"Erster deutscher Popautor"

Moderation: Jürgen König |
Anlässlich des 30. Todestages von Wolf Dieter Brinkmann hat der Bayerische Rundfunk Originaltonaufnahmen des Dichters aus dem Jahr 1973 herausgebracht. Den "ersten wichtigen deutschen Popautor" habe es fasziniert, durch die künstlerische Erprobung eines Mediums bis an seine Grenzen Extreme zu erfahren, sagte Herausgeber Herbert Kapfer. Jede Stimmung und Situation werde schonungslos dokumentiert.
König: Das einzige Genie unter den jüngeren bundesrepublikanischen Literaten hat Heiner Müller ihn genannt, den Schriftsteller Rolf Dieter Brinkmann, der mit Schlips und Konfirmandenanzug gegen alte Dichter und literarische Konventionen ankämpfte, der wilde Rolf Dieter Brinkmann, auch so hat man ihn genannt. Morgen ist sein Todestag, morgen vor 30 Jahren wurde Rolf Dieter Brinkmann im Londoner Stadtteil Bayswater von einem Auto überfahren. Der Bayerische Rundfunk hat zu diesem Jahrestag den akustischen Nachlass des Rolf Dieter Brinkmann neu herausgegeben auf sechs CDs. Herbert Kapfer hat das Projekt betreut, er ist Leiter der Abteilung Hörspiel und Medienkunst beim Bayerischen Rundfunk. Herr Kapfer, das einzig Genie unter den jüngeren bundesrepublikanischen Literaten hat Müller ihn genannt. Teilen Sie diese Einschätzung?

Kapfer: Was den Geniebegriff betrifft, den würde ich mit Vorsicht verwenden, aber es ist natürlich schon so, dass Brinkmann ganz, ganz gewaltige Spuren hinterlassen hat und dass er vor allem auch in der jungen Leserschaft und der heutigen Generation der 30-Jährigen absolut präsent ist, eben weil er als der erste deutsche, wichtige Popautor gilt.

König: Nehmen wir vielleicht mal einige biographische Daten: geboren 1940, aufgewachsen in einer oldenburgischen Kleinstadt, das Gymnasium verließ er ohne Abschluss, bekam verschiedene Ausbildungen, jobbte hier und da, mit Anfang 20 begann er zu schreiben, Erzählungen, Essays, Hörspiele, Gedichte, das alles geschrieben, wie damals Peter von Becker in der Süddeutschen Zeitung schrieb, mit wütender Vehemenz. Brinkmanns zentrales Thema, der Alltag, der anstrengende, auch verwirrende Alltag in der Großstadt. Brinkmann interessierte sich früh schon für Multimediales, organisierte Performances verschiedenster Art und nicht zu vergessen, Rolf Dieter Brinkmann war auch Übersetzer und Herausgeber englischer und amerikanischer Pop- und Undergroundliteratur. Sie haben es eben schon angesprochen. Dies ist ein kleiner biographischer Abriss. Herr Kapfer, Sie haben nun sehr lange mit seinen Texten gearbeitet und fast hätte ich gesagt gelebt. Was für einen Menschen haben Sie da kennengelernt? Wer war Rolf Dieter Brinkmann?

Kapfer: Ich habe Brinkmann persönlich ja nicht gekannt, aber ich kenne seine Texte einigermaßen, ich kenne auch Texte aus dem Nachlass und ich kenne vor allem eben auch Materialbände, wo man alles sehen kann, wie ein Autor, der vor allem als wilder, aggressiver Autor, als Beatautor, dargestellt wird, wie der also seine Text-Bild-Montagen herstellt. Das sind dann Seiten, wo jeder Millimeter genutzt wird und wo so und so viele Buchstaben in einem Raum von so und so viel Zentimetern passen. Daneben wird ein Bildchen geklebt und auf dieses Bild, diese Fotografie wird ein anderes Bild noch mal draufgeklebt, was aber auch zu tun hat eben mit einer ganz akribischen Arbeit, die man nicht betreiben kann in Akten der Aggression, sondern wo man sozusagen gründlich und genau sein muss und auch unbeschwert wie ein Briefmarkensammler mit seinem Album. Das ist ganz spannend. Aber die andere Seite ist natürlich die, dass Rolf Dieter Brinkmann eigentlich der Autor ist, der die frühen 70er Jahre Westdeutschlands mit einer Vehemenz dargestellt hat und gegen sie angeschrieen und angeschrieben hat, wie es unvergleichlich ist...

König: Das Ganze Elend der Adenauerzeit hat er wieder heraufbeschworen.

Kapfer:...gegen den deutschen Muff, gegen den Literaturbetrieb, gegen die Medien, gegen die Kontrolle in den Medien, gegen die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, gegen die Redakteure, gegen die Linke, gegen die Rechte, gegen die Frauen, gegen alles.

König: Der Bayerische Rundfunk hat den akustischen Nachlass des Rolf Dieter Brinkmann neu herausgegeben, auf sechs CDs, Herbert Kapfer hat das Projekt betreut, er ist Leiter der Abteilung Hörspiel und Medienkunst eben beim Bayerischen Rundfunk. Herr Kapfer, erzählen Sie uns von Ihrer Arbeit. Was haben Sie an Material vorgefunden und was haben sie daraus gemacht?

Kapfer: Ich muss gleich dazu sagen, ich habe das ja nicht alleine gemacht, ich habe es zusammen mit meiner Kollegin gemacht, Katharina Agathos und in Zusammenarbeit mit der Witwe von Rolf Dieter Brinkmann, mit Marleen Brinkmann. Das war sehr, sehr wichtig, denn Marleen Brinkmann, mit der ich in den frühen 90er Jahren zum ersten mal Kontakt hatte, hatte mir erzählt, es gäbe noch Tonbandaufnahmen von Brinkmann, die sie mir mal schicken wollte und die ich unbedingt hören müsste. Ich habe die unvergessliche Situation dann gehabt, dass wir zwei Tage in der Wohnung von Marleen Brinkmann 29 Tonbänder komplett durchgehört haben. Und das, was ich auf diesen 29 Bändern gehört habe, das ist - und das muss ich sagen mit einer Berufspraxis von mehreren Jahrzehnten Arbeit im Hörfunk - das sind die sensationellen, spannendesten Originaltöne, die ich jemals gehört habe.

König: Inwiefern?

Kapfer: Als da jemand ist, und eine Stimme ist und ein Autor ist, der mit dem Tonband und dem Tonbandgerät, mit dem Mikrofon alles macht, was man mit diesen Medien machen kann. Das heißt, man geht durch die Straßen und macht Reportagen, man improvisiert Monologe ins Mikrofon, man geht in die Küche und befragt Marleen Brinkmann, was sie gerade kocht. Man spielt mit seinem Sohn und blödelt mit ihm rum. Man schabt und kratzt am Mikro und versucht Geräusche zu erzeugen und einfach zu schauen, was noch alles mit diesem Gerät veranstaltet werden kann, man kommt mit provozierenden Fragen in Kneipen und stellt Fragen an Kneipenbesucher: Wann haben Sie zum letzten mal gefickt? Fragetechniken, die sozusagen hinter dieser ersten provozierenden Frage immer weitere Fragen stellen und man ist erstaunt, dass Menschen sich auf das Gespräch einlassen.

König: Hat der Kneipengast geantwortet?

Kapfer: Ja, ja, das gibt dann ein Gespräch, dass sich über mehrere Minuten erstreckt. Provokation und Menschen in die Enge treiben und schauen, dass man auf die Medien menschliches Verhalten von so in die Enge getrieben Menschen, dass man das dokumentiert. Eigentlich eine unfaire Art und Weise, die aber bestimmte Verhaltensreaktionen zu Tage bringt, die man so nicht erfahren könnte. Das ist aus meiner Sicht auch sehr spannend oder auch legitim, wenn man so schonungslos umgeht auch mit sich selber. Brinkmann hat sich sozusagen in jeder Stimmung und Situation dokumentiert. Da sind auch Bänder da mit Partys, die aufgenommen wurden, da gibt es eine Sequenz, die überhaupt nicht lamoyant, wo er nur den Kontostand seines Kontos bei der Stadtsparkasse in Köln vorliest.

König: Vermutlich ein deprimierender Wert?

Kapfer:...der ein deprimierender ist und der sozusagen ein Cut ist, der damit endet, er wüsste nicht, wie er jemals dieses Minus ausgleichen soll.
König: Welches Ziel verfolgte Brinkmann mit seiner Arbeit? Worauf sollte das alles hinauslaufen?

Kapfer: Ich glaube, das war eine kreative, ein künstlerische Erprobung des jeweiligen Mediums bis an die Grenzen. Die Extreme zu erfahren, das hat ihn offensichtlich und auch seine Umgebung, sehr, sehr stark fasziniert.

König: Was ich mir - nachdem was ich gelesen haben an Texten bei Rolf Dieter Brinkmann - überhaupt noch vorstellen kann ist Heiterkeit. Nun klingt das ja aber, was Sie erzählen, teilweise sehr komisch, wenn ich an die Geschichte mit den Kontoständen denke. Enthalten die Bände auch Komisches?

Kapfer: Nein, überhaupt nicht.

König: Er war ein ganz ernster Mensch?

Kapfer: Ein Rezensent hat das geschrieben, ich muss es bestätigen. Es ist eine humorfreie Angelegenheit. Dass man trotzdem an bestimmten Stellen lachen muss, hat auch etwas damit zu tun, dass zum Beispiel es heute wirklich zum Teil sehr, sehr seltsam klingt, wenn man feststellt, wie sich Brinkmann über Frauen geäußert hat. Also Positionen sage ich mal, vor der ersten harten feministischen Welle - 1973 da sind die Aufnahmen entstanden, im Herbst 1973 - jemand, der sich über die Sexualität des anderen Geschlechtes nie wirklich Gedanken gemacht hat und der nur, sozusagen, aus der Zentriertheit der eigenen Geschlechtsteile das Thema Sexualität betrachtet hat und der auch in einem Gespräch mit Marleen Brinkmann sich wirklich verfängt, weil er merkt, er kann bestimmten Fragen nur ausweichen. Das ist sozusagen sexuelle Revolution im Zustand 1958 oder so und das ist zum Teil so bizarr, dass das fast schon zum Lachen ist.

König: Nun haben wir so viel über Rolf Dieter Brinkmann gesprochen, nun wollen wir natürlich auch Ausschnitte von ihm hören. Was werden wir hören?

Kapfer: Wir hören ein Track mit dem Titel "Schreiben ist etwas völlig anderes" aus dem Jahr 1973. Das ist eine Sequenz. Rolf Dieter Brinkmann geht durch die Stadt Köln.

(…)

König: Ist das, was wir gehört haben so eine Art Vorläufertum des spoken word poetry unserer Tage?

Kapfer: Exakt, ganz genau, das aber auch mit allen Formen und einer sehr, sehr starken situativen Präsenz, das heißt, da sind auch Szenen zu hören, da kann man nur vermuten, wie die Straßensituation war, da kommt ein ganz, ganz, ganz überwältigend starker Lärm und in diesen Lärm rein brüllt Brinkmann: "Das ist die Poesie eines Güterzuges!", im nächsten Augenblick ist aber dieser Güterzug weg und er brüllt mit ganz großer Aggression offensichtlich zu irgendeinem Haus, er werde jetzt gleich mit der Brechstange aufräumen. Das heißt, es ist völlig unberechenbar, auf diesen Aufnahmen, was im nächsten Augenblick passieren wird.

König: Sie haben uns jetzt richtig neugierig gemacht. Ich danke Ihnen. Herbert Kapfer war das, Leiter der Abteilung Hörspiel und Medienkunst des Bayerischen Rundfunks. Die CDs mit Aufnahmen von Rolf Dieter Brinkmann sind in zwei Teilen erschienen: "The Last One" heißt die eine, enthält Autorenlesungen vom Cambridge Poetry Festival 1975. Eine CD kostet 19,90 Euro. Die andere Box heißt "Wörter, Sex, Schnitt", enthält Originaltonaufnahmen von 1973. Fünf CDs kosten 49,90 Euro. Die Gesamtedition ist erschienen bei Intermedium Records. Ein Gedichtband von Rolf Dieter Brinkmann "Westwärts", 1 und 2, neu herausgegeben, rezensieren wir übrigens heute Nachmittag gleich nach den Kulturnachrichten.
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