Erstklassiges Standardwerk

Rezensiert von Rainer Pöllmann |
Ein Opernführer: Das ist normalerweise eine praktische Hilfe für den Opernbesuch, mit Einführungen in die jeweiligen Werke, Inhaltsangaben, Rollencharakterisierungen und Tipps für einschlägige CDs. Auf der anderen, der wissenschaftlichen Seite steht ein vielbändiger Wälzer wie Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters. Dazwischen herrschte gähnende Leere – gäbe es nicht Ulrich Schreibers "Opernführer für Fortgeschrittene".
Der Titel ist furchtbar altmodisch, aber das Projekt zieht sich ja ebenfalls schon über viele Jahre hin. Zumal es immer größere Dimensionen annimmt. Der dritte Band, dem 20. Jahrhundert gewidmet, kommt gleich dreigeteilt auf den Markt. Ist das 20. Jahrhundert wirklich das Jahrhundert der Oper? Gibt es aus dieser Zeit wirklich so viel mehr Werke, die, wenn sie schon nicht gespielt werden, so doch zumindest wert wären, wieder aufgeführt zu werden? Oder spielt hier nicht doch eine persönliche Verbundenheit des Autors mit der "Moderne" die ausschlaggebende Rolle?

Wie auch immer: Ulrich Schreiber lässt keinen Zweifel daran, dass er auch in drei Bänden genug zu sagen weiß über das Opernschaffen des 20. Jahrhunderts. 727 Seiten umfasst allein der zweite Teilband, der nun mit großer Verzögerung erschienen ist.

Neben der französischen und der britischen Oper stehen die deutsche und die italienische Oper nach 1945 im Zentrum des neuen Bandes. Zwei Länder also, die maßgeblich zur Herausbildung eines Musiktheaters im Geiste der Avantgarde beigetragen haben. Vor allem die italienische Oper nach 1945 ist hierzulande immer noch weithin unbekannt – Ulrich Schreiber leistet hier vorbildliche Aufklärungsarbeit. Sein Opernführer ist über weite Strecken eine verkappte Operngeschichte, und nicht selten eine ausgesprochen aufschlussreiche Kulturgeschichte.

Der große Vorzug vor jedem "praktischen" Führer ist die Einbettung des Einzelwerks in den historischen, geistes- und stilgeschichtlichen Zusammenhang. Kein Komponist, wie genial auch immer er sein mag, komponiert voraussetzungslos. Sowohl diese Voraussetzungen als auch das Neue und Revolutionäre der großen (und nicht ganz so großen) Werke detailliert herauszuarbeiten, das gelingt Ulrich Schreiber ganz vorzüglich.

Knapp 300 Werkbesprechungen umfasst dieser zweite Teilband. Kaum jemand dürfte auch nur die Hälfte der besprochenen Werke auf der Bühne gesehen haben. Und nicht einmal in theoretischer Form sind sie einigermaßen bekannt. Selbst ein Opernführer für Fortgeschrittene muss also bei diesen Werken grundlegende Aufklärung leisten und die Basisinformationen liefern. Das tut Ulrich Schreiber, aber darüber hinaus gelingt es ihm, auch entlegene Werke aus ihrer Archiv-Existenz zu wirklichem Leben zu erwecken und das jeweils Besondere herauszukehren.

Freilich, er macht es seinen Lesern auch nicht leicht. Schreiber ist klug, enorm belesen, drängt sich an keiner Stelle eitel in den Vordergrund. Er vertraut dem puren Argument, weniger der Plastizität und Lebendigkeit des sprachlichen Ausdrucks.

Vielleicht hängt der Eindruck einer gewissen Sprödigkeit auch damit zusammen, dass Schreiber die Oper hauptsächlich als Partitur und musikalische Aufführung wahrnimmt. Die Bühnenpraxis spielt keine große Rolle. Dass Oper auch Theater ist, vergisst man bei der Lektüre der mehr als 700 Seiten leicht.

Und dennoch: "Der Schreiber" hat sich auch mit diesem neuen Band als ein erstklassiges Standardwerk erwiesen, das mutig Stellung bezieht für die ausdauernde Lektüre und gegen den schnellen Konsum von Infohäppchen. Ein Band steht noch aus.

Ulrich Schreiber: Opernführer für Fortgeschrittene. Die Geschichte des Musiktheaters.
Das 20. Jahrhundert II – Deutsche und italienische Oper nach 1945, Frankreich, Großbritannien
Bärenreiter-Verlag 2005; 727 Seiten
47,50 Euro