Umstrittener Wahlaufruf für SPD-Kandidaten
Kampagnenplattformen wie "Campact" wollen vor allem mit Online-Petitionen die Welt verbessern. Obwohl vom Status her gemeinnützig, mischt sich "Campact" immer wieder mit gezielten Aktionen in die Tagespolitik ein. Nun sorgt eine Erststimmen-Aktion für Unmut.
"Guten Morgen, mein Name ist Karl Lauterbach…"
Haustürwahlkampf in Leverkusen-Opladen. Der SPD-Bundestagsabgeordnete und wohl bekanntester Gesundheitspolitiker der Partei, Karl Lauterbach, ist seit Wochen im Einsatz. Den Mann mit der roten Fliege kennt fast jeder hier.
"Ich bin wohl einer der im Haustürwahlkampf engagiertesten Politiker. Wir gehen in die Viertel mit niedriger Wahlbeteiligung, die tendenziell eher SPD gewählt haben – da erhoffe ich mir die meisten Stimmen."
Lauterbach ist es gewohnt, um jede Stimme zu kämpfen. Seit 2005 hat er immer das Direktmandat in seinem Wahlkreis "Köln IV-Leverkusen" geholt, bei der vergangenen Bundestagswahl bekam der 54-Jährige über 41 Prozent der Stimmen. Über einen Listenplatz ist er nicht abgesichert, hat auf der Landesliste Platz 58. Überraschende Unterstützung bekommt er nun durch Campact, Geschäftsführer Christoph Bautz:
"In Leverkusen und in Bonn rufen wir die Leute auf, ihre Stimme nicht zu verteilen auf verschiedene kleine Parteien, die es am Ende eh nicht in den Bundestag schaffen. Sondern sehr strategisch zu wählen. Zwei progressive Kandidaten gemeinsam in den Bundestag zu bekommen. Das ist zum einen in Bonn Herr Kelber, der sich mit der Kohle-SPD angelegt hat und in Leverkusen Karl Lauterbach, der gegen das Ackergift Glyphosat kämpft."
Auch im Netz hagelt es Kritik
In Bonn kämpft der SPD-Bundestagsabgeordnete Ulrich Kelber mit einem 10-Punkte-Plan und seiner "Stimme für Bonn" um ein Direktmandat für den Wiedereinzug in den Bundestag. Er hat gar keinen Listenplatz, bei der zuständigen SPD Mittelrhein ist er in Ungnade gefallen mit seiner Anti-Kohle-Politik. Anders als in Lauterbachs Wahlkreis hat die Erststimmen-Aktion in Bonn für Ärger gesorgt, Kelbers CDU-Kontrahentin Claudia Lücking-Michel kritisiert die Absprache:
"Dass ein gemeinnütziger Verein wie 'Campact', der laut eigener Satzung zu parteipolitischer Neutralität verpflichtet ist, qua Mitgliederbefragung eindeutig Stellung nimmt nur für einen einzigen Mitbewerber, das ist schon ein starkes Stück."
Für Lücking-Michel sieht es knapp aus, auch sie hat bei der CDU keinen sicheren Listenplatz. Empört reagierte auch die Bonner Grünen-Kandidatin Katja Dörner auf die Kampagne, da es im Aufruf von Campact unmissverständlich heißt: "Geben die Wählerinnen und Wähler ihre Erststimme den Kandidat/innen von Grünen, Linken, FDP oder einer anderen kleinen Partei, verpufft ihr Stimme."
Aber auch im Netz hagelt es Kritik. Die Diskussion auf Facebook ist bereits in vollem Gange:
"Das geht gar nicht! 'Campact' muss unabhängig bleiben und nicht zum Helfer einer Partei mutieren!"
"'Campact' geht mit der einseitigen Werbung für SPD-Kandidaten einen sehr riskanten Weg"
"'Campact' ist und bleibt parteipolitisch neutral"
Campact-Geschäftsführer Christoph Bautz:
"Wir sind uns sicher, dass wir nicht gegen das Gemeinnützigkeitsrecht verstoßen. 'Campact' ist und bleibt parteipolitisch neutral. Wir unterstützen ja bewusst nur Kandidaten, die in der Vergangenheit für die gleichen Ziele gekämpft haben wie Zehntausende Campact-Aktive auch. Und wir rufen ganz bewusst weder direkt noch indirekt zur Wahl einer Partei auf."
Vorbild für die Aktion von "Campact" war die kanadische Schwesternorganisation "Lead now". Diese Bürgerkampagne hat im vergangenen Jahr die Kanadier erfolgreich dazu aufgerufen, strategisch bewusst nur ENTWEDER einen liberalen ODER sozialdemokratischen Kandidaten in den Wahlkreisen zu wählen – und stürzte damit an vielen Orten die konservative Mehrheit.
Der Düsseldorfer Politikwissenschaftler Stefan Marschall, der den Wahlomat zur Bundestagswahl für die Bundeszentrale für politische Bildung mitentwickelt hat, findet die Erststimmen-Aktion legitim. Absprachen gab es schon immer…
"Es ist durchaus clever und legitim, dass Interessensverbände die Kandidaten unterstützten, die ihre Interessen durchsetzen. Wahlaufrufe hat es schon immer gegeben. Das gibt es übrigens auch oft auf der kommunalen Ebene, bei Bürgermeisterwahlen, es ist üblich, rational zu überlegen, was passiert, wenn wir Stimmen zusammenlegen. Dann ist so ein Kompromiss sehr zielführend."
Lauterbach putzt weiterhin fleißig Klinken
Das deutsche Wahlgesetz ist sehr kompliziert im internationalen Vergleich. Ungefähr die Hälfte der Wähler kann nicht den Unterschied zwischen Erst- und Zweitstimme benennen, die Terminologie wird oft von Verfassungsrechtlern als irreführend kritisiert. Auch deshalb findet Stefan Marschall die Aktion spannend, da sie noch einmal deutlich die Funktion der Erststimme verdeutlicht:
"Mit der Erststimme hat man die Chance auch über die Gesichter zu entscheiden, die im Bundestag sitzen werden. Nicht über die Parteien. Die legen mit Landeslisten ganz starr fest, wer ins Parlament kommt. Da haben die Bürger kein Mitspracherecht. Das schwächt die Parteien, stärkt aber die Bürger."
In Deutschland ist es so, dass durch die Erststimme derzeit überwiegend Unions-Kandidaten in den Bundestag einziehen. Weil es nur einen Wahlgang gibt, verteilt das Mitte-Links-Lager seine Stimmen oft auf SPD, Linkspartei und Grüne. Gebe es noch eine Stichwahl in allen Wahlkreisen wie in Frankreich wäre es anders. Aber so zählt nur ein Wahlgang, den die SPD-Kandidaten Lauterbauch und Kelber jetzt vor sich haben.
Ob die Kampagne von "campact" ihnen hilft, in den Bundestag einzuziehen und dort gegen Glyphosat und Braunkohle zu kämpfen, zeigt sich am Sonntag. Bei der letzten Wahl 2013 waren für beide nur wenige Stimmen entscheidend: Kelber gewann mit gerade mal 0,7 Prozent, Lauterbach mit zwei Prozentpunkten Vorsprung gegenüber den Unionskandidaten.
Und so putzt Lauterbach weiterhin fleißig Klinken. Er punktet dabei übrigens weniger als Glyphosat-Gegner denn als Tunnel-Befürworter: Lauterbach kämpft gegen den überirdischen Ausbau der maroden Leverkusener Autobahn, Autos sollen im Stadtgebiet künftig in einem Tunnel statt auf Stelzen fahren:
Lauterbach: "Was würden Sie sich wünschen?"
Wählerin: "Diese Autobahngeschichte."
Lauterbach: "Ja, dafür kämpfe ich… Könnten Sie sich vorstellen, mir Ihre Stimme zu geben? Ja schon…"