschheit gefährden.
Auch vor fünfzig Jahren waren Menschen also erschöpft. Der Soziologe Martin Dornes bezeichnete darum die Erzählung der glorreichen Nachkriegsjahre als eine „Projektion von Gegenwartsunbehagen in eine vermeintlich bessere Vergangenheit, die sich dagegen nicht wehren kann“.

Trägheit wurde zur Todsünde erklärt 

Doch auch ein Blick weit vor die westliche Nachkriegszeit offenbart, dass die Mär der modernen Erschöpfung nicht zutrifft. Schon vor mehr als tausend Jahren war Erschöpfung ein populäres Thema. Nahezu panisch sorgten sich christliche Theologen bereits in der Spätantike um manch müden Mönch – und erklärten die Trägheit zur Todsünde. Als Acedia bezeichneten sie das Phänomen, dass Mönche in der Mittagszeit in einen Zustand der Lustlosigkeit und Apathie verfielen, der sie von ihren religiösen Pflichten fernhielt. Allein mit Willenskraft, hieß es damals, könne man die Acedia, Erschöpfung also, überwinden.
Diese Behauptung erlebt derzeit in säkularem Gewand eine Renaissance. Auch heute gilt Trägheit als Zeichen mangelnder Entschlossenheit, sie zu überwinden. Der erschöpfte Mensch, so der Common Sense, legt eben das falsche Verhalten an den Tag: Er isst das Falsche, schläft zu wenig, bangt zu viel und verschwendet seine Energie an sinnloses Doomscrolling. Dabei ist Erschöpfung eine völlig normale Reaktion auf äußere Umstände – sei es ein tristes Mönchsleben, die starre Nachkriegszeit oder die multiple Krisenhaftigkeit des 21. Jahrhunderts.

Self-Care kein Mittel gegen Ohnmacht

Der derzeitige Versuch vieler Medien, das Problem der Erschöpfung mit simplen Verhaltenstricks zu beantworten, ist also von vornherein zum Scheitern verurteilt. Ohnmacht lässt sich kaum mit Self-Care lösen. Mehr noch: Die mediale Sorge um die westeuropäische Psyche wirkt angesichts der derzeitigen Weltlage schlicht inadäquat. Wer nur um die eigene Erschöpfung kreist, wer einen politischen Konflikt zu einer psychischen Belastung degradiert, bleibt Demos fern, empört sich nicht und blendet das Leid derer aus, die gerade ihre Hoffnung, ihre Heimat, ihre Angehörigen verlieren.

Ann-Kristin Tlusty, geboren 1994, hat Kulturwissenschaften und Psychologie studiert. Sie arbeitet als Redakteurin bei „Zeit Online“ in Berlin. Im September 2021 erschien im Hanser Verlag ihr erstes Buch „Süß. Eine feministische Kritik“.

Porträt der Journalistin Ann-Kristin Tlusty.
© Nico Blacha
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