Tillmann Bendikowski: Sommer 1914. Zwischen Begeisterung und Angst - wie Deutsche den Kriegsbeginn erlebten
Bertelsmann, München 2014
464 Seiten, 16 Seiten farbiger Bildteil, 19,99 Euro
Eine Palette voller Emotionen
Nicht nur Patriotismus, sondern auch Unsicherheit und Desinteresse prägten die Gefühle der Menschen vor Kriegsbeginn. In "Sommer 1914" rekonstruiert der Historiker Tillmann Bendikowski die Lebenswelten von fünf Menschen, darunter ein Kaiser, eine Lehrerin und ein Dichter.
Ein Kaiser, ein Historiker, ein junger Sozialdemokrat, eine Lehrerin und ein Dichter: Sie alle haben den Sommer vor 100 Jahren miterlebt, das Attentat von Sarajewo, die wachsende Unsicherheit, die hektischen, diplomatischen Bemühungen, schließlich den Kriegsausbruch. Diese fünf Menschen begleitet der Historiker Tillmann Bendikowski in seinem Buch "Sommer 1914" durch die Monate Juni bis Oktober, er verfolgt die Ereignisse aus der kaiserlichen Vogelperspektive ebenso wie aus dem Blickwinkel des ganz normalen Bürgers.
Kaiser Wilhelm II. - ein nervenschwacher Mann
Dabei wird schnell klar, dass man sich von der Vorstellung eines allgemeinen "Hurra-Patriotismus“ verabschieden muss. Das beginnt schon bei Kaiser Wilhelm II., der sich mehr oder weniger ungeschickt durch die Tage laviert und das Bild eines überforderten und nervenschwachen Mannes bietet, der von seiner Umgebung bewusst unzureichend informiert wird und beharrlich an ein kurzes und lokal begrenztes Scharmützel glaubt.
Dem gegenüber stellt Bendikowski seine anderen Protagonisten und ihre Lebenswelten. Der Prorektor an der Universität Jena etwa, Alexander Cartellieri, empfindet den Krieg zunächst als Belästigung, die ihn von seinen eigentlichen Interessen ablenkt, ehe er sich mehr und mehr zum Patrioten entwickelt. Der überzeugte Sozialdemokrat Wilhelm Eildermann lehnt den Waffengang ab und behält diese Haltung konsequent bei, während sich in seiner Partei tiefe Gräben auftun.
Die Notwendigkeit des Krieges nie in Frage gestellt
Die tiefgläubige Volksschullehrerin Gertrud Schädla wiederum stellt die Notwendigkeit des Krieges nie in Frage, selbst als zwei ihrer Brüder in den ersten Monaten fallen; sie vertraut der "Kriegsunschuldslegende“. Und der hochbegabte Dichter Ernst Stadler, der eine Gastprofessur in Toronto antreten wollte, wird vom Kriegsausbruch daran gehindert: Er, der sich nicht opfern wollte, fällt Ende Oktober, und fast unheimlich mutet es an, wenn Bendikowski davon berichtet, wie eine Wahrsagerin dem jungen Mann bereits im Mai prophezeite, er werde eine geplante Reise nicht antreten und bald eines gewaltsamen Todes sterben.
Ganze Palette der damaligen Emotionen wird lebendig
Es ist ein etwas anderes Bild der Sommermonate 1914, ein Bild, das die kolportierte "allgemeine Kriegsbegeisterung“ relativiert. In Bendikowskis sprühender Prosa wird die ganze Palette der damaligen Emotionen lebendig, die Haltung der Pfarrer ebenso wie jene der Bauern oder der Juden, die Situation in den Großstädten und in der tiefsten Provinz, die Motivation der Freiwilligen und die Problematik der Politiker.
So entsteht ein großes Panorama komplexer und oft in sich widersprüchlicher Befindlichkeiten, Haltungen und Meinungen, angereichert mit zahlreichen, oft unbekannten Details - der Jagd auf angebliche "Goldautos“ etwa oder der "Umbenennungswut“, mit der "feindliche“ Fremdwörter aus der Sprache verbannt werden sollten.
Eine Pauschalabsolution freilich erteilt der Autor der deutschen Bevölkerung nicht. Auch wenn die Menschen in ihren jeweiligen Ideologien und Lebenssituationen gefangen waren, auch wenn sie sich kein Bild von dem machen konnten, was kam – "sie hätten“, so Bendikowski, "es wenigstens versuchen können.“