Erzählungen über das Leben

Von Anette Schneider |
Er gilt als einer der großen Fotografen des 20. Jahrhunderts: Der Ungar André Kertész, der 1985 im Alter von 91 Jahren starb. Mit welcher Konsequenz Kertész von Anfang an abseits aller Moden eine eigene Bildsprache entwickelte, zeigt eine Retrospektive im Berliner Martin-Gropius-Bau.
Er zeigt Menschen. Freunde ebenso wie Fremde. Und er zeigt Dinge. Ein einsames Fahrrad. Einen Kartenspieler von oben. Eine melancholisch über den Vasenrand hängende Tulpe. Eine Beinprothese.

André Kertészs Fotografie unterscheidet sich auffällig von der seiner berühmten Zeitgenossen. Etwa von Moholy-Nagy und dessen rein formal-ästhetischen Experimenten. Denn, so erklärt Kurator Michel Frizot:

"Kertész verstand sich als 'Amateur'. Damit meinte er, dass seine Fotografie eng verbunden ist mit dem Alltag. Die Vorstellung von Fotografie als 'reiner Kuns' lehnte er ab. Für ihn waren Fotografie und Leben ein und dasselbe. Fotografie war für ihn kein Mittel, um etwas zu dokumentieren, um bestimmte Ereignisse festzuhalten. Er nutzte sie, um mit ihr Gefühle auszudrücken: Mit ihr konnte er erzählen, was ihn beschäftigte und berührte, was er mochte, und was nicht. Oder, wie er selbst einmal sagte: Meine Fotografie zeigt, was ich fühle."

1894 als Sohn jüdischer Eltern in Budapest geboren, beginnt Kertész früh zu fotografieren. Mit 25 geht er nach Paris, und 1936 wandert er nach New York aus, wo er 1985 hochbetagt stirbt. In diese drei Lebensstationen ist die umfangreiche Ausstellung auch gegliedert: Am Anfang stehen winzige Vintage-Prints, auf denen Kertész - wie in einem Tagebuch - Familie und Freunde festhält. 1915 kommt das lähmend-langweilige Soldatenleben abseits der Front hinzu, wo Kertész schwer verletzt bis zum Kriegsende verbringt.

In Paris angekommen, ringt er darum, auf andere, sinnbildhafte Weise vom Leben zu erzählen. Immer mehr gleichen seine Bilder anrührenden, grotesken, ironischen und schmerzhaften Erzählungen über das Leben. Oft fotografiert er Menschen, Straßen, Dinge in Aufsichten und Anschnitten, was den Szenerien etwas Instabiles und Zerbrechliches verleiht. Oder er fotografiert nachts, arbeitet mit Doppelungen, fragt so nach echt und unecht. Und er entdeckt den Schatten als Bildthema:

"Kertész hat keinen typischen Stil entwickelt. Bei ihm ist jedes Bild eine neue Erfindung. Er fotografiert nie mehrere Bilder in einer Machart. 'Die Gabel' zum Beispiel war das Ausgangsbild für seine Idee, Schatten zu zeigen. Schatten und Doppelungen. Aber diese Idee hat er ständig erneuert. Und hier haben Sie zahlreiche Bilder, die sich mit Schatten beschäftigen, aber sie sind alle vollkommen unterschiedlich."

Einige verlassene Gartenstühle, die im Abendlicht lange Schatten werfen, erzählen von Einsamkeit. Ein Mann, der in gleißendem Sonnenlicht auf einer Leiter steht und eine Mauer anstreicht, scheint dabei sein eigenes Schattenbild zu entwerfen. Und das Schattenspiel einer auf einem Tellerrand abgelegte Gabel erzählt vom Notwendigsten: Dem Überleben.

Kertész arbeitet in Paris erfolgreich für die Zeitschrift "VU", und entwickelt gemeinsam mit der Redaktion das Genre der Fotoreportage. Doch ab Mitte der 30er-Jahre bleiben die Aufträge aus, sodass sich Kertész gezwungen sieht, mit seiner Frau nach New York auszuwandern. Dort allerdings, so Michel Frizot, erlebt er eine riesige Enttäuschung:

"Man verstand seine Arbeit in den USA nicht. Beispielsweise bot er dem gerade gegründeten 'Life Magazine' Bilder an, und machte auch ein oder zwei Reportagen für die Redaktion. Doch die beschwerte sich: Seine Bilder würden zu viel erzählen. Das zeigt, sie haben seine Bilder nicht verstanden. Sie mochten sie nicht. Sie waren zu persönlich. In den USA erzählt man aber nicht über sich, sondern über Dinge."

Da es für Kertész als Juden kein Zurück nach Europa gibt, muss er sich mit Brotarbeit über Wasser halten. In diesen Jahren entstehen auch seine wohl melancholischsten Arbeiten: Immer wieder zeigt er bildfüllend Mauern. Mal sieht man am unteren Bildrand einige kleine Passanten oder ein Parkverbotsschild. Mal den Schatten eines Baumes oder eine auffliegende Taube. Das schmerzlichste Foto aber ist die "Verlorene Wolke": Am rechten Bildrand ragt ein Wolkenkratzer in die Höhe. Links ist nichts als heller Himmel - mit einer winzigen Wolke darinnen, die im nächsten Moment am Wolkenkratzer zu zerschellen droht.

Einfühlsam stellt die Ausstellung diesen eigensinnigen, poetischen Künstler vor. Einen Künstler, der sich nie durch kurzweilige Moden davon abbringen ließ, auf seine Art vom Leben zu erzählen - was die Ausstellungsmacher auf besonders schöne Weise würdigen: Jeden Saal eröffnen sie mit einem Selbstporträt des Fotografen, einem nachdenklichen natürlich.

Service:
Die Ausstellung André Kertész – Fotografien ist bis zum 11. September 2011 im Martin-Gropius-Bau in Berlin zu sehen.
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