Erst das Ende, dann der Anfang
In Miljenko Jergovic' Roman "Das Walnusshaus" läuft die Zeit rückwärts: Die Geschichte der Jugoslawin Regina Delavale beginnt mit ihrem Tod als geistig umnachtete alte Frau. Am Ende eines eher unglücklichen Lebenszyklus bekommt sie als Neugeborene ein Walnusshaus geschenkt, in dem alles viel zu schnell vergeht.
Auf den ersten Blick gehört "Das Walnusshaus" von Miljenko Jergović zur schweren "Buddenbrooks"-Klasse: Der Roman hat 600 Seiten. Auf den zweiten Blick löst sich der kompakte Ziegelstein auf in ein überbordendes Füllhorn voller Geschichten, wunderbarer und wunderlicher. An die Stelle des Breitwandgemäldes, das ruhigen bürgerlichen Zeiten angemessen war, tritt ein buntes Mosaik.
Den äußeren Rahmen liefert das Leben von Regina Delavale, die 1905 geboren wird und mit 97 Jahren umnachtet stirbt. Ihre Eltern haben sich noch unter dem österreichisch-ungarischen Kaiser kennengelernt. Ein Bruder von Regina geht nach Paris, sieht dort voller Erbitterung die deutsche Wehrmacht marschieren und gerät auf verschlungenen Wegen zurück nach Serbien zu den königstreuen Partisanen, den Tschetniks.
Dem zweiten Bruder verhilft die faschistische Ustascha in Kroatien zum Besitz einer Gastwirtschaft, der dritte kämpft bei Titos Partisanen. Er allein überlebt geistig verwirrt, während seine Brüder sterben. Regina Delavale versucht derweil kaum weniger erfolglos, ihr Glück zu finden: Ihre Männer verschwinden, kehren in einer Urne aus dem Krieg zurück oder kommen bei einem Autounfall ums Leben - alles Ereignisse, die in mindestens einem Kapitel und auf erstaunliche Weise gewürdigt werden.
Was in der Nacherzählung wie eine durchsichtige Allegorie von Jugoslawien im 20. Jahrhundert klingt, entfaltet Jergović als ein unübersichtliches Gelände, in dem sich seine Figuren ständig verirren.
Miljenko Jergović ist 1966 in Sarajewo geboren worden und lebt in Zagreb. Wie er blicken derzeit nicht wenige seiner Kollegen in ihren Büchern zurück: Sie versuchen, das erst 1991 unabhängig gewordene Kroatien in eine historische Kontinuität einzubetten. Einer Apologie des jungen Staates beugt Jergović allerdings durch das Mosaik aus Lebensgeschichten vor - und durch einen erstaunlichen Kunstgriff.
"Das Walnusshaus" beginnt nämlich mit dem 15. Kapitel und endet mit dem ersten. Jergović lässt Regina erst sterben, dann immer jünger und schließlich geboren werden. Die Zeit läuft rückwärts, was jede Notwendigkeit ad absurdum führt. Der Roman will die Gegenwart nicht durch die Geschichte legitimieren, er rehabilitiert die Unübersichtlichkeit des gelebten Augenblicks - und die ungetrübte Hoffnung der Figuren.
Exakt in der Mitte des Buches nennt der sonst eher zurückhaltende Erzähler den Grund für das allmähliche Zerbrechen von Reginas Familie: Regina sei von der Eifersucht auf die amerikanische Geliebte ihres Ehemanns besessen, solche Unglücke wiederholten sich in Zyklen. Diese melancholische, nicht (ver-)urteilende oder moralisierende Auffassung der Geschichte als einem Unglückszyklus, dem Menschen nichts entgegensetzen können, erinnert an den kroatischen Klassiker Miroslav Krleža (1893-1981).
Doch ohne Hoffnung ist Miljenko Jergović nicht. Zu Beginn des Romans "Das Walnusshaus" lässt er Diana, die Tochter von Regina Delavale, einer nicht zuständigen und wenig interessierten Beamtin im Polizeiarchiv das unglückliche Ende ihrer im Wahnsinn gestorbenen Mutter erzählen: Die Tochter wird die quälende Erinnerung los und überantwortet sie zugleich dem Vergessen.
Und am Ende des Romans fertigt ein kunstvoller Holzschnitzer für die noch ungeborene Regina ein Spielzeughaus aus Walnuss an, weil er weiß:
"In der Welt des Nussbaumhäuschens vergeht die Zeit schneller."
So schnell wie im Roman. Jedenfalls in diesem.
Rezensiert von Jörg Plath
Miljenko Jergović, Das Walnusshaus
Aus dem Kroatischen von Brigitte Döbert.
Roman, Schöffling & Co, Frankfurt am Main 2008
614 Seiten, 24,90 Euro
Den äußeren Rahmen liefert das Leben von Regina Delavale, die 1905 geboren wird und mit 97 Jahren umnachtet stirbt. Ihre Eltern haben sich noch unter dem österreichisch-ungarischen Kaiser kennengelernt. Ein Bruder von Regina geht nach Paris, sieht dort voller Erbitterung die deutsche Wehrmacht marschieren und gerät auf verschlungenen Wegen zurück nach Serbien zu den königstreuen Partisanen, den Tschetniks.
Dem zweiten Bruder verhilft die faschistische Ustascha in Kroatien zum Besitz einer Gastwirtschaft, der dritte kämpft bei Titos Partisanen. Er allein überlebt geistig verwirrt, während seine Brüder sterben. Regina Delavale versucht derweil kaum weniger erfolglos, ihr Glück zu finden: Ihre Männer verschwinden, kehren in einer Urne aus dem Krieg zurück oder kommen bei einem Autounfall ums Leben - alles Ereignisse, die in mindestens einem Kapitel und auf erstaunliche Weise gewürdigt werden.
Was in der Nacherzählung wie eine durchsichtige Allegorie von Jugoslawien im 20. Jahrhundert klingt, entfaltet Jergović als ein unübersichtliches Gelände, in dem sich seine Figuren ständig verirren.
Miljenko Jergović ist 1966 in Sarajewo geboren worden und lebt in Zagreb. Wie er blicken derzeit nicht wenige seiner Kollegen in ihren Büchern zurück: Sie versuchen, das erst 1991 unabhängig gewordene Kroatien in eine historische Kontinuität einzubetten. Einer Apologie des jungen Staates beugt Jergović allerdings durch das Mosaik aus Lebensgeschichten vor - und durch einen erstaunlichen Kunstgriff.
"Das Walnusshaus" beginnt nämlich mit dem 15. Kapitel und endet mit dem ersten. Jergović lässt Regina erst sterben, dann immer jünger und schließlich geboren werden. Die Zeit läuft rückwärts, was jede Notwendigkeit ad absurdum führt. Der Roman will die Gegenwart nicht durch die Geschichte legitimieren, er rehabilitiert die Unübersichtlichkeit des gelebten Augenblicks - und die ungetrübte Hoffnung der Figuren.
Exakt in der Mitte des Buches nennt der sonst eher zurückhaltende Erzähler den Grund für das allmähliche Zerbrechen von Reginas Familie: Regina sei von der Eifersucht auf die amerikanische Geliebte ihres Ehemanns besessen, solche Unglücke wiederholten sich in Zyklen. Diese melancholische, nicht (ver-)urteilende oder moralisierende Auffassung der Geschichte als einem Unglückszyklus, dem Menschen nichts entgegensetzen können, erinnert an den kroatischen Klassiker Miroslav Krleža (1893-1981).
Doch ohne Hoffnung ist Miljenko Jergović nicht. Zu Beginn des Romans "Das Walnusshaus" lässt er Diana, die Tochter von Regina Delavale, einer nicht zuständigen und wenig interessierten Beamtin im Polizeiarchiv das unglückliche Ende ihrer im Wahnsinn gestorbenen Mutter erzählen: Die Tochter wird die quälende Erinnerung los und überantwortet sie zugleich dem Vergessen.
Und am Ende des Romans fertigt ein kunstvoller Holzschnitzer für die noch ungeborene Regina ein Spielzeughaus aus Walnuss an, weil er weiß:
"In der Welt des Nussbaumhäuschens vergeht die Zeit schneller."
So schnell wie im Roman. Jedenfalls in diesem.
Rezensiert von Jörg Plath
Miljenko Jergović, Das Walnusshaus
Aus dem Kroatischen von Brigitte Döbert.
Roman, Schöffling & Co, Frankfurt am Main 2008
614 Seiten, 24,90 Euro