Erzählungen aus Russland

Die Tragödien des Menschen

Der russische Dichter Iwan Bunin
Der russische Dichter Iwan Bunin © dpa / picture alliance
Von Jörg Plath |
Es sind Reisen in die Welt menschlicher Wünsche, Hoffnungen und Ängste: Der Band "Vera" enthält fünf Erzählungen des russischen Autors Iwan Bunin aus dem Jahr 1912. Geschildert werden staunenswerte Schicksale, die in ihrer Leichtigkeit an Tschechow erinnern.
Der Russe Iwan Bunin war ein großer Reisender. 1912 wollte er mit seiner Frau Vera Muromzewa per Schiff nach Japan, mit der Transsibirischen Eisenbahn zurück nach Moskau und dann weiter nach Odessa oder auf die Krim reisen. Daraus wurde zu seinem Bedauern nichts. Immerhin aber verbrachte das Ehepaar einige Monate auf Capri und fuhr dann nach Athen, Konstantinopel und Odessa. Den Sommer verbrachte es wie meist in Russland auf dem Land, wo alle Erzählungen Bunins aus diesen Jahren spielen. Fünf entstehen 1912, und die schöne Werkausgabe im Dörlemann Verlag stellt sie in den frühen, bisher nicht auf Deutsch zugänglichen Fassungen unter dem Titel "Vera" vor.
Bunin entfaltet in ihnen Schicksale mit staunenswerter, an Tschechow erinnernder Leichtigkeit. Nur eine der Erzählungen nimmt ein gutes Ende, die anderen vier enden tragisch: Der Riese Sachar Worobjow stirbt beim Wetttrinken mit denen, die er Kleinwüchsige nennt; Ignat wird von seiner schamlosen Frau nicht nur gehörnt, sondern, als er sie auf frischer Tat ertappt, auch noch zum Mord an dem Nebenbuhler angestiftet; Jermil hat so große Angst vor einem Überfall, dass er ihn erst mit vorbereiten hilft und dann in Notwehr einen Menschen tötet; ein älteres Paar erkennt, dass sie fünfzehn Jahre lang versäumten, ihre Liebe zu leben. Nur der 80-jährige Bauer Ljuban zeigt selbstbewusst seinen Wohlstand und lebt doch mit der vielköpfigen Familie weiter in einer Erdhütte, gleich neben dem halbfertigen großen Haus: "Wir sind Erdbewohner, mein Lieber."
Man glaubt, Kurzromane zu lesen
Wie schon in den früheren Erzählungen werden die Tragödien der Menschen von der Schönheit der Natur eingefasst. Die vor Anschaulichkeit und Detailliertheit strotzenden Beschreibungen entstehen oft genug aus der souveränen Neuinterpretation stilistischer Selbstverständlichkeiten: Bunin, den nicht nur Maxim Gorki für den besten Stilisten seines Landes hielt, reiht bei Blicken auf Wald, Wiese, Garten und See Adjektiv auf Adjektiv aneinander – jedoch sorgsam ausgewählt und aufeinander abgestimmt in Klang und Rhythmus.
Seine Übersetzerin Dorothea Trottenberg hält es glücklicherweise ebenso und lässt Naturbilder entstehen: "Auf den feuchten, mondbeschienenen Feldern schimmerte mattweiß der Wermut in den Ackerrainen. Unversehens schwangen sich Eulen, die Flügel weit gespannt, geräuschlos von den Rainen empor, und das Pferd schnaubte und scheute. Der Weg führte in einen kleinen Wald, der im Mondlicht fahl und taukühl dalag. Der Mond blinkte grell und gleichsam feucht durch die kahlen Wipfel, und die kahlen Äste verschwammen mit seinem feuchten Glanz, verschwanden darin. Es roch bitter nach Espenrinde, nach Erdfurchen mit modrigem Laub (...)".
In den Jahren zuvor hatte Bunin, der als Sohn eines verarmten Adligen die Lage auf dem Land kannte, mit den längeren Erzählungen "Das Dorf" oder "Suchodol" über das vorrevolutionäre Aufbegehren der Bauern, die Verwahrlosung und Hungertod entgegensehen, großes Aufsehen erregt. Nun treten die Figuren, darauf weist der Herausgeber Thomas Grob in seinem Nachwort hin, deutlicher als bisher als Individuen hervor.
Die sozialkritische Lesart tritt zurück, aus beklagenswerten Zuständen und traurigen Ereignissen werden Tragödien des Menschen schlechthin. Bunin orchestriert diese Tragödien nicht anders als die Naturbeschreibungen mit einer Vielzahl von scheinbar nebensächlichen Details. So erhalten die Geschichten einen beträchtlichen Hallraum, was den knappen Umfang von lediglich 20 bis 50 Seiten vergessen lässt. Man glaubt, Kurzromane zu lesen – Reisen in die Welt menschlicher Nöte und Wünsche, Hoffnungen und Ängste.

Iwan Bunin: Vera. Erzählungen 1912
Aus dem Russischen von Dorothea Trottenberg
Herausgegeben von Thomas Grob
Dörlemann, Zürich 2014
158 Seiten, 21,90 Euro

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