Erste Hilfe für die Seele
In den Schlagzeilen sind sie nur selten. Notfallseelsorger arbeiten im Hintergrund. Doch ob Naturkatastrophe oder Verkehrsunfall – sie sind mit am Unglücksort, stehen Betroffenen und Hinterbliebenen bei und helfen auch den Einsatzkräften. Rund 11.100 Notfallseelsorger gibt es in Deutschland, zu rund 30.000 Einsätzen im Jahr werden sie gerufen.
"Bei der schwersten Zugkatastrophe in der Geschichte der Bundesrepublik sind vermutlich über 100 Menschen getötet worden..."
Eschede, 3. Juni 1998. Der ICE 884 "'Wilhelm Conrad Röntgen" entgleist auf der Fahrt von München nach Hamburg.
"Kreuz und quer, Schienen und scharfe Kanten, abgebrochene Achsen – das sind ja unheimliche Kräfte. die da frei werden. Ich habe mehr oder weniger nur die Leute beruhigt, weil man kann ja als Laie nicht viel helfen. Decken geholt, Hand gehalten und gut zugesprochen eigentlich nur."
Frank Waterstraat: "Das war wie im Fernsehen. Rational war mir klar, was da passiert ist, aber wenn man da in diesem Trümmerberg stand, das war schon sehr beeindruckend, auch mit dem Hintergrundwissen der über 100 Toten. Ich habe einige Minuten gebraucht, um mich zu sortieren, hin zur Rationalität und zum Handeln mit den Leuten, die eingesetzt waren."
Frank Waterstraat, der Beauftragte für Notfallseelsorge in der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Hannover, organisierte die Einsätze der Notfallseelsorger in Eschede mit.
"Genug Leute haben, diese Leute ablösen, nicht immer dieselben einsetzen, für Verpflegung sorgen auch, und schauen, dass wir unseren Part organisatorisch auf die Reihe bekommen. In der Situation müssen Sie eine Distanz bewahren, die handlungsfähig hält, sonst geht das nicht."
Rund 80 evangelische und katholische Notfallseelsorger arbeiteten damals überkonfessionell zusammen, waren rund um die Uhr für Verletzte, Rettungskräfte und Angehörige da.
"Jemanden in der Situation zu sagen, du musst jetzt nach vorne schauen, das Leben geht weiter – das ist grundsätzlich richtig, nur das hilft einem Menschen nicht, der den Eindruck hat, ihm ist die Basis seines Lebens unter den Füßen weggezogen worden. Da sein ist unheimlich wichtig, es mit den Menschen gemeinsam aushalten, Schilderungen aushalten, Tränen, Trauer, Verzweiflung – ja und sozusagen ein Geländer sein, an dem diese Menschen ein Stück des Weges gehen können."
Gisela Angermann: "Da ist er zum Beispiel, guckt relativ freundlich, ein bisschen hager. Und dieses Teil aus Peru, das hätte er so gerne gehabt. Da war ich 97. Ich wollte es später einmal verschenken. Dann habe ich es sozusagen ihm vorher gegeben - vor sein Bild. So kleine Verrücktheiten, die helfen."
Doch der Schmerz bleibt, auch über elf Jahre nach der Zugkatastrophe, er ist nur etwas schwächer geworden. Gisela Angermann aus Göttingen verlor in Eschede ihren 29-jährigen Sohn Klaus. Er wollte nach Hamburg zu einem Bewerbungsgespräch. Schwer verletzt wurde Klaus Angermann aus dem ICE gerettet. Die pensionierte Lehrerin konnte mit ihren beiden Töchtern noch Abschied nehmen. Eine evangelische Notfallseelsorgerin war an ihrer Seite.
"Ich bin nicht auf die Dame von der Seelsorge zugegangen. Sie war, sagen wir mal, begleitend da. Als Möglichkeit, angesprochen zu werden, beschützend um mich herum. Ich krieg auch ihr Gesicht nicht mehr zusammen, ich spür aber ihre Anwesenheit."
Religiös ist Gisela Angermann nicht. Trotzdem konnte ihr die Notfallseelsorgerin damals helfen.
Auch bei der zentralen Trauerfeier für die Opfer der ICE-Katastrophe in der Stadtkirche in Celle.
.
"Es tat gut, in dieser Menge von Leuten - wo man sich so irgendwo im Mittelpunkt fühlte, der einem aber unangenehm war - dass da so ne bekannte Person war, dass man aus seinem komischen magischen Kreis raus konnte. Und auf jemanden gucken konnte, der über die Angelegenheit Bescheid wusste, aber nicht noch sonstige Bezüge hatte."
Frank Waterstraat: "Wir stehen dafür, dass es über diese Situation des Todes hinaus, des Abbruchs von Lebensperspektiven etwas geben kann – und dafür stehen wir als Person. Wir stehen dafür mit sehr sparsam eingesetzten Gesten, etwa Entzünden einer Kerze, sehr auf die Wünsche des Betroffenen abgestimmten Gebeten und Segenshandlungen. Notfallseelsorge muss sehr genau hinschauen, ist ein kirchlich-christliches Ritual hier angebracht oder nicht."
Gisela Angermann: "Auf dem Granitstein meiner Großmutter steht 'Nicht verloren, nur vorangegangen'. Und als mir das so einfiel, dachte ich, och, das ist doch ein guter Gedanke."
Gisela Angermann "rettete sich über Aktion" – wie sie sagt. Sie schloss sich mit anderen Hinterbliebenen zur "Selbsthilfe Eschede" zusammen und nahm an dem psychologischen Nachbetreuungsprogramm für Angehörige teil.
"Dann wird man so aus dem Einzelfall, wo die Umgebung oft wenig mitfühlend ist, erlöst. Wenn man so fürchterliche Aussagen hört, von seinem Arbeitskollegen 14 Tage danach 'Na ja, nun bist du ja drüber weg.' So hat uns das so zusammengeschweißt, weil wir gegenseitig uns so entlasten konnten. Insofern sind so ne Gruppen doch eine große Hilfe."
Aber auch die Helfer brauchen Hilfe, um die belastenden Eindrücke zu verarbeiten. Das wurde deutlich nach dem schweren Zugunglück. Eine "Koordinierungsstelle Einsatznachsorge" wurde gegründet und bot erstmals über einen längeren Zeitraum umfassende psychosoziale Beratung an.
Frank Waterstraat hat in der evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannover die Notfallseelsorge mit aufgebaut. Besonders wichtig ist für ihn die zunehmende Vernetzung. Nicht nur mit den anderen Kirchen, mit Rettungsorganisationen oder Feuerwehren.
"Ich glaube, auch der Gedanke der Interdisziplinarität ist mit Leben gefüllt. Wenn ich mir meine Kollegen und Kolleginnen angucke, wie eng die Kontakte zu den Notärzten sind, zu einzelnen Psychotherapeuten – da ist eine Menge passiert und ich glaube, das ist ein guter Weg: organisatorisch und auch fachlich vernetzen."
Ein Beispiel von vielen: Nordhorn im Landkreis Grafschaft Bentheim.
"Feuerwehr- und Rettungsleitstelle Nordhorn, Hindrichs. Ich brauche dich einmal in Suddendorf in der Blumenstraße ..."
Hier laufen die Fäden zusammen. Vor Ort entscheiden die Rettungskräfte, ob ein Notfallseelsorger gebraucht wird und benachrichtigen dann die Feuerwehr- und Rettungsleitstelle Nordhorn. Denn jede Situation ist anders und jeder Mensch reagiert anders auf Extremsituationen. Trauer und Verzweiflung sind oft ganz "normale" Reaktionen auf ein "unnormales" Ereignis. Doch wenn Betroffene sich nicht äußern, unruhig sind, anfangen, an den Fingernägeln zu knabbern, dann gehen bei Dr. Marie-Theres Binsfeld, der ärztlichen Leiterin des Rettungsdienstes in Nordhorn, die Alarmglocken an.
"Die Introvertierten, da mache ich mir mehr Gedanken, weil ich Sorge habe, die finden niemanden, der ihnen Gehör schenkt. Sie sind nicht laut, sie sind ruhig, zurückgezogen, sie brauchen dringend Hilfe. Die anderen brauchen auch Hilfe, aber da habe ich nicht so die Sorge, dass sie nicht selbst dafür sorgen, Hilfe zu bekommen."
Ludger Pietruschka: "Ein Motto der Feuerwehren, das trifft auch für die Notfallfürsorge zu, ist 'Wir gehen dahin, wo andere rauslaufen.' Das heißt, ich muss mich erst einmal selbst auch ein Stück überwinden, dafür haben wir aber auch unsere Ausbildung, dass ich wirklich mich in diese Situation hinein begebe."
Die menschliche Katastrophe ist auch für Ludger Pietruschka Alltag. Der 55 Jahre alte katholische Pastoralreferent ist leitender Notfallseelsorger für den Landkreis Grafschaft Bentheim. Aus Er -fahrung weiß er, wie wichtig Notfallseelsorge nicht nur nach den sogenannten Großschadenseinsätzen wie in Eschede oder Lathen ist. Zum Alltag gehören vor allem innerhäusliche Notfälle: gemeinsam mit der Polizei eine Todesnachricht überbringen oder ein plötzlicher Todesfall in der Familie. Manchmal auch ein Verkehrsunfall oder ein Selbstmord.
Ludger Pietruschka: "Ich könnte biblisch sagen in Johannes 10, 10 steht, ich will, dass sie das Leben haben und in Fülle haben. Es soll nicht der, der etwas Schweres erlebt hat, daran zerbrechen. Deshalb ist es wichtig, dass von Anfang an in dieser Situation jemand in seiner Nähe ist, um die Möglichkeiten, die sein Leben schon wieder hat, aufzublühen, auch fördert. Nicht womöglich noch runtertrampelt und lange damit allein lässt."
Ludger Pietruschka sieht sich nicht als Therapeut, und er will auch nicht missionieren. Wichtig für ihn: einfach da zu sein, in der akuten Notsituation das Unfassbare aushaltbar zu machen. Wenn eine Frau nach Hause kommt etwa und der Lebenspartner tot in der Wohnung liegt.
"In der ersten Phase frage ich auch nur, was ist eigentlich passiert? Damit dieser Film, was man eigentlich erlebt hat, wieder für diese Person greifbar wird. Und dann kommt vielleicht eine Phase, wo ich vorschlage, ob sie von dieser Person noch mal Abschied nehmen will. Und dann heißt es zunächst, nein, nein, das mache ich auf keinen Fall. Dann sage ich, das ist in Ordnung, dann können wir mal gucken. Und als ich dann hinging, um die Person noch mal zu segnen, ein Gebet zu sprechen, fragt sie, kann ich nicht doch mitkommen? - Ich führe das darauf zurück, in so einer Begleitung wächst so ein Vertrauens- und Schutzverhältnis."
Ob plötzlicher Todesfall oder schweres Unglück - für die Rettungskräfte bedeutet jeder Einsatz Stress. Sie wissen, welche Verantwortung sie tragen. Dr. Marie-Theres Binsfeld hat im Laufe der Jahre gelernt, damit umzugehen. Gute Zusammenarbeit im Team hilft, Erfahrung und: darüber reden - auch schon während des Einsatzes.
"Man sagt zum Beispiel, die Intubation hat gut geklappt, wir haben den Patienten gut versorgt okay, es hat nicht an meinem Unvermögen gelegen. In dem Moment, wo man spricht, sinkt das Ganze schon ein ganzes Stück nach unten."
Doch es gibt Bilder, die wird keiner mehr los.
Dr. Marie-Theres Binsfeld: "Es gibt Orte in der Grafschaft, wenn ich mit dem Auto vorbeifahre, dann schießen mir die Bilder wieder in die Augen. Also, dass ich Erhängte sehe, furchtbare Unfälle, Tod und Verderben. Das ist dann schon schwierig, dann brauche ich so einen Moment, bin ein bisschen traurig, dann geht es aber wieder."
Christian Holthuis: "Nein, Routine wird so etwas nie. Man lernt auf eine Art damit umzugehen, vergessen tut man das nie. Kinder sind ganz extrem, das geht einem immer mit und da wird auch regelmäßig darüber gesprochen."
Christian Holthuis ist seit vielen Jahren Mitglied bei der Freiwilligen Feuerwehr Nordhorn. Dem 31 Jahre alten Berufskraftfahrer und seinen Kameraden helfen die Gespräche bei der Verarbeitung traumatischer Erlebnisse. Bewährt hat sich vor allem eine kurze strukturierte Nachbesprechung direkt nach schweren Einsätzen. Mit Ludger Pietruschka. Denn der arbeitet ehrenamtlich auch als Feuerwehrseelsorger.
Ludger Pietruschka: "Dann gibt es eine Berichtsrunde, jeder sagt kurz, wo er gewesen ist in der Einsatzstelle, damit man das Ganze noch mal rekonstruiert, dann gibt es die nächste Runde, wo gesagt wird, was war für mich in dieser Situation besonders belastend. Und die letzte Runde sagt eigentlich, was habe ich aus diesem Einsatz auch mitgenommen. Damit ich nicht aus dem Feuerwehrhaus wegfahre mit dem Gefühl, oh, heute habe ich nur Niederlagen erlebt – beides gehört zusammen."
Frank Waterstraat: "Es gibt nicht DIE Nachsorgemaßnahme für alle, sondern man muss gucken auf sich selbst, die absoluten Basics - essen, schlafen, Sport. Und dann eben sehen, was hilft mir? Es gibt Menschen, die müssen darüber reden, wieder andere reden gar nicht und machen das mit sich selber aus. So aus der Erfahrung heraus würde ich sagen, dass eine gute Gesprächskultur in der betroffenen Organisation ganz entscheidend ist."
Christian Holthuis: "Bei uns in der Feuerwehr halten eigentlich alle zusammen. Wenn einer reden muss, dann sagt keiner, jetzt geh mal woanders hin oder so, dann hören eigentlich auch alle, die im Umfeld sind, zu. Also die Gemeinschaft bei uns in der Feuerwehr ist stark. Ich glaub, ohne dem würde es auch gar nicht gehen."
Vor Kurzem stieß der erfahrene Feuerwehrmann jedoch an seine Grenzen.
Christian Holthuis war mit dem Lkw unterwegs, eine Frau geriet unter sein Fahrzeug. Sie überlebte den Unfall nicht.
"Am Anfang habe ich mich immer gefragt, was denkt so ein Mensch jetzt, der jetzt gerade einen schweren Unfall gehabt hat? Durch mein eigenes Widerfahren kann ich sagen, ich verstehe diese Menschen, wie die denken. Die stehen einfach nur neben sich in dieser Situation, solange bis die professionelle Hilfe da ist."
Unterstützung fand er nicht nur bei Familie und Freunden, sondern auch bei Ludger Pietruschka.
Christian Holthuis: "Allein dieses Gespräch, dass es ein Unfall gewesen ist. Man macht sich da auch immer schnell selbst Vorwürfe, der Notfallseelsorger geht da mit einem durch, ich war auch mit dem Notfallseelsorger bei der Unfallfamilie zusammen. Der hat mir echt daraus geholfen aus dieser Situation.""
Voraussetzung für die Mitarbeit in der Notfallseelsorge ist eine kirchlich anerkannte Ausbildung. In Kursen lernen künftige Notfallseelsorger von Ludger Pietruschka und Frank Waterstraat zum Beispiel, wie man eine Todesnachricht überbringt oder wie man gut mit Rettungskräften und Polizei zusammenarbeitet. Bisher sind vor allem hauptamtliche kirchliche Mitarbeiter in der Notfallseelsorge tätig.
Frank Waterstraat: "Wir haben eine Ausbildung sowohl zum Diakon, als auch zum Pfarrer mit hohen Praxisanteil und Reflexionsanteil - wir gehen davon aus, dass die Kollegen und Kolleginnen das in die Situation mit hineinbringen. Und wir gehen davon aus, dass sie natürlich regelmäßig mit Sterben und Tod im normalen Gemeindealltag zu tun hatten."
Zunehmend engagieren sich auch immer mehr Ehrenamtliche. Persönliches Engagement ist wichtig bei dieser anspruchsvollen Arbeit, ebenso wie eine gute Ausbildung. Und: dass sich die Notfallseelsorge auch in Zukunft weiterentwickelt.
Ludger Pietruschka: "Was mir gut gefällt und wo wir auf dem Wege sind, dass die Notfallseelsorger, die bei Herrn Waterstraat im Raum Hannover ausgebildet werden, die gleiche Ausbildung bekommen wie die hier im Westen. Auf die Dauer wollen wir sozusagen Grundstandards haben. Dass man für die Rettungsdienste das gleiche Profil bekommt, denn dann ist man gut einsetzbar."
Frank Waterstraat: "Ich hoffe, dass es gelingt, die bestehenden Systeme weiter zu etablieren, gute ehrenamtliche Kräfte in unsere Systeme einzubinden, ich hoffe, dass es gelingt, Interdisziplinarität weiter auszubauen und dass dieses Angebot weiter erhalten bleibt, dass Menschen in akuter Not wissen, Kirche ist für sie da und ansprechbar, wenn sie es wollen."
Eschede, 3. Juni 1998. Der ICE 884 "'Wilhelm Conrad Röntgen" entgleist auf der Fahrt von München nach Hamburg.
"Kreuz und quer, Schienen und scharfe Kanten, abgebrochene Achsen – das sind ja unheimliche Kräfte. die da frei werden. Ich habe mehr oder weniger nur die Leute beruhigt, weil man kann ja als Laie nicht viel helfen. Decken geholt, Hand gehalten und gut zugesprochen eigentlich nur."
Frank Waterstraat: "Das war wie im Fernsehen. Rational war mir klar, was da passiert ist, aber wenn man da in diesem Trümmerberg stand, das war schon sehr beeindruckend, auch mit dem Hintergrundwissen der über 100 Toten. Ich habe einige Minuten gebraucht, um mich zu sortieren, hin zur Rationalität und zum Handeln mit den Leuten, die eingesetzt waren."
Frank Waterstraat, der Beauftragte für Notfallseelsorge in der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Hannover, organisierte die Einsätze der Notfallseelsorger in Eschede mit.
"Genug Leute haben, diese Leute ablösen, nicht immer dieselben einsetzen, für Verpflegung sorgen auch, und schauen, dass wir unseren Part organisatorisch auf die Reihe bekommen. In der Situation müssen Sie eine Distanz bewahren, die handlungsfähig hält, sonst geht das nicht."
Rund 80 evangelische und katholische Notfallseelsorger arbeiteten damals überkonfessionell zusammen, waren rund um die Uhr für Verletzte, Rettungskräfte und Angehörige da.
"Jemanden in der Situation zu sagen, du musst jetzt nach vorne schauen, das Leben geht weiter – das ist grundsätzlich richtig, nur das hilft einem Menschen nicht, der den Eindruck hat, ihm ist die Basis seines Lebens unter den Füßen weggezogen worden. Da sein ist unheimlich wichtig, es mit den Menschen gemeinsam aushalten, Schilderungen aushalten, Tränen, Trauer, Verzweiflung – ja und sozusagen ein Geländer sein, an dem diese Menschen ein Stück des Weges gehen können."
Gisela Angermann: "Da ist er zum Beispiel, guckt relativ freundlich, ein bisschen hager. Und dieses Teil aus Peru, das hätte er so gerne gehabt. Da war ich 97. Ich wollte es später einmal verschenken. Dann habe ich es sozusagen ihm vorher gegeben - vor sein Bild. So kleine Verrücktheiten, die helfen."
Doch der Schmerz bleibt, auch über elf Jahre nach der Zugkatastrophe, er ist nur etwas schwächer geworden. Gisela Angermann aus Göttingen verlor in Eschede ihren 29-jährigen Sohn Klaus. Er wollte nach Hamburg zu einem Bewerbungsgespräch. Schwer verletzt wurde Klaus Angermann aus dem ICE gerettet. Die pensionierte Lehrerin konnte mit ihren beiden Töchtern noch Abschied nehmen. Eine evangelische Notfallseelsorgerin war an ihrer Seite.
"Ich bin nicht auf die Dame von der Seelsorge zugegangen. Sie war, sagen wir mal, begleitend da. Als Möglichkeit, angesprochen zu werden, beschützend um mich herum. Ich krieg auch ihr Gesicht nicht mehr zusammen, ich spür aber ihre Anwesenheit."
Religiös ist Gisela Angermann nicht. Trotzdem konnte ihr die Notfallseelsorgerin damals helfen.
Auch bei der zentralen Trauerfeier für die Opfer der ICE-Katastrophe in der Stadtkirche in Celle.
.
"Es tat gut, in dieser Menge von Leuten - wo man sich so irgendwo im Mittelpunkt fühlte, der einem aber unangenehm war - dass da so ne bekannte Person war, dass man aus seinem komischen magischen Kreis raus konnte. Und auf jemanden gucken konnte, der über die Angelegenheit Bescheid wusste, aber nicht noch sonstige Bezüge hatte."
Frank Waterstraat: "Wir stehen dafür, dass es über diese Situation des Todes hinaus, des Abbruchs von Lebensperspektiven etwas geben kann – und dafür stehen wir als Person. Wir stehen dafür mit sehr sparsam eingesetzten Gesten, etwa Entzünden einer Kerze, sehr auf die Wünsche des Betroffenen abgestimmten Gebeten und Segenshandlungen. Notfallseelsorge muss sehr genau hinschauen, ist ein kirchlich-christliches Ritual hier angebracht oder nicht."
Gisela Angermann: "Auf dem Granitstein meiner Großmutter steht 'Nicht verloren, nur vorangegangen'. Und als mir das so einfiel, dachte ich, och, das ist doch ein guter Gedanke."
Gisela Angermann "rettete sich über Aktion" – wie sie sagt. Sie schloss sich mit anderen Hinterbliebenen zur "Selbsthilfe Eschede" zusammen und nahm an dem psychologischen Nachbetreuungsprogramm für Angehörige teil.
"Dann wird man so aus dem Einzelfall, wo die Umgebung oft wenig mitfühlend ist, erlöst. Wenn man so fürchterliche Aussagen hört, von seinem Arbeitskollegen 14 Tage danach 'Na ja, nun bist du ja drüber weg.' So hat uns das so zusammengeschweißt, weil wir gegenseitig uns so entlasten konnten. Insofern sind so ne Gruppen doch eine große Hilfe."
Aber auch die Helfer brauchen Hilfe, um die belastenden Eindrücke zu verarbeiten. Das wurde deutlich nach dem schweren Zugunglück. Eine "Koordinierungsstelle Einsatznachsorge" wurde gegründet und bot erstmals über einen längeren Zeitraum umfassende psychosoziale Beratung an.
Frank Waterstraat hat in der evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannover die Notfallseelsorge mit aufgebaut. Besonders wichtig ist für ihn die zunehmende Vernetzung. Nicht nur mit den anderen Kirchen, mit Rettungsorganisationen oder Feuerwehren.
"Ich glaube, auch der Gedanke der Interdisziplinarität ist mit Leben gefüllt. Wenn ich mir meine Kollegen und Kolleginnen angucke, wie eng die Kontakte zu den Notärzten sind, zu einzelnen Psychotherapeuten – da ist eine Menge passiert und ich glaube, das ist ein guter Weg: organisatorisch und auch fachlich vernetzen."
Ein Beispiel von vielen: Nordhorn im Landkreis Grafschaft Bentheim.
"Feuerwehr- und Rettungsleitstelle Nordhorn, Hindrichs. Ich brauche dich einmal in Suddendorf in der Blumenstraße ..."
Hier laufen die Fäden zusammen. Vor Ort entscheiden die Rettungskräfte, ob ein Notfallseelsorger gebraucht wird und benachrichtigen dann die Feuerwehr- und Rettungsleitstelle Nordhorn. Denn jede Situation ist anders und jeder Mensch reagiert anders auf Extremsituationen. Trauer und Verzweiflung sind oft ganz "normale" Reaktionen auf ein "unnormales" Ereignis. Doch wenn Betroffene sich nicht äußern, unruhig sind, anfangen, an den Fingernägeln zu knabbern, dann gehen bei Dr. Marie-Theres Binsfeld, der ärztlichen Leiterin des Rettungsdienstes in Nordhorn, die Alarmglocken an.
"Die Introvertierten, da mache ich mir mehr Gedanken, weil ich Sorge habe, die finden niemanden, der ihnen Gehör schenkt. Sie sind nicht laut, sie sind ruhig, zurückgezogen, sie brauchen dringend Hilfe. Die anderen brauchen auch Hilfe, aber da habe ich nicht so die Sorge, dass sie nicht selbst dafür sorgen, Hilfe zu bekommen."
Ludger Pietruschka: "Ein Motto der Feuerwehren, das trifft auch für die Notfallfürsorge zu, ist 'Wir gehen dahin, wo andere rauslaufen.' Das heißt, ich muss mich erst einmal selbst auch ein Stück überwinden, dafür haben wir aber auch unsere Ausbildung, dass ich wirklich mich in diese Situation hinein begebe."
Die menschliche Katastrophe ist auch für Ludger Pietruschka Alltag. Der 55 Jahre alte katholische Pastoralreferent ist leitender Notfallseelsorger für den Landkreis Grafschaft Bentheim. Aus Er -fahrung weiß er, wie wichtig Notfallseelsorge nicht nur nach den sogenannten Großschadenseinsätzen wie in Eschede oder Lathen ist. Zum Alltag gehören vor allem innerhäusliche Notfälle: gemeinsam mit der Polizei eine Todesnachricht überbringen oder ein plötzlicher Todesfall in der Familie. Manchmal auch ein Verkehrsunfall oder ein Selbstmord.
Ludger Pietruschka: "Ich könnte biblisch sagen in Johannes 10, 10 steht, ich will, dass sie das Leben haben und in Fülle haben. Es soll nicht der, der etwas Schweres erlebt hat, daran zerbrechen. Deshalb ist es wichtig, dass von Anfang an in dieser Situation jemand in seiner Nähe ist, um die Möglichkeiten, die sein Leben schon wieder hat, aufzublühen, auch fördert. Nicht womöglich noch runtertrampelt und lange damit allein lässt."
Ludger Pietruschka sieht sich nicht als Therapeut, und er will auch nicht missionieren. Wichtig für ihn: einfach da zu sein, in der akuten Notsituation das Unfassbare aushaltbar zu machen. Wenn eine Frau nach Hause kommt etwa und der Lebenspartner tot in der Wohnung liegt.
"In der ersten Phase frage ich auch nur, was ist eigentlich passiert? Damit dieser Film, was man eigentlich erlebt hat, wieder für diese Person greifbar wird. Und dann kommt vielleicht eine Phase, wo ich vorschlage, ob sie von dieser Person noch mal Abschied nehmen will. Und dann heißt es zunächst, nein, nein, das mache ich auf keinen Fall. Dann sage ich, das ist in Ordnung, dann können wir mal gucken. Und als ich dann hinging, um die Person noch mal zu segnen, ein Gebet zu sprechen, fragt sie, kann ich nicht doch mitkommen? - Ich führe das darauf zurück, in so einer Begleitung wächst so ein Vertrauens- und Schutzverhältnis."
Ob plötzlicher Todesfall oder schweres Unglück - für die Rettungskräfte bedeutet jeder Einsatz Stress. Sie wissen, welche Verantwortung sie tragen. Dr. Marie-Theres Binsfeld hat im Laufe der Jahre gelernt, damit umzugehen. Gute Zusammenarbeit im Team hilft, Erfahrung und: darüber reden - auch schon während des Einsatzes.
"Man sagt zum Beispiel, die Intubation hat gut geklappt, wir haben den Patienten gut versorgt okay, es hat nicht an meinem Unvermögen gelegen. In dem Moment, wo man spricht, sinkt das Ganze schon ein ganzes Stück nach unten."
Doch es gibt Bilder, die wird keiner mehr los.
Dr. Marie-Theres Binsfeld: "Es gibt Orte in der Grafschaft, wenn ich mit dem Auto vorbeifahre, dann schießen mir die Bilder wieder in die Augen. Also, dass ich Erhängte sehe, furchtbare Unfälle, Tod und Verderben. Das ist dann schon schwierig, dann brauche ich so einen Moment, bin ein bisschen traurig, dann geht es aber wieder."
Christian Holthuis: "Nein, Routine wird so etwas nie. Man lernt auf eine Art damit umzugehen, vergessen tut man das nie. Kinder sind ganz extrem, das geht einem immer mit und da wird auch regelmäßig darüber gesprochen."
Christian Holthuis ist seit vielen Jahren Mitglied bei der Freiwilligen Feuerwehr Nordhorn. Dem 31 Jahre alten Berufskraftfahrer und seinen Kameraden helfen die Gespräche bei der Verarbeitung traumatischer Erlebnisse. Bewährt hat sich vor allem eine kurze strukturierte Nachbesprechung direkt nach schweren Einsätzen. Mit Ludger Pietruschka. Denn der arbeitet ehrenamtlich auch als Feuerwehrseelsorger.
Ludger Pietruschka: "Dann gibt es eine Berichtsrunde, jeder sagt kurz, wo er gewesen ist in der Einsatzstelle, damit man das Ganze noch mal rekonstruiert, dann gibt es die nächste Runde, wo gesagt wird, was war für mich in dieser Situation besonders belastend. Und die letzte Runde sagt eigentlich, was habe ich aus diesem Einsatz auch mitgenommen. Damit ich nicht aus dem Feuerwehrhaus wegfahre mit dem Gefühl, oh, heute habe ich nur Niederlagen erlebt – beides gehört zusammen."
Frank Waterstraat: "Es gibt nicht DIE Nachsorgemaßnahme für alle, sondern man muss gucken auf sich selbst, die absoluten Basics - essen, schlafen, Sport. Und dann eben sehen, was hilft mir? Es gibt Menschen, die müssen darüber reden, wieder andere reden gar nicht und machen das mit sich selber aus. So aus der Erfahrung heraus würde ich sagen, dass eine gute Gesprächskultur in der betroffenen Organisation ganz entscheidend ist."
Christian Holthuis: "Bei uns in der Feuerwehr halten eigentlich alle zusammen. Wenn einer reden muss, dann sagt keiner, jetzt geh mal woanders hin oder so, dann hören eigentlich auch alle, die im Umfeld sind, zu. Also die Gemeinschaft bei uns in der Feuerwehr ist stark. Ich glaub, ohne dem würde es auch gar nicht gehen."
Vor Kurzem stieß der erfahrene Feuerwehrmann jedoch an seine Grenzen.
Christian Holthuis war mit dem Lkw unterwegs, eine Frau geriet unter sein Fahrzeug. Sie überlebte den Unfall nicht.
"Am Anfang habe ich mich immer gefragt, was denkt so ein Mensch jetzt, der jetzt gerade einen schweren Unfall gehabt hat? Durch mein eigenes Widerfahren kann ich sagen, ich verstehe diese Menschen, wie die denken. Die stehen einfach nur neben sich in dieser Situation, solange bis die professionelle Hilfe da ist."
Unterstützung fand er nicht nur bei Familie und Freunden, sondern auch bei Ludger Pietruschka.
Christian Holthuis: "Allein dieses Gespräch, dass es ein Unfall gewesen ist. Man macht sich da auch immer schnell selbst Vorwürfe, der Notfallseelsorger geht da mit einem durch, ich war auch mit dem Notfallseelsorger bei der Unfallfamilie zusammen. Der hat mir echt daraus geholfen aus dieser Situation.""
Voraussetzung für die Mitarbeit in der Notfallseelsorge ist eine kirchlich anerkannte Ausbildung. In Kursen lernen künftige Notfallseelsorger von Ludger Pietruschka und Frank Waterstraat zum Beispiel, wie man eine Todesnachricht überbringt oder wie man gut mit Rettungskräften und Polizei zusammenarbeitet. Bisher sind vor allem hauptamtliche kirchliche Mitarbeiter in der Notfallseelsorge tätig.
Frank Waterstraat: "Wir haben eine Ausbildung sowohl zum Diakon, als auch zum Pfarrer mit hohen Praxisanteil und Reflexionsanteil - wir gehen davon aus, dass die Kollegen und Kolleginnen das in die Situation mit hineinbringen. Und wir gehen davon aus, dass sie natürlich regelmäßig mit Sterben und Tod im normalen Gemeindealltag zu tun hatten."
Zunehmend engagieren sich auch immer mehr Ehrenamtliche. Persönliches Engagement ist wichtig bei dieser anspruchsvollen Arbeit, ebenso wie eine gute Ausbildung. Und: dass sich die Notfallseelsorge auch in Zukunft weiterentwickelt.
Ludger Pietruschka: "Was mir gut gefällt und wo wir auf dem Wege sind, dass die Notfallseelsorger, die bei Herrn Waterstraat im Raum Hannover ausgebildet werden, die gleiche Ausbildung bekommen wie die hier im Westen. Auf die Dauer wollen wir sozusagen Grundstandards haben. Dass man für die Rettungsdienste das gleiche Profil bekommt, denn dann ist man gut einsetzbar."
Frank Waterstraat: "Ich hoffe, dass es gelingt, die bestehenden Systeme weiter zu etablieren, gute ehrenamtliche Kräfte in unsere Systeme einzubinden, ich hoffe, dass es gelingt, Interdisziplinarität weiter auszubauen und dass dieses Angebot weiter erhalten bleibt, dass Menschen in akuter Not wissen, Kirche ist für sie da und ansprechbar, wenn sie es wollen."