Erstwählerin Gayle Tufts

"Demokratie is alive and well in Germany"

04:31 Minuten
Gayle Tufts steht in einem roten Kleid und in fröhlicher Haltung im Freien.
Endlich wahlberechtigt: Die Freude von Gayle Tufts kennt keine Grenzen. © picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild/Gerald Matzka
Ein Kommentar von Gayle Tufts · 13.08.2021
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Die neue deutsche Staatsbürgerin Gayle Tufts zählt zu jenen, die bei dieser Bundestagswahl erstmals wählen dürfen. Die Freude der in den USA geborenen Entertainerin ist riesig: Anders als in den USA sei die Demokratie in Deutschland quicklebendig.
Für mich als neue deutsche Staatsbürgerin ist es eine Ehre, an einer Bundestagswahl teilnehmen zu dürfen. Hier allerdings auch eine neue politische Heimat zu finden, das ist gar nicht so einfach.
Aber zum Glück gibt es ja den Wahl-O-Mat!
Zu meiner Orientierung habe ich erst mal den Wahl-O-Mat für Sachsen-Anhalt ausgefüllt, denn der bundesweite Wahl-O-Mat geht erst Anfang September online. Was da rausgekommen ist? Leider etwas, was mir hier in Berlin wenig weiterhilft: die "Klimaliste Sachsen-Anhalt".
Ich hatte auf die Grünen als zweiten Vorschlag getippt, aber nein, der Wahl-O-Mat schlug mir erst die Tierschutzpartei und dann die Piraten vor, dicht gefolgt von Die Linke. Da bin ich! Eine Linksradikale! Ein Molotow-werfendes Banksy-Bild, the Rosa Luxemburg of Schöneberg, nur weil ich an Fahrradwege, Kitas und Menschenrechte glaube.
Power to the People!

In der Heimat ein Leben lang Demokratin

In the Heimat war ich mein Leben lang Demokratin. Von Jimmy Carter bis Bill Clinton, von John Kerry bis Joe Biden – Persönlichkeiten, Politik-Profis, the Popstars of the Partei. Sie waren The Democrats’ Kandidaten und alles war dadurch relativ klar.
In den USA haben wir nur zwei Parteien – es ist ein ganz anderes System als in Deutschland, was vielleicht nicht die beste Idee ist, denn diese zwei Parteien sind mittlerweile erstarrt wie one big dysfunctional Familie.
Verbitterte Feinde, the Montagues gegen the Capulets, Bayern gegen Dortmund oder Brad gegen Angelina. Verstrickt und gefangen in unversöhnlichen differences. Unvereinbare Gegensätze – nicht nur konservativ gegen liberal oder reich gegen arm, viel mehr waffentragende, Kapitolputsch versuchende White-Supremacists-Orange-Monster-Fan-Mobs gegen den Rest der Welt.
61 Prozent der Republikaner glauben an "The Big Lie", die große Lüge – dass Joe Biden die Präsidentschaft gestohlen hat und Trump der wahre Präsident ist. Ohne jeden Beweis von Wahlbetrug.

Republikaner erschweren das Wählen

Egal! Um eine weitere Niederlage zu verhindern, haben die Republikaner ein einfaches Rezept: Erschwere potenziell demokratischen Wählern das Wählen!
Allein in diesem Jahr haben 17 Bundesstaaten 28 neue Gesetze beschlossen, die den Amerikanern das Wählen erschweren. Und das in einem Land, wo die Wahlbeteiligung sowieso ausbaufähig ist, weil der Wahltag immer auf einen Arbeitstag fällt.
Wie wäre das wohl in Deutschland? Wähler*innen müssen an einem Dienstag wählen gehen, kriegen dafür vom Arbeitgeber nicht frei, die Wahllokale öffnen in bestimmten Regionen erst um 10:30 Uhr, machen über Mittag zu und schließen um 15 Uhr. Wasser, Kaffee und Käsebrötchen sind beim Warten verboten – genau wie die Briefwahl.
Wählen darf man nur an seinem Geburtsort, egal wo man jetzt wohnt, aber man darf nicht mit dem Fahrrad zum Wählen kommen, oder Oma helfen, oder – um Gottes Willen – mit irgendjemandem in einem Zehn-Kilometer Radius um das Wahllokal sprechen.
Und es ist eigentlich egal, für wen man stimmt, am Ende gewinnt die AfD.

Ein Zeichen setzen für die Demokratie

Bei meiner ersten Bundestagswahl werde ich bestimmt eine Thermoskanne Kaffee und eine Stulle dabei haben, und vielleicht auch einen Piccolo Sekt, denn nach drei Jahren als Neudeutsche darf ich mein bürgerliches Privileg ausüben und den nächsten Bundeskanzler*in wählen – und dadurch in der Welt (including my Heimat) ein Zeichen setzen: Dass Demokratie is alive and well and living in Germany!

Gayle Tufts ist deutsch-amerikanische Entertainerin, Autorin, Sängerin, Kommentatorin und "Germany’s best-known American" (Stern). Sie lebt seit 1991 in ihrer Wahlheimat Berlin.

Eine mittelalte Frau in schwarz-weißem Oberteil und mit Kurzhaarschnitt auf einer Bühne schaut ernst zur Seite.
© imago / Raimund Müller
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