"Der erste Satz muss sitzen"
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Wie sollte ein Roman beginnen, der es in den Kanon der Weltliteratur schafft? Peter-André Alt liefert in seinem Buch berühmte Beispiele von Franz Kafka bis Günter Grass. In der Antike bat man dafür sogar die Götter um Beistand, verrät der Germanist.
Joachim Scholl: Bei uns im Studio ist Peter-André Alt, einer der profiliertesten deutschen Germanisten. Er war Präsident der Freien Universität Berlin, jetzt leitet er die Hochschulrektorenkonferenz, und als Autor hat er die Fachwelt wie ein breites Publikum entzückt mit großen Biografien über Franz Kafka, Friedrich Schiller, gleich zwei Bände waren das, zuletzt einer über tausendseitigen Monografie über Sigmund Freud. Jetzt gibt es was Neues: "Jemand musste Josef K. verleumdet haben … - Erste Sätze der Weltliteratur und was sie uns verraten". Schon im Titel das klare Programm. "Am Beginn jeder Erzählung steht ein Verführungsversuch." Das ist schnörkellos Ihr erster Satz, Herr Alt. Wie schwer, wie leicht war es, ihn zu finden?
Alt: Eigentlich sehr leicht, weil das auch die These des Buches ist. Erste Sätze haben eine ganz wichtige Funktion. Sie sind vielleicht die zentralen Sätze eines jeden Romans, einer jeden Erzählung, denn von ihnen hängt ab, ob das Buch Gefallen findet, ob man weiterliest. Natürlich hat ein Buch mehrere Chancen als nur den ersten Satz, aber der erste Satz muss sitzen, sonst funktioniert es nicht mit der Lektüre.
Unklare Befunde, scharfkantige Aussagen
Scholl: Sie bieten nun eine wirklich opulente Palette von ersten Sätzen auf insgesamt 249 Anfänge erzählender Prosa. Beginnen wir gleich mal mit dem Titelgebenden: "Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne, dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet." So beginnt Franz Kafkas "Prozess". Was verrät uns dieser erste Satz?
Alt: Der wirft eine Menge Fragen auf und macht dadurch unerhört neugierig. Deswegen ist er ein genialer Anfang. Er zeigt aber auch, wenn man ihn genau liest, dass es in diesem Roman keine Sicherheiten gibt. Alles bleibt unklar. Es gibt eine Verleumdung, es gibt eine Verhaftung, aber wer Josef K. verleumdet hat, erfahren wir nicht. Es heißt nur "jemand". Was er getan hat, wissen wir auch nicht. Eigentlich hat er nichts Böses getan, dann steht da aber: "getan hätte", ein merkwürdiger Konjunktiv. "Eines Morgens" bleibt auch sehr unklar. Also lauter unklare Befunde und zugleich eine ganz scharfkantige Aussage: Verleumdung, Verhaftung. Das macht genau die Spannung dieses Romans aus.
Scholl: War Kafka ein guter verführerischer Anfänger?
Alt: Er war einer der großen Meister erster Sätze. Er hat immer wieder mit ersten Sätzen fasziniert. In der "Verwandlung" wacht jemand auf, das ist gleich der erste Satz, und sieht sich in ein ungeheures Ungeziefer verwandelt. Genialer Anfang. Also es gibt kaum bessere Anfänge.
Scholl: Sie entfalten in Ihrem Buch jetzt eine historisch angelegte Typologie, die von Homers "Odyssee" bis zu "Käpt’n Blaubär" von Walter Moers reicht, charmanterweise. Wie haben sich denn Romananfäge über die Epochen entwickelt?
Alt: Also zunächst mal muss man wissen, dass in der Antike die epischen Erzähler den Beistand der Götter suchen. Erzählen ist nichts, was man aus eigenem Antrieb tut, sondern man wird dazu inspiriert durch höhere Mächte, und das steht am Anfang. Die Anrufung der Götter ist sozusagen eine ritualisierte Formel am Beginn. Auch später war Erzählen keine Selbstverständlichkeit, auch in der frühen Neuzeit, im 16. und 17. Jahrhundert müssen sich die, die Romane erzählen, also Lügengeschichten servieren, rechtfertigen für das, was sie da tun. Das tun sie auf sehr geschickte Weise, indem sie behaupten, das sei alles Wirklichkeit oder sie hätten die Materialien von anderen zugespielt bekommen. Also das ist literaturgeschichtlich sehr interessant, eh man dann wirklich umstandslos gleich mit der Geschichte beginnt, müssen viele Jahrzehnte und Jahrhunderte sogar vergehen.
Riskante und unspektakuläre Anfänge
Scholl: Das heißt, erste Sätze zeigen so im geschichtlichen Verlauf, wie sich Literatur dann doch immer mehr emanzipiert.
Alt: Wie sie sich emanzipiert, wie sie sich auf ihre Kernaufgabe zu unterhalten, eben auch zu verführen, zu fesseln, mehr und mehr selbst besinnen darf. Das geschieht erst im Laufe der Aufklärung im 18. Jahrhundert. Dann setzt sich die Literatur frei, und dann werden die Anfänge auch immer riskanter, immer heftiger, immer unvermittelter.
Scholl: Sie teilen Ihre Romananfänge jetzt in verschiedene Kategorien ein, also ein Text beginnt zum Beispiel mit einer Ortsbeschreibung, er beginnt mit einer Person, einem Ereignis, einer Stimmung. Schauen wir uns doch mal weitere berühmte erste Sätze an, Peter-André Alt. Goethe, Bildungsroman, Klassiker "Wilhelm Meisters Lehrjahre", ganz kurzer Satz: "Das Schauspiel dauerte sehr lange." Was ist das denn für ein Satz?
Alt: Es ist eigentlich ein sehr unspektakulärer Anfang, der auf einen Zustand des Wartens verweist. Da sitzt jemand und wartet, nämlich auf die Schauspielerin, die in diesem Schauspiel engagiert ist. Zunächst mal zeigt dieser Anfang, in dem Roman geht es viel um Theater. Das ist genau das, was im Anfang, im ersten Drittel dominiert, das große Thema. "Dauerte sehr lange" heißt auch zugleich, die Neigung des Helden, der das Theater liebt, wird sehr lange dauern, ehe er sich dann eines neuen Weges besinnt und auf Wanderschaft geht und neue Erfahrungen erschließt. Also insofern stimmt uns dieser erste Satz auf ein Leitmotiv des Romans bereits ein.
Scholl: Jetzt springen wir mal ins Bett: "Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen." Der wohl kürzeste Satz aus Marcel Prousts Romanzyklus "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit". Was hat es denn mit dem auf sich?
Alt: Auch das ist ein eher unspektakulärer Anfang. Man könnte ja sogar in einem Schreibseminar vielleicht vermuten, dass den jungen aufstrebenden Autoren gesagt wird, fangt bitte nicht so an, das ist ja langweilig. Früh schlafen gehen ist nun das Unspektakulärste, was man sich vorstellen kann, aber das bezieht sich auf die Rolle des Erzählers, der von der Gesellschaft spricht, aber doch eigentlich einer ist, der zugleich auch fern der Gesellschaft steht. Diese großen Abendvergnügungen, die einen großen Teil des Romanzyklus ausmachen, die werden aus der Distanz beschrieben von jemandem, der gern im Bett liegt und gern früh zur Ruhe kommt, um das zu betätigen, was die große Triebkraft dieses Romans ist, nämlich die Erinnerungsfähigkeit.
Zündender und aggressiver Beginn
Scholl: Zündender und auch ein bisschen aggressiver klingt dieser Satz: "Zugegeben, ich bin Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt." Günter Grass, "Die Blechtrommel". Das ist ein anderer Schnack.
Alt: Das ist ein anderer Anfang. Da weiß man sofort, woran man ist, nämlich man ist beim Erzähler gelandet, auf den man sich nicht richtig verlassen kann, der womöglich verrückt ist, der Insasse einer Heilanstalt ist, einer, der keine gerade gewachsene Geschichte erzählt, sondern eine, die krumm und schief ist. Das genau ist "Die Blechtrommel", ein Schelmenroman, erzählt von einem, der nicht wachsen will und der sich der Welt nicht unterwerfen möchte.
Scholl: Was ist jetzt mit den dreizehneinhalb Leben des Käpt’n Blaubärs, Walter Moers? Ich finde diese Figur ja allerliebst. "Ein Leben beginnt gewöhnlich mit der Geburt, meins nicht." Fand ich damals schon super.
Alt: Ja, das ist natürlich ein toller Anfang. Der zeigt, dieser Held fällt aus allen üblichen Rahmungen heraus. Zugleich ist es ein Satz, der hohe Kunstfertigkeit verrät. Das ist ein Satz, der macht extrem neugierig, und der zeigt uns auch natürlich, diese Geschichte ist nicht an den Kriterien des realistischen Romans zu messen, sondern da geschehen viele Verrücktheiten, Fantastisches, da bewegen sich Inseln und werden zu lebendigen Wesen, und da reisen wir in die Schädelwindungen von merkwürdigen Fabelfiguren. Also da überbordet die Fantasie, und das zeigt dieser erste Satz schon an.
Thomas Mann: "Ich bitte, neu ansetzen zu dürfen."
Scholl: Sie zitieren quer durch Ihr Buch natürlich auch viele Schriftstellerstimmen, die immer betonen, wie wichtig ja der erste Satz ist, oder mit dem ersten Satz steht das Buch oder mit dem ersten und letzten. Es gibt aber auch Sätze, die interessanterweise überhaupt nicht verführen und nicht reinziehen. Also zum Beispiel beginnt der "Doktor Faustus" von Thomas Mann mit einem endlos gewundenen Satz über zehn bis zwölf Zeilen, wo der Erzähler Serenus Zeitblom umständlichst erklärt, warum er jetzt diese Geschichte aufschreibt. Also ich möchte nicht wissen, wie viele Erstleser und -leserinnen von vornherein jede Lust verloren haben, weiterzulesen. Ich meine, Thomas Mann war doch eigentlich ein Fuchs.
Alt: Also man kann natürlich sagen, wer den ersten Satz des "Doktor Faustus" übersteht, der ist gut gewappnet für einen Roman, der schon auch gewisse Anforderungen stellt an seine Leserinnen und Leser. Dieser gewundene erste Satz, der scheitert ja auch grammatisch, und der Erzähler schafft es nicht, seinen Faden zu spinnen, der hält die Konzentration nicht, weil er nämlich gleichzeitig von seinem Protagonisten, seinem Freund Adrian Leverkühn, dem Komponisten und von sich selbst, dem Erzähler sprechen will. Das schafft er nicht, deswegen heißt es ein wenig später: "Ich bitte, neu ansetzen zu dürfen." Auch eine unglaubliche Ironie. Da gesteht einer, mir ist das gründlich danebengegangen, das Anfangen.
Scholl: Also einer meiner Lieblingssätze ist von Thomas Mann: "Die Amme hatte schuld" aus "Der kleine Herr Friedemann", vier Worte, die ganze Tragödie ist schon da. Genial, oder?
Alt: Unglaublich. Ein Kind, das unter einer schweren Behinderung leidet, und die ist zurückzuführen darauf, dass die Amme unachtsam war und das Kind hat vom Wickeltisch fallen lassen. Ein Satz, der genau diese Tragödie schon anzeigt. Knapper geht es gar nicht, der sagt alles.
Scholl: Haben Sie einen All-time-Lieblingsanfangssatz?
Alt: Also wir haben jetzt schon über Kafkas "Prozess" gesprochen, wir haben gesprochen über den Satz, der "Die Blechtrommel" eröffnet. Das sind Lieblinge. Ich habe aber noch einen anderen, der gehört zu den großen klassischen Romananfängen: "Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre Art." So beginnt Tolstois "Anna Karenina". Das ist ein Satz, der sagt sehr viel aus auch über Literatur, denn das, was ähnlich ist am Glück, das liegt im Idyllischen, in der Liebeserfüllung, und vom Glück kann man nicht so gut erzählen, aber vom Unglück kann man gut erzählen, weil es so vielfältig ist.
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