Grace Paley: Am selben Tag, später – Storys
Aus dem Englischen von Mirko Bonné
Schöffling Verlag, Frankfurt a.M. 2015
263 Seiten, 19,95 Euro
Manchmal böse, oft mitfühlend
In ihrem Erzählungsband "Am selben Tag, später" lässt Grace Paley in kleinen Gesten und Anekdoten ganze Leben aufscheinen. Die US-Amerikanerin ist bekannt für ihre rhythmische Sprache. Sie starb zwar 2007, wird jetzt aber bei uns wiederentdeckt - endlich.
In Amerika zählt sie zu den wichtigen Autorinnen ihrer Generation. Susan Sontag hat über sie gesagt: "Grace Paley gehört zu jener seltenen Gattung von Schriftstellern mit einer Stimme wie niemand sonst sie hat: Komisch, traurig, bescheiden, energisch, genau." Jetzt wird die 2007 – mit 84 Jahren – gestorbene Autorin bei uns endlich wiederentdeckt.
"In der Bronx saßen eines Tages zwei kleine Mädchen namens Edi und Ruthy auf den Treppenstufen vorm Haus. Sie redeten über die wirkliche Welt der Jungen." Und die unterscheidet sich bekanntlich von der der Mädchen und wird sich auch noch unterscheiden, wenn die Kinder erwachsen geworden sind. Grace Paley erzählt immer wieder in ihren Geschichten von diesen Unterschieden zwischen den Geschlechtern – und von der Freundschaft zwischen Frauen; die hält manchmal ein Leben lang, auch wenn – wie in dieser Geschichte – die eine Freundin, die großspurig von Mut und Tapferkeit spricht, die andere in einer Gefahrensituation feige im Stich lässt. Oder vielleicht war es auch nicht ganz so, denn die Erinnerung spielt den Betroffenen Jahrzehnte später manchmal üble Streiche. Am 50. Geburtstag der einen Freundin meint die andere jedenfalls, die Sache mit dem bedrohlichen Hund sei ganz anders gewesen. Grace Paley entwirft in dieser Geschichte ("Edi und Ruthy") auf wenigen Seiten die Stationen weiblicher Biografien. Es geht um Männer, Kinder, das Alter, Sex und eben um Frauenfreundschaften. Vier Frauen sitzen am Tisch und reden.
Jede Ausschmückung getilgt
Grace Paley wurde 1922 in New York als jüngstes von drei Kindern jüdischer Einwanderer aus der Ukraine geboren. Ihr Gefühl für Klang und Dialoge kam auch aus der Erinnerung an das Gemisch, mit dem sie als Kind im Osten der Bronx aufgewachsen war: Russisch, Englisch und Jiddisch. Aus dieser Mischung entstand ein ungewöhnlicher literarischer Ton, der – als ihr erstes Buch 1959 herauskam – sofort wahrgenommen und gelobt wurde. Ihr Schreiben war immer auch eine kunstvoll rhythmisierte und nicht zuletzt verknappte Variante des Sprechens. Sie tilgt jede Ausschmückung oder Erläuterung in ihren Geschichten, lässt vielmehr aus einer kleinen Geste, einer nebensächlichen Anekdote ein ganzes Leben aufscheinen. In der Geschichte "Liebe" sind es etwa "zwei Paar Schlafzimmerpantoffeln, eins nach Sandalenart für den Sommer und das andere gefüttert mit kuschligem Lammfell", die uns den nicht mehr allzu leidenschaftlichen Alltag eines älteren Paares deutlich machen.
Dass der Frankfurter Schöffling Verlag das gesamte (schmale) Werk dieser wichtigen amerikanischen Autorin in neuen Übersetzungen herausbringt, kann gar nicht genug gelobt werden. In dem neuen, dem dritten Erzählungen-Band sind es vor allem Menschen in mittlerem Alter, die sich über Politik und Liebe, über den Alltag und die Kinder sorgen. Das Werk dieser Schriftstellerin lässt sich auf einen Begriff bringen: unsentimental. Grace Paley ist komisch, genau, manchmal böse, oft mitfühlend – und immer unsentimental. Man kann den Satz eines ihrer Protagonisten – in der Geschichte "Zagroski erzählt" – als ein Motto ihres literarischen Kosmos lesen. Dem alten Mann wurde einst von einer selbstgerechten Frauengruppe übel mitgespielt, die gedankenlos sein Geschäft sabotierte, weil sie ihn des Rassismus verdächtigte: "hab ich mit dem Erzählen erst angefangen, muss ich auch die ganze Geschichte erzählen."