Erstes Treffen der "Gruppe 47"

Es gab Fisch zum Frühstück

Im Tagungsraum der Pulvermühle in Waischenfeld am 05.10.1967 sitzen die beiden Berliner Klaus Röhler und Hans Werner Richter, der Vorsitzende der Gruppe 47.
Im Tagungsraum der Pulvermühle in Waischenfeld am 05.10.1967 sitzen die beiden Berliner Klaus Röhler und Hans Werner Richter, der Vorsitzende der Gruppe 47. © picture-alliance / Karl Schnörrer
Von Susanne Lettenbauer |
Zwei Häuser und zwei Ortschaften stehen für Anfang und Ende der Gruppe 47. Am Bannwaldsee im Allgäu begann, was als einflussreichste Literatengruppe die junge Bundesrepublik prägte. In der fränkischen "Pulvermühle" traf sich die Gruppe 47 zum letzten Mal.
Der Wind weht kräftig an diesem Tag im Allgäuer Voralpenland. Seit der Abfahrt von der Münchner Autobahn geht es unermüdlich bergauf, bergab über Hügel, an Feldern, Tannen- und Fichtenwäldern vorbei, an kleinen Dörfern und den einzeln gelegenen Gehöften Oberbayerns.
Eine Stunde lang geht das so. Das Navi misst 120 Kilometer Entfernung zu München. Die Straßen werden schmaler, die Hausberge des Schwangaus rücken immer näher an die Fahrbahn − der Tegelberg, der Säuling, der Pilgerschrofen. Dazwischen dunkel Weiher und Seen.
Dann, plötzlich im Dunst: die pittoresken Zinnen des Königsschlosses Neuschwanstein tauchen auf. Hier irgendwo muss es sein: Das Haus, in dem sich Deutschlands wichtigste Autorengruppe, die Gruppe 47, vor 70 Jahren, eben 1947 gründete. "In einem Haus am Bannwaldsee", heißt es in der Literaturgeschichte. Keine Straße, keine Hausnummer, nur "am Bannwaldsee".
"September 1947. Der Personenzug, der uns von München nach Füssen bringen soll, fährt nur bis Weilheim in Oberbayern. Das ist die halbe Strecke. Niemand weiß, wie wir von dort weiterkommen. Die Verkehrsverbindungen sind immer noch so schlecht wie kurz nach dem Ende des Krieges. Es ist ein schöner Septembertag, Altweibersommer."
Der 38-jährige Hans Werner Richter sitzt an diesem Tag mit am Bahnsteig in Weilheim. Der in Pommern, in Bansin auf Usedom geborene Richter hat das Treffen organisiert, um mit Autoren und Journalisten an einer neuen literarischen Zeitschrift zu arbeiten. Kurz zuvor ist seine bisherige Zeitschrift "Ruf" − aus der Kriegsgefangenschaft mit nach München gerettet − in der amerikanischen Besatzungszone von den Alliierten verboten worden. Zu links, zu Amerika-kritisch, zu selbstbewusst. Also muss ein Nachfolger her. "Der Skorpion" soll das Blatt heißen. Eine Lizenz hat Richter noch nicht, aber Kontakt zu einer ungewöhnlichen Münchner Fotografin und Dichterin, die ein einsam gelegenes Haus samt Wald und See im Allgäu besitzt.
Ein Haus am Bannwaldsee. Allein der Name muss ihn, den pommerschen Fischerssohn, überzeugt haben.
17 Freunde und Bekannte hat Richter per Postkarte eingeladen, seiner später berühmt-berüchtigten Postkarte. Noch nicht veröffentlichte Manuskripte sollen sie mitbringen. Nun sitzen sie am Bahnsteig, weil der Zug nicht fährt. Aus Richters Beschreibungen klingt Skepsis, aber auch Abenteuerlust:
"Auf dem Bahnhof in Weilheim erfahren wir, dass ein fahrplanmäßiger Omnibus nach Füssen geht, aber er ist bereits dicht besetzt. Auch ein Sonderomnibus, der kommen soll, bleibt aus. Wir sitzen vor dem Bahnhof auf den Bordsteinen und Bänken mit unseren schäbigen Koffern, zerkratzten Aktentaschen und Rucksäcken. Zwei von uns gehen in die Stadt, um irgendein Fahrzeug zu organisieren und kommen nach Stunden mit einem stinkenden Holzgas-LKW zurück. Die Fahrt nach Füssen beginnt, eine staubige Fahrt in einem offenen Lastwagen, hügelauf, hügelab durch das Alpenvorland, mit rauchendem Holzgas-Schornstein, mehr geschaukelt als gefahren."

Von der Viehweide zum Campingplatz

70 Jahre später. Das Navigationsgerät scheint sich ziemlich sicher zu sein: "In 300 Metern rechts abbiegen. Sie haben ihr Ziel erreicht."
"Willkommen am Bannwaldsee" steht auf dem Schild an der Einfahrt. Einzelne Autos parken daneben, aus Frankreich, aus dem Oberallgäu, aus dem Emsland, aus München. Dahinter eine Blockhütte, die Rezeption. Das Ziel ist ein − Campingplatz. Hinter akkuraten Hecken kann man unzählige Wohnwagen mit Anbauten erahnen, davor kleine Plastikrehe, Bierbänke, Gartenzwerge."
"Hallo, guten Morgen."
Hinter der Empfangstheke steht eine junge Frau. Viel ist zur Zeit nicht los auf dem Campingplatz.
− "Ich bin auf der Suche nach dem Schneider-Haus. Wissen Sie, wo das ist? Das Ilse Schneider-Lengyels-Haus am Bannwaldsee?"
− "Ach so, das ist das ehemalige Wohnhaus von unserem Koch. Wenn Sie da hundert Meter rein fahren auf der rechten Seite. Man kann aber nur das Haus von außen anschauen."
Ob sie denn wisse, was 1947 in dem ehemaligen Wohnhaus ihres Kochs passierte?
"Keine Ahnung, da bin ich echt überfragt. Es waren ab und an mal welche da wegen der Gruppe 47, aber die haben sich im Vorfeld informiert, sonst wüssten die gar nicht, dass da das Haus steht. Den Campingplatz gibt es jetzt schon seit 60 Jahren. Früher waren das mal zwei kleine, die sind dann zusammengewachsen."
Das Haus, in dem sich die berühmte Gruppe 47 gründete, steht heute also mitten auf einem Campingplatz. Vor 70 Jahren war das noch Viehweide, erzählt ein Rentner, der seit 38 Jahren auf dem Platz sein zweites Zuhause hat. Damals stand das Haus noch ganz allein am See:
"Das ist ja erst die letzten Jahre so gewachsen, das sind alles, die ganze Straße runter, feste Plätze. Das geht dahinten vom Bach weg bis dahinten naus. Also Dauerstellplätze bestimmt 200. Und das andere, das sind dann halt Urlauber."
Ja, von der Geschichte des Hauses habe er schon gehört. Auf einer Tafel am Haus stehe alles drauf:
"Ja. Das – also wir sind schon so lange hier am Platz, aber ich könnte ihnen jetzt nicht genau sagen... Ich habe schon gelesen, was da war, das schon, aber ich könnte jetzt nicht groß sagen, was da passiert ist."
Seine Frau räumt gerade ihren Wohnwagen auf. Sie denkt nach. Viele Gedanken hat sie sich nicht gemacht über dieses Haus mitten auf dem Campingplatz. Im Sommer, da hätten sie im Haupthaus vom Campingplatz mal einen Film über die Anfänge am Bannwaldsee gezeigt, sagt sie. Es seien sogar noch einige der ersten Familien da, die in den Anfangsjahren mit ihren Käfern und Zelten an den Bannwaldsee fuhren:
"Manche gehen da halt vorbei, schauen auf die Tafel hin, das haben wir ja auch gemacht, mehr mmmhhh. Ich glaube, irgendwas war da mal, wo sie die Tafel neu gemacht haben, da war eine Feier, aber wir sind ja auch nicht immer hier. Kann ich nicht viel drüber sagen."
Das gesuchte Haus steht gegenüber von Stellplatz 356, 355 und 354. Es wirkt ein wenig verloren hier. Das Gartentor quietscht, in den Blumenkästen welken Geranien vor sich hin. Kaum zu glauben, dass in diesem zehn mal zehn Meter großen zweistöckigen Haus 17 Männer und Frauen im September 1947 ein ganzes Wochenende lang über Literatur diskutierten. Sie lasen aus eigenen, unveröffentlichten Manuskripten, hörten sich Kritik an.

Fernab jeder Ablenkung

Dass dieses erste Treffen der Auftakt zum wichtigsten Literaturforum der jungen Bundesrepublik werden sollte, ahnte keiner. Es gab keine Satzung, kein Verein, nur eine Regel: Es sollte weitab von jeder Ablenkung nur über Texte, über Worte, über Sätze und Formulierungen diskutiert werden, mehr nicht. Ob die literarischen Texte dann veröffentlicht werden konnten, darüber wollte man später in München entscheiden. Selbst der simple Name "Gruppe 47" kam erst ein Jahr später auf, in Anlehnung an das erste Treffen 1947.
Hans Werner Richter in seinen Erinnerungen:
"Am Bannwaldsee empfängt uns die Schriftstellerin Ilse Schneider-Lengyel. Sie hat uns ihr kleines Haus zur Verfügung gestellt, in dem sie Hechte gefangen hat, damit wir, die Stadtverhungerten, etwas zu essen haben. Nach der beschwerlichen Fahrt springen die meisten nackt in den See, um den Staub, den Dreck des Holzgasgenerators abzuwaschen, die Anstrengungen des Tages abzuschütteln."
"Naja, die selber haben das nicht als so romantisch empfunden. Das war sehr karg und das war so eine Art Notversorgung."
… erzählt Helmut Böttiger, Autor der bislang umfangreichsten Monografie zur Gruppe 47:
"Es war ja ganz wichtig, überhaupt einen Treffpunkt finden zu können, wo mittellose, unbekannte Nachwuchsschriftsteller zusammenfinden können. Die mussten das selber bezahlen, mussten das selber organisieren, dahin zu kommen. Und auch das, was sie da zu essen bekamen, war eher ein Problem."
"Am Bannwaldsee angekommen, sahen wir das Haus, in dem alle schlafen sollten, ein einsam am See gelegenes Haus. Wie wir die Nacht verbrachten, weiß ich nicht, die meisten schliefen auf dem Boden, Richter als Häuptling natürlich kriegte ein Bett. Aber wir schliefen auf dem Boden. Dann kam das zweite Problem. Schlecht ausgeschlafen, hungrig, immer noch müde, wollten wir frühstücken. Was? Da hatte Frau Schneider-Lengyel für gesorgt, die war schon um vier Uhr aufgestanden, auf'n See rausgerudert und hatte Hechte und Barsche, und ich weiß nicht, wie die Fische heißen, gefangen. Die wurden gebraten, dann aßen wir jeder ein Stück Fisch, das war das erste Frühstück der Gruppe 47." (Walter Kolbenhoff, Teilnehmer des ersten Treffens)

Eine Gedenktafel, aber keine Nachwirkungen

Wenige Kilometer vom Campingplatz entfernt liegt die Gemeinde Schwangau. In der Tourismusdirektion liegen Prospekte zu Neuschwanstein aus, zu Hohenschwangau, zu Urlaub am Forggensee, zum Programm des Musicaltheaters Füssen und vom Campingplatz Bannwaldsee. Infomaterial zur Gruppe 47 gibt es nicht:
"Also wir sind natürlich ein starker Urlaubsort mit 750.000 Übernachtungen, da ist die Zielgruppe einfach der Urlauber, der Freizeittourist."
Petra Köpf, die Tourismusdirektorin von Schwangau:
"Ich glaube, der Normale kommt hierher wegen der schönen Lage, wegen der Schlösser und nicht wegen dem Thema. Aber es kommen immer wieder welche, denen der Begriff Gruppe 47 noch was sagt. Oder eben einzelne Autoren, auch Schulen, für Lehrer von den Gymnasien ist das offensichtlich immer noch ein Thema. Also Anfragen gibt es schon, aber nur vereinzelt."
Vor zehn Jahren, zum 60. Jubiläum, habe man die Gedenktafel an dem Haus angebracht, erzählt Köpf. Das Haus gehört heute je hälftig der Gemeinde Schwangau und dem Landkreis Ostallgäu und ist vom Campingplatz gepachtet. Damals, 2007, und auch 1997 zum 50. seien noch einige der ersten Teilnehmer gekommen. Jetzt zum 70. Gründungsjubiläum seien Historiker aus Frankfurt beauftragt worden, ein Programm zur Erinnerung zu erstellen.
Alfons Maria Arns ist dieser Historiker. Als Germanist kenne er die Geschichte der Gruppe 47 natürlich, sagt er. Seit Jahren fährt er jedes Jahr von Frankfurt zum Urlaub nach Schwangau. Irgendwann fiel ihm auf, dass es in der Region überhaupt keine relevanten Nachwirkungen des berühmten Gründungstreffens gibt. Regelmäßige Autorenlesungen etwa oder Schriftsteller, die sich inspirieren lassen von der ausdauernden literarischen Diskussionskultur, die damals unabhängig davon gepflegt wurde, ob am Ende tatsächlich etwas veröffentlicht wird. Auch unabhängig vom Literaturbetrieb, von neugierigen Verlegern:
"Die Frage habe ich mir auch schon gestellt, warum sich da keine Leute angesiedelt haben. Ich denke, das ist sehr stark durch andere Freizeitvergnügen überlagert. Es gibt ja eine interessante Aussage von einem der Ersten, der dabei war. Da ist es dokumentiert, dass er gesagt hat: Er könnte hier nie schreiben. So schön ist es hier. Sozusagen, er wäre permanent abgelenkt. Und ja, vielleicht ist das eine Erklärung dafür. Andere Regionen sind ja stark durch Künstlerkolonien geprägt, am Chiemsee zum Beispiel und rund um Murnau."
In Schwangau aber gebe es keine Schriftsteller, die sich von dem Treffen am Bannwaldsee inspirieren lassen wollen, sagt auch die Tourismusdirektorin. Krimiautoren schon, aber Literaten? Nein. Man spürt eine gewisse Distanz im Ort zu dem Haus am Bannwaldsee. Historiker Arns erklärt das so:
"Ja, gut, ich denke mal, diese Frau Schneider-Lengyel ist aufgrund ihrer beruflichen Tätigkeit − sie ist viel gereist, sie war viel in Paris, sie war auch im Exil, sie hatte ja einen ungarischen Mann, einen jüdischen Mann, der selber ein Künstler war und hat während der NS-Zeit gependelt zwischen dem Ort und Paris – sie hat einfach ein sehr exzentrisches Leben geführt in dieser doch eher bäuerlich geprägten und vom Schlössertourismus geprägten Region. Es gibt ja auch dieses Wort von der 'Hex vom Bannwaldsee'.Sie ist auf einem Motorrad mit Männerkleidern durch den Ort gefahren. Ich denke mal, es war eine sehr ungewöhnliche Frau, bei der man nicht so einfach verstehen konnte, was macht die, was tut die. Und ich denke, das prägt das in gewisser Weise bis heute."

Die exzentrische Gastgeberin

Der 1948 im nahen Füssen geborene Autor Gerhard Köpf, der nur zufällig denselben Nachnamen trägt wie die heutige Tourismusdirektorin von Schwangau, lernte als Schüler die Bannwaldsee-Besitzerin kennen. Er war so fasziniert von der ungewöhnlichen Künstlerin in dem einsamen Haus, dass er einen Roman über sie schrieb. Er beschreibt Ilse Schneider-Lengyel alias Karlina:
"Karlina trägt eine auffallend bunte, mit großem Fischgrätenmuster versehene Hose, deren untere Beine vom Knie an weit ausgestellt sind. Bügelfalte ist keine mehr da. An der Naht baumeln dafür links und rechts winzige Glöckchen, die bei jeder Bewegung, bei jedem der schnellen Schritte einen fremden Klang hören lassen. Sie habe diese Hose, auf die man sie gelegentlich hin anspreche, aus Mexiko mitgebracht, daher auch die mexikanischen Stickereien, die mir erst jetzt auffallen... Die Roana, ein ponchoähnliches Tuch mit kurzen Fransen, aus braungrauer Lamawolle mit unauffälligem Mäandermuster, das sie um die Schulter geworfen trägt, stamme aus Bolivien."
Ein gewagtes Auftreten. Eine exzentrische Frau. Ihr Einfluss auf die frühe Gruppe 47 beschränkte sich nicht nur auf Fische fangen und Essen kochen, wie es die Erinnerungen der überwiegend männlichen Teilnehmer vermuten lassen. Ihr Nachlass mit vielen Manuskripten, Fotos und Briefen im bayerischen Staatsarchiv in München lässt erahnen, dass sie wichtiger war als bisher bekannt, meint Historiker Arns:
"Das ist auch der Kern meiner Idee, was wir da zum Jubiläum vorgeschlagen haben, dass man dieses erste Treffen am 6. und 7. September 1947 als Anlass nimmt, nicht nur über die Gruppe 47, sondern auch stärker ihr Leben und Werk in den Mittelpunkt zu rücken."
70 Jahre später zieht 2017 also wieder literarisches Leben ein in das Haus am Bannwaldsee. Organisator Arns will die Werke erneut lesen lassen, die damals gelesen wurden. Von Wolfgang Bächler, Heinz Friedrich, Walter Maria Guggenheimer, Walter Hilsbecher, Walter Kolbenhoff, Wolfdietrich Schnurre, Franz Wischnewski und anderen. Wie die Texte heute wohl wirken?
Heinrich Böll, Ilse Aichinger und Günther Eich 1952 während der Tagung der Gruppe 47 (v.lks). 
Heinrich Böll, Ilse Aichinger und Günther Eich 1952 während der Tagung der Gruppe 47 (v.lks). © picture alliance / dpa
Das literarische Niveau ließ sich 1947 schon nicht mit der Qualität angelsächsischer Schriftsteller oder Exilautoren wie Hermann Hesse, Thomas Mann oder Stefan Zweig vergleichen. Die meisten der Gründungs-Autoren vom Bannwaldsee sind heute vergessen. Einige von ihnen bekamen nach dem ersten Treffen von Hans Werner Richter auch keine Postkarte mehr. Aber das Prinzip von 1947 blieb: Ein Autor las seinen Text auf dem später legendären "elektrischen Stuhl" neben Hans Werner Richter, das Publikum hörte zu und diskutierte dann darüber, ohne dass der Autor eingreifen durfte.
Nicht immer ganz einfach, gibt Schriftsteller und Dichter Friedrich Christian Delius heute zu, Teilnehmer von 1964 bis 1967:
"Ich habe da etwas ganz Wichtiges gelernt, dass man nämlich zu guter, wirklich sehr guter Literatur wirklich verschiedene Meinungen haben kann, die sich durchaus widersprechen können. Aber das ist das Großartige an Literatur, dass man nicht eine einseitige, eine feste Meinung haben muss, die nun als richtig gilt, sondern dass verschiedene Leute einen Text auch verschieden wahrnehmen können und dass das richtig ist. Wir reden heute viel von Streitkultur und solchen Dingen, aber diese Kultur des Zuhörens, des Hinhörens, eine halbe Stunde und länger hinzuhören auf Texte, die wurden ja nicht vorher verteilt, sondern man musste wirklich gut hinhören und dann war die Möglichkeit für jeden, nicht nur die Kritiker in der ersten Reihe, sondern auch die Autoren haben da sehr produktiv mitdiskutiert – oft besser als die Kritiker – also diese Vielfalt von Stimmen zu einem Text wahrzunehmen, ernst zu nehmen, sich aufeinander zu beziehen, das war eine so lebendige Diskussion, wie ich sie selten erlebt habe."

Geniale Einladungskultur – per Postkarte

Wirklich berühmt wurden die Treffen ab den 50er-Jahren mit Günter Grass, Martin Walser, Heinrich Böll, Siegfried Lenz. Literaturkritiker wie Marcel Reich-Ranicki oder Joachim Kaiser tauchten nach anfänglicher Skepsis immer häufiger auf. Richter zeigte den richtigen Riecher. Seine Einladungskultur war legendär und gefürchtet zugleich, zuerst am Bannwaldsee, später auch in Bad Dürkheim, Inzigkofen, Niendorf, Großholtzleute und schließlich auch bei den endgültig politisch aufgeladenen Auslandstreffen im schwedischen Sigtuna und im US-amerikanischen Princeton. Vier Mal bekam Friedrich Christian Delius die Postkarte, auch für das letzte Treffen 1967:
"Das war ja auch seine Genialität eigentlich, dass es ja keine Mitgliedschaft in dieser Gruppe gab, dass niemand sicher sein konnte, wenn er einmal eingeladen war, dann wieder eingeladen zu werden, sondern dass er alleine – freundlich, sachlich – für sich entschied, wen lade ich ein und wen nicht. Was viele Leute autoritär nannten, was es aber gar nicht war, sondern er hat sich auf sein Urteil verlassen und gesagt, so hat es angefangen, so hat es immer funktioniert, wir müssen hier keine Vereinssatzung haben und keine Regeln untereinander. Literatur ist etwas, was mit den Individuen, mit den Subjekten zu tun hat und warum nicht auch so eine Gruppierung in einer Hand lassen."
Je berühmter die Gruppe 47 wurde, je mehr Kritiker sich wie selbstverständlich zu den Treffen einluden und mitdiskutierten, umso mehr zeigte sich, wie naiv und letztlich überholt die Ablehnung von Regeln und die subjektive Auswahl der Teilnehmer durch einen Gastgeber war. Richter sah sich wachsenden Angriffen von außen gegenüber. Die Gruppe 47 sei reaktionär – so nach der einzigen und desaströsen Lesung Paul Celans 1952. Sie sei eine pöbelhafte Rasselbande – so Thomas Mann abwertend. Und schließlich Peter Handkes Publikumsbeschimpfung 1966 in Princeton, weil er bei den Kritikern durchgefallen war.
20 Jahre nach dem mythischen ersten Treffen am Bannwaldsee wird − dieses Mal in der fränkischen Pulvermühle, einem anderen einsam gelegenen Haus 310 Kilometer vom Bannwaldsee entfernt − klar: Das alte Rezept von 1947 funktioniert nicht mehr. Was Richter immer fürchtete: Grundsatzdebatten, war Alltag geworden. Richters Konzept wurde in Frage gestellt, politische Diskurse beherrschten mehr und mehr die Treffen, sozialdemokratisch eingestellte Autoren wie Günter Grass sahen sich linkssozialistisch eingestellten Schriftstellern wie Peter Weiß und Erich Fried gegenüber – auch auf diesem letzten Treffen in der Pulvermühle.

Der Tisch der Gruppe 47

Sulzbach-Rosenberg, eine 20.000 Einwohner zählende Stadt in der Oberpfalz, 67 Kilometer südöstlich der Pulvermühle. Im ehemaligen Gebäude des alten Amtsgerichts wird aufbewahrt, was Walter Höllerer, ein Teilnehmer der Gruppe 47 hinterlassen hat. Kürzlich kamen Dokumente des Literarischen Colloquiums Berlin hinzu. Autographe von Peter Weiß liegen hier im Archiv im obersten Stockwerk. In einem Raum zur Gruppe 47 steht Hans Werner Richters Konferenztisch und eine Couch von Ingeborg Bachmann. Archivleiter Michael Peter Hehl:
"Das war ein Konferenztisch, wie man sieht, für Gespräche, die Hans Werner Richter mit Künstlern, Intellektuellen und Journalisten in Berlin geführt hat, eben in der Villa in Berlin-Grunewald. Das war die Villa der Familie von Samuel Fischer gewesen, dort hatte er eine Wohnung mit der Auflage, für den Sender Freies Berlin immer einmal im Monat eine Sendung zu produzieren, eine Rundfunksendung eben mit Gesprächen. Das war in den frühen 70er-Jahren, also schon nach der Gruppe 47, aber es ist dennoch, weil ja auch über Themen eben öffentlich gesprochen wurde und auch über Literatur und so weiter, ist das eben der Gruppe 47-Tisch."
Patricia Preuß betreut gemeinsam mit Michael Peter Hehl das Literaturarchiv Sulzbach-Rosenberg. Walter Höllerer habe es 1977 zum 30-jährigen Jubiläum eingerichtet, erzählt Hehl. In der kleinen Ausstellung zur Gruppe 47 hängen die Originalpostkarten, also die berühmten Einladungen von Hans Werner Richter, daneben Schwarz-Weiß-Fotos vom letzten offiziellen Treffen 1967 in der Pulvermühle.
Patricia Preuß: "Also ich denke, man kann von diesen Fotos schon viel erfahren, was dieses Phänomen ausgemacht hat, das man ja nicht so leicht fassen kann. Die hatten ja kein Haus oder so was, das war ja immer wie so ein Wanderzirkus."
Michael Peter Hehl: "Man kann natürlich sagen − da ist das ein gutes Stichwort – die Gruppe war ja so was wie ein literarischer Wanderzirkus und der Walter Höllerer, der ja so im Geiste der Gruppe agiert hat, der hatte die Idee gehabt, dem, was da stattfindet, vielleicht mal einen festen Ort zu geben. Das hat er dann zuerst einmal in Berlin gemacht in Form des Literarischen Colloquiums, das 1963 gegründet wurde und dann 14 Jahre später in seiner Heimatstadt Sulzbach-Rosenberg noch einmal. So die Idee, aus diesem spirit der damaligen Gegenwartsliteratur eine Institution zu machen, die dann auch tatsächlich ein Erinnerungsort ist."

Ein abgeschlossenes Kapitel?

Zwei Mal im Monat lädt das Literaturarchiv zu Veranstaltungen, Autoren der Gruppe 47 wie Friedrich Christian Delius lesen aus ihren Werken. Es kämen vor allem ältere Leute zu den Abenden. Es sei nicht ganz einfach, jüngeren Leuten diese Aufbruchstimmung von 1947 heute nahezubringen, sagt Patricia Preuß. Das Kapitel sei ja im Prinzip abgeschlossen, wo gebe es heute noch diese Art der Diskussion über Literatur? Wenn sie länger nachdenkt, fällt ihr doch noch etwas ein: Regelmäßig würden im Literaturarchiv Schreibkurse angeboten in Kooperation mit der Bayerischen Akademie des Schreibens, Romanseminare für angehende Schriftsteller. Dort diskutiere man auch sehr intensiv über Sprache, das könne man als Fortsetzung dieser Geisteshaltung von 1947 sehen.
Friedrich Christian Delius: "Ja, darüber wird ja immer mal wieder nachgedacht, auch bei jüngeren Autoren immer mal wieder und es gibt ja so einzelne Gruppierungen, wo weniger Autoren sich unauffällig, ohne Kritiker oder auch mal mit Kritikern, sich irgendwo treffen für ein paar Tage, das hat es immer gegeben. In den letzten Jahren aber, ich glaube jeder scheut sich – mit Recht – so eine große Sache aufzuziehen, weil dann gibt es sofort Prügel von allen Seiten: ‚Ja, ihr wollt was nachmachen oder so.‘ Es ist in dem Maße auch nicht nötig, glaube ich, die Gruppe 47 ist ja auch zu groß geworden dann, wenn, dann ist es sinnvoll in Gruppen von zehn, fünfzehn Leuten unter Autoren zu diskutieren. Und da gibt es viele Ansätze. Das passiert."
Was bleibt, ist noch die Fahrt zu dem Ort, wo das endete, was 1947 am Bannwaldsee begann − die Fahrt zur Pulvermühle. Das Navi erkennt nur einen winzigen Fleck in einem riesigen Waldgebiet. 67 Kilometer von Sulzbach-Rosenberg entfernt, Durchschnittsgeschwindigkeit 70 Stundenkilometer, vorbei an Dörfern mit Namen Pottenstein, Burg Rabenstein, Kleinlesau, Michelfeld.
Delius: "Das lag da irgendwo in den Wäldern, ich weiß, ich bin damals mit Klaus Wagenbach im Auto gefahren und wir hatten ja damals von Berlin aus noch die Grenze der DDR mehrfach zu überstehen, also erstmal rein, dann wieder raus, dann wieder raus, dann wieder rein, also doppelte Grenzkontrollen und das war natürlich eine tagelange Fahrt damals, auf die man sich einstellte und ja, dann war man in dem Haufen der lebendigsten und intelligentesten Leute, die man so treffen konnte damals."
50 Jahre später. Die Straße wird immer kurviger. Links die hohen Felsen der fränkischen Schweiz, rechts das Flüsschen Wiesent. Plötzlich wird die Mühle rechts hinter der Wiesent sichtbar, besser gesagt der markante Schriftzug am weißen Giebel des alten Gebäudes. Diese prägnanten altdeutschen Buchstaben waren auch auf den Fotos im Literaturarchiv Sulzbach-Rosenberg. Sie stammen aus der Monografie von Helmut Böttiger, aus Zeitungsartikeln, auf denen ein vergnügter Hans Werner Richter ein Schild hochhält: "Gaststättenbetrieb der Pulvermühle vom 5. bis 9. Oktober 1967 für die Öffentlichkeit geschlossen".
An diesem kalten Winternachmittag knapp 50 Jahre später hängt nur ein gelber Zettel in der Tür. Betriebsurlaub bis 15. März. Man versucht, sich die Autoren vorzustellen, wie sie aus ganz Deutschland an diesen Flecken gereist sind, 1967. Dann die Studenten, die auf dem Vorplatz gegen das ihrer Meinung nach erzkonservative Treffen skandierten. Aber es fällt schwer.
Ein Anbau ist seit 1967 dazu gekommen, moderne Balkone für Pensionsgäste. Unter einem Carport liegen alte, auseinandergenommene Holzbetten. Ein Stück weiter alte Holzstühle. Saßen darauf Hans Werner Richter und seine literarischen Gäste? Ob renoviert wird, kann man niemanden fragen, denn das Gelände liegt wie ausgestorben. Nur das Flüsschen davor fließt unentwegt, wie schon 1967. Was bleibt, ist Stille.
Hans Werner Richter: "Du wirst es nicht für möglich halten, wie sich ein Gegenstand allein durch die Darstellung verändert. Auch wenn alles stimmt, was da berichtet wird – ganz stimmt es dann doch wieder nicht. In fünfzig Jahren wird kein Mensch mehr eine Ahnung haben, was die Gruppe WIRKLICH war."
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