Erzbischof Marx warnt vor Rückfall in "primitiven Kapitalismus"
Der Erzbischof von München und Freising, Reinhard Marx, plädiert für eine "wirklich geordnete Marktwirtschaft, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt." Der Schritt von einem primitiven Kapitalismus hin zu einer sozial geordneten Marktwirtschaft dürfe nicht rückgängig gemacht werden. Gleichzeitig dürfe man sich nicht wieder von marxistischen Ideen leiten lassen, die noch verheerender seien, betonte Marx.
Joachim Scholl: 1867 erschien "Das Kapital", das Hauptwerk von Karl Marx, eine Analyse und Kritik der kapitalistischen Ökonomie, ein philosophischer Klassiker, der zurzeit von manchem empörten Bürger hie und da wieder aus dem Regal geholt werden dürfte, während der Fernseher läuft mit den neuesten Schreckensmeldungen aus der Finanzwelt. Parallel zur historischen Lektüre lässt sich ein aktuelles Buch aufschlagen, das in diesen Tagen erscheint und ebenfalls "Das Kapital" heißt. Am Telefon ist jetzt der Autor, der Erzbischof von München und Freising. Guten Morgen, Reinhard Marx!
Reinhard Marx: Guten Morgen, Herr Scholl!
Scholl: War es an der Zeit, ein neues "Kapital" zu schreiben, Hochwürden?
Marx: Ja, das Thema beschäftigt mich schon länger, nicht seit der Finanzkrise erst, weil Papst Johannes Paul II. nach dem Zusammenbruch des Kommunismus geschrieben hat 1991, wenn der Kapitalismus, so sagt er, die Probleme von Gerechtigkeit, Armut und Reichtum, Solidarität in der ganzen Welt nicht befriedigend löst, dann kommen die alten Ideologien, dann kommt der alte Marx wieder. Ich sage das mal mit meinen Worten.
Und das ist nicht im Sinne der Kirche, weil Marx zwar eine ganze Reihe von interessanten Analysen vorgelegt hat über den damaligen Kapitalismus und auch einige Prognosen gemacht hat, die uns heute sehr bekannt vorkommen, aber die Gesamtausrichtung seines Menschenbildes und seiner Vorschläge sind natürlich verheerend und die Folgen haben sich ja gezeigt.
Insofern kommt diese Sorge und deswegen war das auch der Anlass, dieses Buch zu schreiben. Schon vor zwei Jahren ist das Projekt gestartet. Ich hatte da nicht so viel Zeit in den letzten Monaten durch die Versetzung nach München hin von Trier aus. Aber diese Idee, noch einmal zu schauen, was Marx gesagt hat und auch zu versuchen, ihn zu widerlegen und deutlich zu machen, das ist keine Antwort auf unsere Fragen und unsere Probleme, das war mir schon ein Anliegen.
Scholl: Im Nachwort der zweiten Auflage seines Kapitals verteidigt Karl Marx den Philosophen Hegel gegen die damalige akademische Kritik. Er sagt, Hegel sei längst "kein toter Hund". Nach 1989, nach der großen politischen Systemwende in Europa hat man Karl Marx auch als "toten Hund" bezeichnet. Aber, Herr Erzbischof, wenn man sich die aktuelle Lage anschaut, beißt der tote Hund nicht heute ganz schön?
Marx: Ja, ja, das ist ja die Befürchtung von Papst Johannes Paul II., ist völlig berechtigt, dass natürlich die marxistische Ideologie und auch marxistische Ideen wiederkommen bei einer solchen Krise, das ist ja verständlich. Wir erleben das ja auch in den Debatten in Deutschland. Und deswegen muss man sich wieder damit beschäftigen. Karl Marx ist nicht irgendjemand, sondern er hat im 19. Jahrhundert auch sehr gut manche Dinge analysiert, hat dann eine Bewegung mitinspiriert, die ja auch in der Sozialdemokratie ihre Auswirkungen hatte, aber eben auch in politischen Ideen, die völlig gegen den Menschen gerichtet waren.
Umso wichtiger ist es jetzt, auch wirklich genauer hinzuschauen, einmal wirklich dafür zu kämpfen, dass wir eine soziale Marktwirtschaft behalten oder wiederbekommen, dass wir wirklich diesen Schritt von einem primitiven Kapitalismus hin zu einer sozial geordneten Marktwirtschaft nicht wieder rückgängig machen und in eine falsche Richtung gehen. Und zum anderen, dass wir uns nicht von marxistischen Ideen wieder leiten lassen, die noch verheerender sind.
Das ist eigentlich die Herausforderung in diesen Monaten, nicht nur jetzt in diesen Monaten, sondern danach, wenn man noch etwas genauer auf die Krise schauen kann zurückblickend, eine wirklich geordnete Marktwirtschaft, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt. Das ist die Intention. Aber mich wundert natürlich nicht, dass jetzt wieder marxistische Ideen auf der Tagesordnung stehen bei manchen.
Scholl: Sie kritisieren mit Marx ja gewissermaßen auch in Ihrem Buch die Auswüchse, wie wir sie jetzt erleben. Zugleich verteidigen Sie das Prinzip der freien Marktwirtschaft gegen Marx. An einer Stelle nennen Sie den internationalen Finanzmarkt eine, Zitat, "grundsätzlich gute Sache". Diesen Satz habe ich mir gleich mal angestrichen, weil aber, was wir jetzt in diesen Tagen grundsätzlich lernen und gerade wenn wir jetzt die neuesten Spekulationen um die VW-Aktie wieder sehen, lernen wir eigentlich gerade, dass dieser Finanzmarkt, so wie er sich jetzt von der realen Wirtschaft abgekoppelt hat, eben grundsätzlich keine gute Sache ist, sondern die Wurzeln allen Übels, oder?
Marx: Ja, und einmal grundsätzlich ist das schon eine gute Sache, wenn er geordnet ist. Er war eben nicht geordnet. Wir haben über Deregulierung nur geredet in den letzten Jahrzehnten und die Abkoppelung, das schreibe ich auch in dem Buch, die Abkoppelung von der realen Wirtschaft ist sicher gefährlich und ist nicht richtig. Insofern ist erheblicher Handlungsbedarf.
Aber natürlich, wenn wir einen weltweiten Markt wollen und, ich glaube, dazu gibt es keine Alternative, dann muss er geordnet sein im Blick etwa auf die Chancen auch der armen Länder. Und dann gehört dazu auch eine geordnete Finanzmarktsituation. Auch Finanzen sind immer Weltfinanzströme gewesen, nicht erst jetzt in den letzten Jahren, das ist seit 150 Jahren der Fall. Das ist ja keine Frage. Immer dann, wenn diese Märkte nicht geordnet sind, wenn sie keinen Rahmenordnung haben und die Akteure im Grunde genommen einem falschen Anreizsystem hinterherlaufen, ohne dass dort Regeln sind, dann löst sich das von den realen Bedingungen und führt zu solchen Katastrophen. Der Markt an sich ist nicht das Problem, sondern ein geordneter Markt. Ein Markt ohne Ordnung führt in die falsche Richtung und geht gegen den Menschen.
Scholl: "Das Kapital" als Plädoyer für den neuen Menschen, das fordert der Erzbischof Reinhard Marx im Deutschlandradio Kultur im Gespräch. Herr Marx, es ist wohl unbestritten, dass Karl Marx das Wesen, das Prinzip des Kapitalismus geistig ziemlich akkurat durchdrungen hat. Stichwort Mehrwert, das zitieren Sie auch ausführlich in Ihrem Buch. Was wir heute erleben, ist diesem Prinzip leider nur allzu gemäß. Sie erinnern daran, dass Vertreter der katholischen Soziallehre schon zu Zeiten von Marx ebenfalls das Prinzip des frei flottierenden Kapitalismus angeprangert haben. Diese Tradition der katholischen Soziallehre, da war ja lange, lange Funkstille.
Marx: Ja, und deswegen habe ich mich auch hingesetzt, vor zwei Jahren schon, und habe diese Idee, die vom Verlag auch drängend auf mich zukam, dann noch eigentlich mit Zögern aufgenommen, weil ich denke, es sind in der katholischen Soziallehre so viele gute Ideen, auch Ideen, die sich bewährt haben, dass man auch in einer populäreren Weise, sodass viele Menschen das auch aufnehmen können, das noch einmal in die Öffentlichkeit hineinträgt.
Ich beschäftige mich ja mit dem Thema seit fast 30 Jahren. Ich war Professor für katholische Soziallehre und ich habe immer bedauert, dass auch innerhalb der Kirche und in der Öffentlichkeit das ein wenig vergessen wurde. Man braucht immer erst Krisen, um dann wieder zu entdecken, dass die eigenen Schätze, die eigenen Gedanken, das Eigene, was im Bereich der Kirche hat, auch wieder wertgeschätzt wird.
Und das möchte ich mit diesem Buch auch erreichen, dass man sich wieder beschäftigt mit den großen Ideen der katholischen Soziallehre, die sich meiner Ansicht nach sehr, sehr bewährt haben, eine realistisches Menschenbild, eine Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft, die Prinzipien gehorcht, die eine ethische Ausrichtung haben, aber auch vernünftig ist, also keine Utopie.
Scholl: Wenn jetzt morgen, Herr Marx, in Ihrem Beichtstuhl ein kleinlauter Banker kniet, nennen wir ihn mal Josef, und sagt, Vater, ich habe nicht gesündigt, denn es gehört leider zur Natur der Sache, wenn ich keine Rendite erzeuge, werde ich gefeuert und morgen steht mein Nachfolger im Büro, der Markt bestimmt die Regeln. Der Markt ist nämlich leider unser Gott. Was sagen Sie denn diesem Mann?
Marx: Ja, wenn er sagt, der Markt ist unser Gott, dann muss ich sagen, dann schau mal, lieber Freund, auf das erste Gebot. Du sollst neben mir keine anderen Götter haben. Oder wie Luther sagt, wo dein Schatz ist, da ist auch dein Gott.
Scholl: Aber mit dem Markt, Herr Marx, wird alles begründet.
Marx: Ja, ich verstehe schon, was Sie meinen.
Scholl: Es ist immer der Markt.
Marx: Nein, es geht nicht um Gewinn, wir sind ja nicht gegen Märkte und auch nicht jeder Manager oder jeder Banker hat jetzt unmoralisch gehandelt. Das ist ja so eine Kollektivschuldhysterie, die manche da anfeuern. Jeder ist für sich selber verantwortlich. Man muss überlegen, zum Beispiel ein klares ethisches Kriterium für sich selber überlegen, was ich hier verkaufe, etwa ein Zertifikat oder ob ich ein Auto verkaufe. Würde ich das unter ähnlichen Umständen selber kaufen? Zum Beispiel mindestens das.
Es gibt ja Menschen, die sich auch nach bestem Wissen geirrt haben, die vielleicht auch wirklich geglaubt haben, sie tun etwas Gutes damit, dann will ich gar nicht ausschließen, so eine subjektive Beurteilung. Aber wenn jemand sagt, das würde ich ja selber nicht kaufen und ich verkaufe es trotzdem einem anderen, dann muss ich als Christ und als Bischof sagen, da haben Sie eine Grenze überschritten dann.
Scholl: Ich meine, jetzt sind Sie christlich-mild. In Ihrem Buch gehen Sie schon ein bisschen schärfer mit den Herren zu Gericht. Als einen der Hauptgründe der Misere nennen Sie eben die Gier. Und Sie erinnern in diesem Zusammenhang zum Beispiel an den Propheten Jeremia, der mal einem korrupten König irgendwo gesagt hat, wen er sein lästerliches Tun nicht aufgebe, dann wird er kein Begräbnis bekommen und man wird ihn mit den Eseln vor die Tore Jerusalems schleifen und ihn hinwerfen und da liegen lassen.
Marx: Ja nun, das steht ja in der Bibel. Ich darf ja die Bibel noch zitieren als Bischof. Aber die Gier betrifft nicht nur die Großen, das sind auch die Kleinen. Es ist ja ein Wechselverhältnis gewesen. Auf der einen Seite die, die vielleicht, manche mit Wissen, manche mit weniger Wissen, Zertifikate und Produkte auf den Markt gebracht haben, die eigentlich für die, die das gekauft haben, viel zu risikobelastet waren, wenn man überlegt, wenn das kleine Einkommen waren oder Erspartes oder Ähnliches. Es ist eigentlich nicht richtig gewesen. Und die anderen, die natürlich gesagt haben, wie kann ich jetzt ganz schnell reich werden, ohne dass ich viel arbeite.
Und das ist ein Wechselverhältnis. Die Gier betrifft nicht nur die Großen, das betrifft dann alle. Ich habe das ja auch genannt in dem Buch, es kann so eine Struktur der Sünde entstehen, die Anreize gibt, in eine Richtung zu gehen und dann alle auch ein wenig blind da hineinrennen.
Scholl: Die Schriften von Karl Marx standen einst mal auf dem Index des Vatikans.
Marx: Aus gutem Grund, ja.
Scholl: Ja. Jetzt zitiert ein deutscher Erzbischof zum Teil sehr ausführlich aus diesen Texten des erklärten Atheisten. Wie nimmt man denn in Kirchenkreisen eigentlich Ihr Engagement auf? Geht da nicht dem einen oder anderen doch so ein bisschen der Kardinalshut hoch?
Marx: Ja, ich denke, es ist ja jetzt gerade erst erschienen. Ich muss mal abwarten, was die Mitbrüder sagen. Aber ich zitiere ja sehr klar den großen Nestor, den großen Prof. Oswald von Nell-Breuning, einer der ganz Großen der katholischen Soziallehre. Wir erkennen, die katholische Soziallehre hat in Marx immer ihren großen Gegner gesehen, das ist unbestritten. Das wird in dem Buch auch klar. Aber sie bezeugt ihm Respekt. Das ist etwas anderes.
Wir müssen ihn als einen wirklich ernsthaften Gegner sehen. Aber er ist nicht damit unser Freund oder wir wollen seine Ideen nicht propagieren, sondern wir wollen sie auf hoffentlich etwas intelligente Weise widerlegen. Aber dazu muss man ihn sehr ernst nehmen.
Scholl: Erzbischof Reinhard Marx, Autor des Buches "Das Kapital". Es erscheint in diesen Tagen im Pattloch Verlag. Ich danke Ihnen für dieses Gespräch!
Marx: Alles Gute!
Reinhard Marx: Guten Morgen, Herr Scholl!
Scholl: War es an der Zeit, ein neues "Kapital" zu schreiben, Hochwürden?
Marx: Ja, das Thema beschäftigt mich schon länger, nicht seit der Finanzkrise erst, weil Papst Johannes Paul II. nach dem Zusammenbruch des Kommunismus geschrieben hat 1991, wenn der Kapitalismus, so sagt er, die Probleme von Gerechtigkeit, Armut und Reichtum, Solidarität in der ganzen Welt nicht befriedigend löst, dann kommen die alten Ideologien, dann kommt der alte Marx wieder. Ich sage das mal mit meinen Worten.
Und das ist nicht im Sinne der Kirche, weil Marx zwar eine ganze Reihe von interessanten Analysen vorgelegt hat über den damaligen Kapitalismus und auch einige Prognosen gemacht hat, die uns heute sehr bekannt vorkommen, aber die Gesamtausrichtung seines Menschenbildes und seiner Vorschläge sind natürlich verheerend und die Folgen haben sich ja gezeigt.
Insofern kommt diese Sorge und deswegen war das auch der Anlass, dieses Buch zu schreiben. Schon vor zwei Jahren ist das Projekt gestartet. Ich hatte da nicht so viel Zeit in den letzten Monaten durch die Versetzung nach München hin von Trier aus. Aber diese Idee, noch einmal zu schauen, was Marx gesagt hat und auch zu versuchen, ihn zu widerlegen und deutlich zu machen, das ist keine Antwort auf unsere Fragen und unsere Probleme, das war mir schon ein Anliegen.
Scholl: Im Nachwort der zweiten Auflage seines Kapitals verteidigt Karl Marx den Philosophen Hegel gegen die damalige akademische Kritik. Er sagt, Hegel sei längst "kein toter Hund". Nach 1989, nach der großen politischen Systemwende in Europa hat man Karl Marx auch als "toten Hund" bezeichnet. Aber, Herr Erzbischof, wenn man sich die aktuelle Lage anschaut, beißt der tote Hund nicht heute ganz schön?
Marx: Ja, ja, das ist ja die Befürchtung von Papst Johannes Paul II., ist völlig berechtigt, dass natürlich die marxistische Ideologie und auch marxistische Ideen wiederkommen bei einer solchen Krise, das ist ja verständlich. Wir erleben das ja auch in den Debatten in Deutschland. Und deswegen muss man sich wieder damit beschäftigen. Karl Marx ist nicht irgendjemand, sondern er hat im 19. Jahrhundert auch sehr gut manche Dinge analysiert, hat dann eine Bewegung mitinspiriert, die ja auch in der Sozialdemokratie ihre Auswirkungen hatte, aber eben auch in politischen Ideen, die völlig gegen den Menschen gerichtet waren.
Umso wichtiger ist es jetzt, auch wirklich genauer hinzuschauen, einmal wirklich dafür zu kämpfen, dass wir eine soziale Marktwirtschaft behalten oder wiederbekommen, dass wir wirklich diesen Schritt von einem primitiven Kapitalismus hin zu einer sozial geordneten Marktwirtschaft nicht wieder rückgängig machen und in eine falsche Richtung gehen. Und zum anderen, dass wir uns nicht von marxistischen Ideen wieder leiten lassen, die noch verheerender sind.
Das ist eigentlich die Herausforderung in diesen Monaten, nicht nur jetzt in diesen Monaten, sondern danach, wenn man noch etwas genauer auf die Krise schauen kann zurückblickend, eine wirklich geordnete Marktwirtschaft, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt. Das ist die Intention. Aber mich wundert natürlich nicht, dass jetzt wieder marxistische Ideen auf der Tagesordnung stehen bei manchen.
Scholl: Sie kritisieren mit Marx ja gewissermaßen auch in Ihrem Buch die Auswüchse, wie wir sie jetzt erleben. Zugleich verteidigen Sie das Prinzip der freien Marktwirtschaft gegen Marx. An einer Stelle nennen Sie den internationalen Finanzmarkt eine, Zitat, "grundsätzlich gute Sache". Diesen Satz habe ich mir gleich mal angestrichen, weil aber, was wir jetzt in diesen Tagen grundsätzlich lernen und gerade wenn wir jetzt die neuesten Spekulationen um die VW-Aktie wieder sehen, lernen wir eigentlich gerade, dass dieser Finanzmarkt, so wie er sich jetzt von der realen Wirtschaft abgekoppelt hat, eben grundsätzlich keine gute Sache ist, sondern die Wurzeln allen Übels, oder?
Marx: Ja, und einmal grundsätzlich ist das schon eine gute Sache, wenn er geordnet ist. Er war eben nicht geordnet. Wir haben über Deregulierung nur geredet in den letzten Jahrzehnten und die Abkoppelung, das schreibe ich auch in dem Buch, die Abkoppelung von der realen Wirtschaft ist sicher gefährlich und ist nicht richtig. Insofern ist erheblicher Handlungsbedarf.
Aber natürlich, wenn wir einen weltweiten Markt wollen und, ich glaube, dazu gibt es keine Alternative, dann muss er geordnet sein im Blick etwa auf die Chancen auch der armen Länder. Und dann gehört dazu auch eine geordnete Finanzmarktsituation. Auch Finanzen sind immer Weltfinanzströme gewesen, nicht erst jetzt in den letzten Jahren, das ist seit 150 Jahren der Fall. Das ist ja keine Frage. Immer dann, wenn diese Märkte nicht geordnet sind, wenn sie keinen Rahmenordnung haben und die Akteure im Grunde genommen einem falschen Anreizsystem hinterherlaufen, ohne dass dort Regeln sind, dann löst sich das von den realen Bedingungen und führt zu solchen Katastrophen. Der Markt an sich ist nicht das Problem, sondern ein geordneter Markt. Ein Markt ohne Ordnung führt in die falsche Richtung und geht gegen den Menschen.
Scholl: "Das Kapital" als Plädoyer für den neuen Menschen, das fordert der Erzbischof Reinhard Marx im Deutschlandradio Kultur im Gespräch. Herr Marx, es ist wohl unbestritten, dass Karl Marx das Wesen, das Prinzip des Kapitalismus geistig ziemlich akkurat durchdrungen hat. Stichwort Mehrwert, das zitieren Sie auch ausführlich in Ihrem Buch. Was wir heute erleben, ist diesem Prinzip leider nur allzu gemäß. Sie erinnern daran, dass Vertreter der katholischen Soziallehre schon zu Zeiten von Marx ebenfalls das Prinzip des frei flottierenden Kapitalismus angeprangert haben. Diese Tradition der katholischen Soziallehre, da war ja lange, lange Funkstille.
Marx: Ja, und deswegen habe ich mich auch hingesetzt, vor zwei Jahren schon, und habe diese Idee, die vom Verlag auch drängend auf mich zukam, dann noch eigentlich mit Zögern aufgenommen, weil ich denke, es sind in der katholischen Soziallehre so viele gute Ideen, auch Ideen, die sich bewährt haben, dass man auch in einer populäreren Weise, sodass viele Menschen das auch aufnehmen können, das noch einmal in die Öffentlichkeit hineinträgt.
Ich beschäftige mich ja mit dem Thema seit fast 30 Jahren. Ich war Professor für katholische Soziallehre und ich habe immer bedauert, dass auch innerhalb der Kirche und in der Öffentlichkeit das ein wenig vergessen wurde. Man braucht immer erst Krisen, um dann wieder zu entdecken, dass die eigenen Schätze, die eigenen Gedanken, das Eigene, was im Bereich der Kirche hat, auch wieder wertgeschätzt wird.
Und das möchte ich mit diesem Buch auch erreichen, dass man sich wieder beschäftigt mit den großen Ideen der katholischen Soziallehre, die sich meiner Ansicht nach sehr, sehr bewährt haben, eine realistisches Menschenbild, eine Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft, die Prinzipien gehorcht, die eine ethische Ausrichtung haben, aber auch vernünftig ist, also keine Utopie.
Scholl: Wenn jetzt morgen, Herr Marx, in Ihrem Beichtstuhl ein kleinlauter Banker kniet, nennen wir ihn mal Josef, und sagt, Vater, ich habe nicht gesündigt, denn es gehört leider zur Natur der Sache, wenn ich keine Rendite erzeuge, werde ich gefeuert und morgen steht mein Nachfolger im Büro, der Markt bestimmt die Regeln. Der Markt ist nämlich leider unser Gott. Was sagen Sie denn diesem Mann?
Marx: Ja, wenn er sagt, der Markt ist unser Gott, dann muss ich sagen, dann schau mal, lieber Freund, auf das erste Gebot. Du sollst neben mir keine anderen Götter haben. Oder wie Luther sagt, wo dein Schatz ist, da ist auch dein Gott.
Scholl: Aber mit dem Markt, Herr Marx, wird alles begründet.
Marx: Ja, ich verstehe schon, was Sie meinen.
Scholl: Es ist immer der Markt.
Marx: Nein, es geht nicht um Gewinn, wir sind ja nicht gegen Märkte und auch nicht jeder Manager oder jeder Banker hat jetzt unmoralisch gehandelt. Das ist ja so eine Kollektivschuldhysterie, die manche da anfeuern. Jeder ist für sich selber verantwortlich. Man muss überlegen, zum Beispiel ein klares ethisches Kriterium für sich selber überlegen, was ich hier verkaufe, etwa ein Zertifikat oder ob ich ein Auto verkaufe. Würde ich das unter ähnlichen Umständen selber kaufen? Zum Beispiel mindestens das.
Es gibt ja Menschen, die sich auch nach bestem Wissen geirrt haben, die vielleicht auch wirklich geglaubt haben, sie tun etwas Gutes damit, dann will ich gar nicht ausschließen, so eine subjektive Beurteilung. Aber wenn jemand sagt, das würde ich ja selber nicht kaufen und ich verkaufe es trotzdem einem anderen, dann muss ich als Christ und als Bischof sagen, da haben Sie eine Grenze überschritten dann.
Scholl: Ich meine, jetzt sind Sie christlich-mild. In Ihrem Buch gehen Sie schon ein bisschen schärfer mit den Herren zu Gericht. Als einen der Hauptgründe der Misere nennen Sie eben die Gier. Und Sie erinnern in diesem Zusammenhang zum Beispiel an den Propheten Jeremia, der mal einem korrupten König irgendwo gesagt hat, wen er sein lästerliches Tun nicht aufgebe, dann wird er kein Begräbnis bekommen und man wird ihn mit den Eseln vor die Tore Jerusalems schleifen und ihn hinwerfen und da liegen lassen.
Marx: Ja nun, das steht ja in der Bibel. Ich darf ja die Bibel noch zitieren als Bischof. Aber die Gier betrifft nicht nur die Großen, das sind auch die Kleinen. Es ist ja ein Wechselverhältnis gewesen. Auf der einen Seite die, die vielleicht, manche mit Wissen, manche mit weniger Wissen, Zertifikate und Produkte auf den Markt gebracht haben, die eigentlich für die, die das gekauft haben, viel zu risikobelastet waren, wenn man überlegt, wenn das kleine Einkommen waren oder Erspartes oder Ähnliches. Es ist eigentlich nicht richtig gewesen. Und die anderen, die natürlich gesagt haben, wie kann ich jetzt ganz schnell reich werden, ohne dass ich viel arbeite.
Und das ist ein Wechselverhältnis. Die Gier betrifft nicht nur die Großen, das betrifft dann alle. Ich habe das ja auch genannt in dem Buch, es kann so eine Struktur der Sünde entstehen, die Anreize gibt, in eine Richtung zu gehen und dann alle auch ein wenig blind da hineinrennen.
Scholl: Die Schriften von Karl Marx standen einst mal auf dem Index des Vatikans.
Marx: Aus gutem Grund, ja.
Scholl: Ja. Jetzt zitiert ein deutscher Erzbischof zum Teil sehr ausführlich aus diesen Texten des erklärten Atheisten. Wie nimmt man denn in Kirchenkreisen eigentlich Ihr Engagement auf? Geht da nicht dem einen oder anderen doch so ein bisschen der Kardinalshut hoch?
Marx: Ja, ich denke, es ist ja jetzt gerade erst erschienen. Ich muss mal abwarten, was die Mitbrüder sagen. Aber ich zitiere ja sehr klar den großen Nestor, den großen Prof. Oswald von Nell-Breuning, einer der ganz Großen der katholischen Soziallehre. Wir erkennen, die katholische Soziallehre hat in Marx immer ihren großen Gegner gesehen, das ist unbestritten. Das wird in dem Buch auch klar. Aber sie bezeugt ihm Respekt. Das ist etwas anderes.
Wir müssen ihn als einen wirklich ernsthaften Gegner sehen. Aber er ist nicht damit unser Freund oder wir wollen seine Ideen nicht propagieren, sondern wir wollen sie auf hoffentlich etwas intelligente Weise widerlegen. Aber dazu muss man ihn sehr ernst nehmen.
Scholl: Erzbischof Reinhard Marx, Autor des Buches "Das Kapital". Es erscheint in diesen Tagen im Pattloch Verlag. Ich danke Ihnen für dieses Gespräch!
Marx: Alles Gute!