Jörn Leonhard: "Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs"
C. H. Beck, München 2014
in Leinen gebunden, Schutzumschlag, 62 Abbild., 14 Karten, 5 Tabellen, 4 Schaubild.
1157 Seiten, 38 Euro
Ein globaler mörderischer Taumel
Wie aus dem Stellungskrieg in Europa tatsächlich ein Weltkrieg wurde und welche Verwandlungen er in der Welt und Gesellschaft bewirkt hat, zeigt Jörn Leonhard umfassend und gründlich in seinem voluminösen Werk.
"Was war der Erste Weltkrieg?" Es ist Jörn Leonhard selbst, der diese suggestiv-simple Frage stellt, um sie in "Die Büchse der Pandora" so gründlich zu beantworten, dass nur ein Fazit möglich ist: Leonhards ingeniöses Werk setzt nach Komplexität und Tiefenschärfe neue Maßstäbe. Und zwar vor allem darum, weil Leonhard am Welt-Krieg beide Wortteile ganz ernst nimmt: Er zeigt den globalen Krieg, der Länder auf vier Kontinenten betrifft; und er zeigt die Verwandlung der Welt, der Gesellschaft, der Politik, der Institutionen, Medien, Technologien und Menschen - im Krieg und durch den Krieg.
Viele Weltkriegsbücher erwecken den Eindruck, dass letztlich die Westfront die Hauptsache war. "Die Büchse der Pandora" hingegen zeigt, dass der mörderische Taumel die halbe Menschheit und die Zivilisation als Ganzes betraf.
Leonhard verfolgt zwar auch Vor- und Nachgeschichte, versteht den Krieg aber als Epoche für sich:
"Es gibt eine Eigengeschichte, eine Geschichte von Dynamiken und Eigenlogiken des einmal ausgebrochenen Krieges, die jenseits von Vorher und Nachher liegen und die sich vermeintlichen Kausalgeraden und Kontinuitätslinien entziehen."
Eine Konsequenz daraus ist die modulare Kapitelanordnung. Alles kreist um bestimmte Problemkomplexe (etwa: "Multiethnische Kriegsgesellschaften: von der umkämpften Loyalität zur Eskalation ethnischer Gewalt"), die Leonhard fast immer in internationaler Perspektive untersucht; die Chronologie dient nur als grobes Raster.
Bewusst ins Risiko gegangen
Zur Eskalation des Kriegs trugen laut Leonhard alle Beteiligten bei - "in Belgrad, Wien und Berlin genauso wie in St. Petersburg, Paris und London". Was aber die mögliche Deeskalation angeht, nimmt Leonhard Deutschland und Großbritannien in besondere Verantwortung. Berlin ging mit dem Blanko-Scheck für Österreich-Ungarn bewusst ins Risiko, Großbritannien vergrößerte die europäische Krise ins Globale, als es nach der Verletzung der belgischen Neutralität zu den Waffen griff und das Empire involvierte.
Seekrieg, U-Boot-Krieg, Gaskrieg; "Drückeberger, Profiteure, Verräter"; die strategischen Sackgassen und neuen Taktiken; "Hunger und Mangel, Zwang und Protest" an den Heimatfronten; der Wandel der Politik, der Sprache und der bildlichen Repräsentation des Krieges; geschundene Körper, zerrissene Nerven und die Reaktion der Medizin; der Übergang des Krieges in die Revolution (zumal in Russland); "die wirtschaftliche und monetäre Tektonik des Krieges", das "Endspiel" 1918, die Zerfallskrise und die Unabhängigkeitskämpfe; schließlich die "Ausgänge": Leonhard hat ein scharfes Auge auf alles und steht unerhört sicher im Stoff.
Ist das Buch eine Überforderung? Bietet es schlicht zu viel? Nein! Erst gegen Ende schleicht sich - punktuell - der Eindruck ein, es ginge auch etwas straffer. Insgesamt aber ist "Die Büchse der Pandora" ein erlesener Hauptgewinn - vorausgesetzt, man bleibt konzentriert.
Eine Erkenntnis sticht in Leonhards zwölfteiligem Resümee deprimierend heraus:
"Der Sieger des Krieges war keine Nation, kein Staat, kein Empire [...]. Der eigentliche Sieger war der Krieg selbst, das Prinzip des Krieges, der totalisierbaren Gewalt als Möglichkeit."
Seither wird die Welt von dieser Möglichkeit bedroht - das ist das gefährlichste Erbe des großen Kriegs.