Ismail Kadare: Die Schleierkarawane. Erzählungen
Aus dem Albanischen von Joachim Röhm
S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2015
208 Seiten, 19,99 Euro
Parabeln über den albanischen Alltag
Um die Atmosphäre der Denunziation und Gewalt im kommunistischen Albanien darzustellen, wich der Schriftsteller Ismail Kadare oft in andere Epochen aus. In den drei unter dem Titel "Schleierkarawane" neu aufgelegten Erzählungen ist es das Osmanische Reich, zu dem Albanien bis 1912 gehörte.
Seit Jahren gehört der albanische Autor Ismail Kadare zu den Favoriten für den Nobelpreis. Bekommen wird er ihn wohl nie, obwohl er einer der großen europäischen Erzähler ist. Seine Rolle im kommunistischen Albanien unter Enver Hoxha wird ihm häufig zum Vorwurf gemacht, war er doch Mitglied der Partei und Parlamentsabgeordneter und galt als Günstling des Diktators. Dabei versäumte er es, den Schutz, dem ihn sein internationaler Ruhm und sein Zweitwohnsitz Paris gewährten, in deutliche Kritik am System umzumünzen. Aber was bedeutet das, wenn die Literatur ein so klares Bekenntnis gegen die Unterdrückung ist? Es gibt kaum einen Autor, der die Atmosphäre der Angst, der Gewalt, der Bespitzelung, der Denunziation und des Opportunismus so bedrückend darzustellen vermag als Kadare.
Häufig wich er in seinen Geschichten in andere Epochen aus, um auf dem Umweg über die Geschichte parabelhaft die albanische Gegenwart zu thematisieren. So auch in den drei jetzt unter dem Titel "Die Schleierkarawane" neu aufgelegten Erzählungen, die allesamt in der Zeit des Osmanischen Reiches spielen, zu dem Albanien bis 1912 gehörte. Erstaunlicherweise sind diese Erzählungen erstmals 1987 in der DDR erschienen, zur Zeit der Perestroika. Joachim Röhm, in dessen Übersetzungen nach und nach das Gesamtwerk Kadares vorliegt, hat sie nun neu in ein klares, makelloses Deutsch gebracht.
Freudige Unruhe
Am eindrucksvollsten ist sicherlich die 1983 entstandene Titelgeschichte. Sie handelt von einem Karawanenführer, der 500.000 Schleier auf dem Balkan verteilt, mit denen das im Zuge der Islamisierung vom Sultan erlassene Verschleierungsgebot durchgesetzt werden soll. Dieser ungebildete, unbedarfte Türke hat noch nie unverschleierte Frauen gesehen. Zunächst ist er beim bloßen Gedanken daran entsetzt, wird dann aber durch deren Anblick auf den Straßen Griechenlands in eine freudige Unruhe versetzt. Ordnungsgemäß verrichtet er seine Arbeit, doch auf dem Rückweg – die Schleier sind verteilt – verfällt er in eine tiefe Trauer, als er bemerkt, dass auf den Straßen keine Frauen mehr zu sehen sind.
Seine Tränen erregen Verdacht: Wer trauert, hat etwas zu verbergen. Er wird verhaftet, verhört, gefoltert, doch er bleibt stumm, bis er ein paar Monate später in seiner Zelle stirbt. Das ist die Geschichte eines Mannes, der seine Pflicht im Dienste des Systems erfüllt, der aber, nachdem er einmal hinausgeschaut hat in die Welt, nicht mehr zurückfindet.
Klaustrophobischen, albtraumhaften Innenräume
Weniger gelungen dagegen die breit ausgepinselte Erzählung "Der Festausschuss" über ein schreckliches Ereignis aus dem 19. Jahrhundert: Der Sultan lud 500 albanische Würdenträger zu einem großen Versöhnungs- und Friedensfest, das aber nur als Lockmittel diente, um sie alle zusammen niederzumetzeln. Auch die Familienchronik "Das Geschlecht der Hankonen", das in einem großen Bogen 200 Jahre Geschichte aus Kadares Heimatstadt Gjirokastra resümiert, bleibt vergleichsweise flach.
Großartig ist Kadare immer dann, wenn er sich aus dem konkret Historischen löst, wenn seine klaustrophobischen, albtraumhaften Innenräume etwas Dämonisches, Existentielles gewinnen oder wenn, wie in der Figur des Karawanenführers, die innere Tragik eines Menschen kenntlich wird. Dafür hat Kadare mit seiner trockenen Schreibweise eines Chronisten, der dem Fantastischen gegenüber aufgeschlossen ist, ein unnachahmliches Gespür.