Wenn "Oral History" zur Literatur wird
Mit Hoyerswerda verbindet man unschöne Bilder und schlechte Nachrichten: Brennende Asylbewerberheime, öde Plattenbauten, hohe Arbeitslosigkeit. Wie die Bürger das alles erleben, berichten sie in einem Erzählsalon. Dort werden ihre Geschichten zu Literatur.
Als Gerhard Walter und seine Frau Ute auf der mit Fichten bewachsenen Wiese zwischen den Plattenbauten stehen, kommen die Erinnerungen. Hier, im Wohnkomplex 7, lag ihre erste Wohnung, als sie 1974 nach Hoyerswerda zogen. Die Gegend hat sich verändert. In dem eingeschossigen Flachbau, wo sich vor der Wende der Otto-Grotewohl-Klub vom Kulturbund der DDR befand, wirbt heute das Restaurant Olympia für gezapftes Bier und fleischreiche Speisen. Der Fahrradsalon Petsch gleich daneben – den gab’s früher wohl auch nicht?
Gerhard Walter:
"Nein, nein, den Fahrradsalon gab’s nicht! Ich nehme an, das war früher ein Fischladen. Ja, also so ein ... Ja, stimmt! ... Ja. Oder die Post? Also Post, Fischladen..."
Ihre alte Zweiraumwohnung, in der sie mit ihren zwei Kindern lebten, können Gerhard und Ute Walter nicht mehr besichtigen. Der Plattenbau wurde abgerissen. Dort, wo sich der Eingang befand, wachsen heute Nadelbäume, Büsche und Sträucher.
Die Lebensgeschichte der Familie Walter – sie erzählt auch ein Stück Stadtgeschichte von Hoyerswerda. In den 70er-Jahren lebten hier etwa 70.000 Menschen. Das VEB Gaskombinat Schwarze Pumpe, in dem Braunkohle verarbeitet wurde, gab den Anwohnern Arbeit. Nach der Wende 1989/90 brach die Industrie zusammen, die Menschen verließen Hoyerswerda. Heute leben nur noch 35.000 Einwohner in der Stadt. Ganze Siedlungen wurden wegen Leerstands abgerissen.
"Nein, nein, den Fahrradsalon gab’s nicht! Ich nehme an, das war früher ein Fischladen. Ja, also so ein ... Ja, stimmt! ... Ja. Oder die Post? Also Post, Fischladen..."
Ihre alte Zweiraumwohnung, in der sie mit ihren zwei Kindern lebten, können Gerhard und Ute Walter nicht mehr besichtigen. Der Plattenbau wurde abgerissen. Dort, wo sich der Eingang befand, wachsen heute Nadelbäume, Büsche und Sträucher.
Die Lebensgeschichte der Familie Walter – sie erzählt auch ein Stück Stadtgeschichte von Hoyerswerda. In den 70er-Jahren lebten hier etwa 70.000 Menschen. Das VEB Gaskombinat Schwarze Pumpe, in dem Braunkohle verarbeitet wurde, gab den Anwohnern Arbeit. Nach der Wende 1989/90 brach die Industrie zusammen, die Menschen verließen Hoyerswerda. Heute leben nur noch 35.000 Einwohner in der Stadt. Ganze Siedlungen wurden wegen Leerstands abgerissen.
Zu den Erzählsalons kommen auch Jüngere
Für die kleinen Geschichten, die immer auch ein Teil der großen Geschichtsschreibung sind, gibt es seit einem Jahr Erzählsalons in der Lausitz. An diesem Abend kommen zum ersten mal auch in Hoyerswerda etwa zwölf Einwohner zusammen, um ihre Erinnerungen an die Stadt auszutauschen. Viele sind über 60, so wie Ute und Gerhard Walter. Aber auch ein paar Jüngere sind neugierig auf die Geschichten und schauen im städtischen Kulturzentrum, der Kulturfabrik, vorbei. Durch den Abend führt der Salonnier Christian Voelker.
"Dann fangen wir mal einfach ganz offiziell an. Ich begrüße Sie hier ganz recht herzlich zu unserem ersten Erzählsalon in Hoyerswerda..."
Der 27-Jährige ist eigentlich Ergotherapeut in Hoyerswerda, den Erzählsalon betreut er ehrenamtlich. Voelker beginnt mit einer Begrüßung und erklärt die Regeln: Niemand wird unterbrochen, keine Geschichte wird kommentiert. Wer zuerst spricht, wer sich anschließt – das alles ist offen. Fest steht nur das Thema des Abends: "Wie ich nach Hoyerswerda kam." Nach zwei Stunden ist der Salon vorbei.
"Ich denke, der Reiz daran ist, dass man wirklich mehrere individuelle Blicke auf eine Zeitepoche hat. Also jeder hat ja 'ne bestimmte geschichtliche Phase anders erlebt, anders empfunden. Es gibt festgesetzte Daten, wann der Erste Weltkrieg begann, wann der Zweite aufhörte, wann die Mauer fiel, und so weiter. Aber das ist ja nicht spannend. Spannend ist: Wie haben das die einzelnen Leute erlebt? Für wen war das wirklich 'ne Befreiung mit dem Mauerfall und wer hat eigentlich danach eingebüßt, zum Beispiel?"
Ute Walter:
"Ich bin hierher gekommen, weil mein Mann bei der Armee war. Aber 'ne Wohnung hat er nicht bekommen, sondern ich hab die bekommen, weil ich als Lehrerin privilegiert war und bekam also eine Wohnung. Wir hatten schon ein Kind, das nahm ich mit her – ich weiß gar nicht, sind wir da mit der Bahn gefahren? Bin ich mit der Bahn gekommen? ... Du bist mit der Bahn ... Mit der Bahn nach Dresden, und dann mit dem Bus. Irgend so was war’s, war jedenfalls sehr kompliziert, das kleine Kind..."
"Dann fangen wir mal einfach ganz offiziell an. Ich begrüße Sie hier ganz recht herzlich zu unserem ersten Erzählsalon in Hoyerswerda..."
Der 27-Jährige ist eigentlich Ergotherapeut in Hoyerswerda, den Erzählsalon betreut er ehrenamtlich. Voelker beginnt mit einer Begrüßung und erklärt die Regeln: Niemand wird unterbrochen, keine Geschichte wird kommentiert. Wer zuerst spricht, wer sich anschließt – das alles ist offen. Fest steht nur das Thema des Abends: "Wie ich nach Hoyerswerda kam." Nach zwei Stunden ist der Salon vorbei.
"Ich denke, der Reiz daran ist, dass man wirklich mehrere individuelle Blicke auf eine Zeitepoche hat. Also jeder hat ja 'ne bestimmte geschichtliche Phase anders erlebt, anders empfunden. Es gibt festgesetzte Daten, wann der Erste Weltkrieg begann, wann der Zweite aufhörte, wann die Mauer fiel, und so weiter. Aber das ist ja nicht spannend. Spannend ist: Wie haben das die einzelnen Leute erlebt? Für wen war das wirklich 'ne Befreiung mit dem Mauerfall und wer hat eigentlich danach eingebüßt, zum Beispiel?"
Ute Walter:
"Ich bin hierher gekommen, weil mein Mann bei der Armee war. Aber 'ne Wohnung hat er nicht bekommen, sondern ich hab die bekommen, weil ich als Lehrerin privilegiert war und bekam also eine Wohnung. Wir hatten schon ein Kind, das nahm ich mit her – ich weiß gar nicht, sind wir da mit der Bahn gefahren? Bin ich mit der Bahn gekommen? ... Du bist mit der Bahn ... Mit der Bahn nach Dresden, und dann mit dem Bus. Irgend so was war’s, war jedenfalls sehr kompliziert, das kleine Kind..."
Aus den Geschichten wird ein Buch
Im besten Fall wird diese "Oral History" später zu Literatur. Hinter dem mit Bundesmitteln geförderten Projekt steht das Berliner Textbüro Rohnstock Biografien. Ein Autor ist bei jedem Erzählsalon dabei und zeichnet die Geschichten auf – immer auf der Suche nach spannenden, konfliktreichen Stoffen. Unter den 300 Erzählungen wählt eine Jury die 100 interessantesten aus. Im September werden sie in einem Buch mit dem Titel "Lausitz an einem Tisch" veröffentlicht. Kein leichter Job für die Autoren, sagt Projektmitarbeiter Nepomuk Rohnstock:
"Wir bearbeiten die Texte natürlich ganz schön doll. Also das muss man schon sagen: Gesprochenes Wort und geschriebenes Wort sind zwei unterschiedliche Welten. Und dann lassen wir das die Leute natürlich noch mal autorisieren. Und, ja: Es ist halt einfach Erfahrung und viel, viel Arbeit."
Frauenstimme:
"Wir haben hier eine schöne Zeit verlebt, wir kennen uns seit... seit wir vier Jahre sind ... Und jetzt sind wir über 70! ... Und jetzt sind wir immer noch zusammen ... Also so eine lange Freundschaft, ja ... Das ist auch sehr schön ..."
"Wir bearbeiten die Texte natürlich ganz schön doll. Also das muss man schon sagen: Gesprochenes Wort und geschriebenes Wort sind zwei unterschiedliche Welten. Und dann lassen wir das die Leute natürlich noch mal autorisieren. Und, ja: Es ist halt einfach Erfahrung und viel, viel Arbeit."
Frauenstimme:
"Wir haben hier eine schöne Zeit verlebt, wir kennen uns seit... seit wir vier Jahre sind ... Und jetzt sind wir über 70! ... Und jetzt sind wir immer noch zusammen ... Also so eine lange Freundschaft, ja ... Das ist auch sehr schön ..."
Es gibt noch viel aufzuarbeiten
Nepomuk Rohnstock meint, dass die Erzählsalons gerade in strukturschwachen Regionen wie der Lausitz helfen können, Orte der Begegnung und des Austauschs zu schaffen. Ein guter Erzählsalon sei wie ein richtig guter Geburtstag von der Oma, sagt er. Christian Voelker möchte an seinen nächsten Abenden aber auch Themen ansprechen, die wehtun – und über die heute in Hoyerswerda geschwiegen wurde:
"Wir haben ja auch 'ne negative Vergangenheit mit 91, mit den brennenden Ausländerwohnheimen. Das ist einfach Stadtgeschichte, die auch noch nicht wirklich aufgearbeitet ist. Und ich denke, es gibt Bedarf darüber zu erzählen. Und für mich wäre es auch spannend, diese Geschichten für Generationen zu bewahren. Weil nur daraus, aus den Fehlern anderer, kann man lernen."
"Wir haben ja auch 'ne negative Vergangenheit mit 91, mit den brennenden Ausländerwohnheimen. Das ist einfach Stadtgeschichte, die auch noch nicht wirklich aufgearbeitet ist. Und ich denke, es gibt Bedarf darüber zu erzählen. Und für mich wäre es auch spannend, diese Geschichten für Generationen zu bewahren. Weil nur daraus, aus den Fehlern anderer, kann man lernen."