Erst die Tochter, dann die Mutter
Der mongolische Student Minganbajir kehrt aus Moskau in seine Heimat zurück, trennt sich von seiner Freundin Anna - und verliebt sich einige Zeit später in deren Mutter. Dem Autor Galsan Tschinag gelingt es, diese ungewöhnliche Liebe nachvollziehbar zu schildern. Ein Roman, der verzaubert.
Eine Liebesgeschichte mit Happy End, die nicht in Kitsch endet: Das ist eine hohe Kunst, die nur wenige beherrschen, zumal es sie im wirklichen Leben selten genug gibt. Normalerweise scheut ein ernsthafter Schriftsteller davor zurück. Doch der Mongole Galsan Tschinag denkt gar nicht daran, sich an die üblichen Literaturspielregeln zu halten.
Wer nun eine Herz-Schmerz-Geschichte erwartet, wird enttäuscht. Sicherlich besingt der Autor eine tiefe, innige Liebe, der aber im Jahr 1977 in Moskau nur wenige Wochen beschieden ist, bevor sich der junge mongolische Student Minganbajir und die ungarische Studentin Anna trennen müssen. Die ewige Treue, die sich die beiden beim Abschied schwören, ist nur von kurzer Dauer. Der Mongole kehrt als diplomierter Übersetzer für Ungarisch in seine Heimat zurück, ohne jemals wieder ein Wort von der entschwundenen Geliebten zu hören.
Unangepasst und aufsässig landet er in einem winzigen staatlichen Übersetzerbüro, fügt sich in sein Schicksal, heiratet eine junge, von ihrem Mann verlassene Mutter, zeugt mit ihr zwei Kinder und kann doch seine erste und einzige wirkliche Liebe nie vergessen. Dann wird er als Ersatzdolmetscher zu einem Zirkustreffen abgeordert und trifft dort die ungarische Professorin Anna, Ebenbild der ehemaligen Geliebten, nur etwas älter. Es dauert eine Weile, bis Minganbajir begreift, dass er der Mutter gegenübersteht. Und damit beginnt eine neue Liebesgeschichte, eine Wiedergeburt der alten.
Man folgt dieser Geschichte mit einer gewissen Beklemmung, denn die Vorstellung, dass die Mutter an die Stelle der Tochter tritt, ist nicht leicht zu akzeptieren. Dennoch gelingt es Galsan Tschinag, diese Art umgekehrter Wiedergeburt nachvollziehbar zu schildern. Er verschränkt das Zusammentreffen der Mutter mit dem Übersetzer und dessen Zeit mit der Tochter miteinander. Und zu guter Letzt führt er uns ins wirkliche Leben zurück, das tatsächlich eine täuschend ähnliche Geschichte parat hält. Erfindung, Wahrheit, Wirklichkeit verschmelzen miteinander.
Galsan Tschinag nutzt seine Geschichte natürlich auch, um den deutschen Leser in eine Kultur einzuführen, die ihm weitgehend fremd oder sogar unheimlich ist: die Kultur der mongolischen Nomaden, der Viehzüchter, die in Jurten leben. Zudem durchzieht den Roman heftige Kritik am Duckmäusertum und Spitzelwesen des mongolischen Sozialismus.
Tschinag, der in der DDR Deutsch studiert hat und seitdem in Deutsch schreibt, ist ein großer Worteerfinder. Staunend folgt man seinen fantasievollen und ausdrucksstarken Wortschöpfungen: Da ist jemand knallstolz, herrscht entmachtende Spannung, eine dunkelmuffige Erwartung, sind Worte ohrwarm, gibt es einen fettgepäppelten Scheinstaat und einen weichgegerbten Großvater. Es ist eine wortreiche, bildhafte, schwelgerische Sprache, die nie vor leidenschaftlichen Gefühlen zurückschreckt. Tschinag ist ein Romantiker und er verblüfft durch eine ganz eigene einzigartige Sprachmelodie. Ein Roman, der verzaubert, lässt man sich auf ihn ein.
Besprochen von Johannes Kaiser
Galsan Tschinag: Das andere Dasein
Insel Verlag, Berlin 2011
271 Seiten, 19,90 Euro
Wer nun eine Herz-Schmerz-Geschichte erwartet, wird enttäuscht. Sicherlich besingt der Autor eine tiefe, innige Liebe, der aber im Jahr 1977 in Moskau nur wenige Wochen beschieden ist, bevor sich der junge mongolische Student Minganbajir und die ungarische Studentin Anna trennen müssen. Die ewige Treue, die sich die beiden beim Abschied schwören, ist nur von kurzer Dauer. Der Mongole kehrt als diplomierter Übersetzer für Ungarisch in seine Heimat zurück, ohne jemals wieder ein Wort von der entschwundenen Geliebten zu hören.
Unangepasst und aufsässig landet er in einem winzigen staatlichen Übersetzerbüro, fügt sich in sein Schicksal, heiratet eine junge, von ihrem Mann verlassene Mutter, zeugt mit ihr zwei Kinder und kann doch seine erste und einzige wirkliche Liebe nie vergessen. Dann wird er als Ersatzdolmetscher zu einem Zirkustreffen abgeordert und trifft dort die ungarische Professorin Anna, Ebenbild der ehemaligen Geliebten, nur etwas älter. Es dauert eine Weile, bis Minganbajir begreift, dass er der Mutter gegenübersteht. Und damit beginnt eine neue Liebesgeschichte, eine Wiedergeburt der alten.
Man folgt dieser Geschichte mit einer gewissen Beklemmung, denn die Vorstellung, dass die Mutter an die Stelle der Tochter tritt, ist nicht leicht zu akzeptieren. Dennoch gelingt es Galsan Tschinag, diese Art umgekehrter Wiedergeburt nachvollziehbar zu schildern. Er verschränkt das Zusammentreffen der Mutter mit dem Übersetzer und dessen Zeit mit der Tochter miteinander. Und zu guter Letzt führt er uns ins wirkliche Leben zurück, das tatsächlich eine täuschend ähnliche Geschichte parat hält. Erfindung, Wahrheit, Wirklichkeit verschmelzen miteinander.
Galsan Tschinag nutzt seine Geschichte natürlich auch, um den deutschen Leser in eine Kultur einzuführen, die ihm weitgehend fremd oder sogar unheimlich ist: die Kultur der mongolischen Nomaden, der Viehzüchter, die in Jurten leben. Zudem durchzieht den Roman heftige Kritik am Duckmäusertum und Spitzelwesen des mongolischen Sozialismus.
Tschinag, der in der DDR Deutsch studiert hat und seitdem in Deutsch schreibt, ist ein großer Worteerfinder. Staunend folgt man seinen fantasievollen und ausdrucksstarken Wortschöpfungen: Da ist jemand knallstolz, herrscht entmachtende Spannung, eine dunkelmuffige Erwartung, sind Worte ohrwarm, gibt es einen fettgepäppelten Scheinstaat und einen weichgegerbten Großvater. Es ist eine wortreiche, bildhafte, schwelgerische Sprache, die nie vor leidenschaftlichen Gefühlen zurückschreckt. Tschinag ist ein Romantiker und er verblüfft durch eine ganz eigene einzigartige Sprachmelodie. Ein Roman, der verzaubert, lässt man sich auf ihn ein.
Besprochen von Johannes Kaiser
Galsan Tschinag: Das andere Dasein
Insel Verlag, Berlin 2011
271 Seiten, 19,90 Euro