Rudyard Kipling: "Die späten Erzählungen"
Aus dem Englischen von Gisbert Haefs
S. Fischer Verlag, Berlin 2015
462 Seiten, 19,99 Euro
Erinnerungen an den Schmerz des Krieges
Wenn im Jahr von Rudyard Kiplings 150. Geburtstag ein Band mit dessen "späten Erzählungen" erscheint, ist das vielleicht keine literarische Sensation. Aber es könnte helfen, das bis heute ambivalente Verhältnis der Kritiker zum Erfinder des "Dschungelbuchs" ein wenig zu korrigieren.
Bis heute nämlich sehen die Einen in ihm den Vorreiter einer modernen Literatur, ohne den das Werk eines T.S. Eliot oder Salman Rushdie nicht möglich gewesen wäre. Die Anderen schmähen ihn noch immer als Minnesänger des Imperialismus.
Schon gegen Ende seines Lebens meinte es die Kritik nicht mehr gut mit dem Mann, der 1907 als erster englischsprachiger Autor den Nobelpreis für Literatur erhielt. Rudyard Kipling, am 30. Dezember 1865 in Bombay geboren, verließ 1889 endgültig den Subkontinent und kehrte nach London zurück. Mit seinen "indischen Büchern" – dem „Dschungelbuch" oder dem ebenfalls in neuer Übersetzung vorliegenden Roman „Kim" – brach er zwar wie ein Wirbelsturm in die verstaubte Landschaft der englischen Literatur ein, galt aber rasch als ‚vulgärer' Autor. Zu radikal brach er mit literarischen Tabus seiner Zeit, wozu nicht zuletzt sein Spiel mit einer Polyglotterie gehörte, das Rassen- und Klassenschranken überwand und lustvoll Jargon und Slang, Soziolekte und Dialekte, kurz: den ‚Subalternen' hörbar machte.
1932 erschien „Limits and Renewals", der letzte zu Lebzeiten erschienene Sammelband von Geschichten. Ihm entstammen die nun von Gisbert Haefs erstmals ins Deutsche übertragenen Erzählungen. In ihnen steht nicht mehr – wie noch in "Kim" – Rudyard Kiplings große Liebe für den indischen Subkontinent im Mittelpunkt. Hier zieht der Autor – der noch immer durch die Kunst der Beschreibung und den ungewohnten Zugriff auf Stoff und Charaktere besticht – vielmehr Bilanz: Die Auftaktgeschichte „Missbrauchter Morgen", die von einer literarischen Fälschung handelt, wartet auf mit bitteren Kommentaren über das Verhältnis zwischen Autoren und Kritikern.
Die Mehrzahl der Erzählungen aber, denen übrigens Gedichte aus seiner Feder als begleitende Kommentare zur Seite gestellt sind, handelt von den verheerenden Auswirkungen des Ersten Weltkriegs auf Soldaten und Zivilisten: Rudyard Kipling hatte den Ersten Burenkrieg noch als überzeugter Reporter begleitet, 1915 aber den Tod seines geliebten Sohns John im Ersten Weltkrieg zu beklagen. Mit ungeschönter Direktheit schildert er nunmehr traumatisierte und gescheiterte Existenzen, Kriegswunden und Behelfslazarette – darin lag eine weitere vermeintliche Vulgarität. Viele der Erzählungen brechen übrigens abrupt, wie unvollendet ab: Nicht nur den frühen, auch den späten Rudyard Kipling interessieren als Erzähler eher die Verwicklungen und Wendungen, die Rätsel, nicht deren Auflösung. So wie der kleine Kim sich also immer wieder fragt: Wer ist Kim?, sollten wir Heutigen uns noch einmal fragen: Wer ist Kipling? Es ist jedenfalls höchste Zeit, ihn als einen der ganz Großen neu zu entdecken.