Erzählungen

Alltägliche Nichtigkeiten

Von Verena Auffermann |
Amy Hempel schreibt in ihrem Buch "Die Ernte" sehr kurze Geschichten mit schrägen Momenten des täglichen Lebens. Sie stellt das Alltägliche mit einer wohltuend witzigen und nicht verletzenden Bösartigkeit dar.
Eine Entdeckung. Jedenfalls für den deutschen Sprachraum. Amy Hempels sehr kurze Stories sind oft nicht mehr als zwei Seiten lang. Sie erzählen von den schrägen Momenten des täglichen Lebens. Das Alltägliche wird mit einer wohltuend witzigen, nicht verletzenden Bösartigkeit dargestellt.
Amy Hempel, die 1951 geborene in New York lebende Schriftstellerin, wurde durch Veröffentlichungen in "Vanity Fair", "Harper's Bazaar" und "Playboy" bekannt. Sie beherrscht die Kunst vieler amerikanischer Autoren, den ersten Satz wie ein Lasso um die Aufmerksamkeit des Lesers zu werfen.
Umstandslos stößt sie in ein soziales Milieu, in die Stimmung einer Zweierbeziehung, in eine Szenerie aus Angst und Schrecken vor: "Zehn Kerzen in einem Fischstäbchen künden davon, dass Gully Geburtstag hat." Oder: "Tagelang gab es nichts zu sagen als: Was für ein herrlicher Tag." Oder: "Als Mrs. Lawton die Bedrohung telefonisch meldete, war die Bedrohung schon eine Tatsache."
Es gibt keine Routine in den Texten, nie weiß man, wohin sie führen. Aber Amy Hempel ist nicht am Leid als solchem, sondern an der Überwindung des Leids interessiert, sie spielt es herunter, erteilt ihren Personen herrlich unkorrekte Ratschläge und bekommt es fertig, dass diese sich unbeabsichtigt souverän verhalten.
Geschichten sind Kernschmelze des emotionalen Überbaus
Viele sind im Teenageralter, haben Schreckliches wie den Tod der Eltern erlebt, sagen Kunstsätze, die sie aus dem Fernsehen kennen, die Amy Hempel dann kommentiert. Dass die Verhältnisse meist alles andere als rosig sind, ist für die Autorin kein Grund, den Kopf in den literarischen Sand zu stecken. Sie lässt ihre Figuren überleben, meistens.
In der titelgebenden Geschichte "Die Ernte" geht es um einen Motorradunfall, der einem 18-jährigen Mädchen fast das Bein gekostet hätte. Amy Hempel hört dem Motorradfahrer zu, der den Unfall herunterspielt, karikiert die Juristensprache des Anwalts, setzt das Mädchen wegen des größeren Fernsehers in den Aufenthaltsraum der Dialysestation, lässt sie auf die Transplantationsliste schauen und das Wort "Ernte" entdecken, hört wie eine Mutter um betrunkene Autofahrer betet, damit ihr Sohn eine neue Niere bekommt, das "geerntete Organ".
Solche Zweischneidigkeit weckt Amy Hempels Interesse. "Ich lasse", schreibt sie, "vieles aus, wenn ich die Wahrheit sage. Gleiches gilt, wenn ich eine Geschichte schreibe". Also beschreibt sie nicht die Schmerzen und Ängste des Mädchens. Auch in anderen Geschichten bleibt der gesamte Herzschmerz draußen. Denn wo käme man da hin, bei all den "verwitweten Eltern" und verstörten Kindern, die doch den Mut haben, "voran zu stürmen", weil sie bereit sind, "wirklich zu leben".
Amy Hempels Short Stories sind Kondensate, eine Art Kernschmelze des emotionalen Überbaus. Durch diese Beschränkung kommt die Grausamkeit des Lebens besonders klar zum Vorschein. Amy Hempel ist eine wirkliche Entdeckung aus dem Land der Erzähler vom Format eines Raymond Carver, einer Alice Munro aus dem benachbarten Kanada oder der hier gerade wiederentdeckten Grace Paley.

Amy Hempel: Die Ernte. Erzählungen
Aus dem Amerikanischen von Jakob Jung
Luxbooks, Wiesbaden 2013
115 Seiten, 14,90 Euro