"Der Trend geht in die Richtung, Kinder in die Erwachsenenwelt zu ziehen"
Schon kleine Kinder werden immer stärker sexualisiert und damit ihrer Kindheit beraubt. Die Erziehungswissenschaftlerin Karla Etschenberg warnt aber davor, die Verantwortung dafür allein den Eltern zu geben.
Hanns Ostermann: Aus den USA Dirk Rothenbücher. Wie sexualisiert ist inzwischen die Kindheit? Darüber habe ich mit Karla Etschenberg gesprochen, sie ist Erziehungswissenschaftlerin und sitzt im Vorstand der Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz Nordrhein-Westfalen. Werden kleine Mädchen heute wirklich auf sexy getrimmt, wollte ich zunächst wissen, oder sind Schönheitswettbewerbe wie in den USA absolute Einzelfälle?
Karla Etschenberg: In Deutschland sind das noch absolute Einzelfälle, selbstverständlich. Ich glaube, das würde unsere Öffentlichkeit so nicht mitmachen. Aber der Trend geht in die Richtung, dass man Kinder versucht, immer mehr aus dem Schonraum der Kindheit herauszunehmen und sie in die Erwachsenenwelt hineinzuziehen und auch in die Erwachsenenwelt mit ihrer Sexualität hineinzuziehen. Der Trend ist eindeutig.
Ostermann: Kinder lernen doch zunächst von den Eltern. Was treibt die dann an, um aus den kleinen Mädchen so etwas wie Models zu machen?
Etschenberg: Das sind dann unerfüllte eigene Wünsche, die projiziert werden, und man übersieht, dass das eine Sackgasse ist für die Zukunft des normalen, alltäglichen Mädchens. Nur wenige werden Model oder Schauspielerin. Und die zweite Antriebsfeder, die kommt natürlich von außen, nämlich durch die Medien selbst, denn da wird ja eigentlich die Sexualisierung am meisten vorangetrieben insgesamt.
"An jeder Haltestelle nackte Frauen"
Ostermann: Ja, aber wann beginnt der Einfluss der Werbefotos, der Medien, des Internets?
Etschenberg: An jeder Haltestelle, wo ein Kind steht, sieht es halbnackte Frauen, die für irgendeine Firma Werbung machen, und da die Kinder auch Zugang bekommen zum Internet, ist es natürlich heute für Kinder ganz leicht und niederschwellig zugänglich, was alles im Internet an Sex geboten wird, und das entzieht sich sogar meistens der Kontrolle der Eltern.
Ostermann: Betrifft die Sexualisierung – Sie haben das eben schon angedeutet – eigentlich nur die Kleidung, das Aussehen, oder gilt das auch für Spielzeug jedweder Art?
Etschenberg: Also bei dem Spielzeug fallen zwei Trends auf, einmal die merkwürdige, konsequente Trennung in Jungen- und Mädchenspielzeug. Mädchenspielzeug ist offenbar immer nur pink und Mädchen und Pferde und Stofftierchen, und Jungen bekommen Schwerter und Gewehre und schnelle Autos angeboten. Und dann ganz besonders fällt natürlich auf, dass in letzter Zeit spezielle Puppen auf den Markt gekommen sind, das ist eine Serie von der Firma Mattel, Monsterpuppen heißen sie, Monster High, glaube ich, die ab sechs Jahre – das steht auf der Verpackung – für Mädchen gedacht sind, und diese Puppen sind eindeutig mit allen möglichen Sexsignalen ausgestattet, und Kinder, also kleine Mädchen, sollen diese Puppen wohl als Vorbild benutzen, sich identifizieren. Und das sind zwei merkwürdige Trends in der Spielwarenindustrie, einerseits also diese geschlechtstypischen Spielzeuge einzuführen wieder mit, wie gesagt, nach Jungen und Mädchen sortiert, und dann bei den Mädchen vor allen Dingen dieser Trend auf sexy.
Ostermann: Welche Folgen hat es, wenn ein Kind seiner Kindheit beraubt wird?
"Kinder- und Jugendschutz behindert die Wirtschaft"
Etschenberg: Sie haben es selber schon gesagt, es wird seiner Kindheit beraubt, einem ganz wichtigen, wunderbaren Abschnitt im Leben, wo ein Kind sich frei entfalten kann, ausprobieren kann, auch geschützt ist schon vor den Interessen der Gesellschaft, auch der Wirtschaft, eigentlich geschützt sein sollte. Und dieser Schutz wird immer mehr abgebaut. Es ist ja auch hinderlich: Kinder- und Jugendschutz behindert die Wirtschaft, das ist eindeutig. Und deswegen geht der allgemeine Trend dahin, den Kinder- und Jugendschutz möglichst abzubauen.
Ostermann: Frau Etschenberg, warum greift in Extremfällen eigentlich der Staat nicht ein – vielleicht nicht beim Spielzeug, aber wenn Kinder für Wettbewerbe abgerichtet werden wie Hunde, dann muss doch der Staat reagieren?
Etschenberg: Oh, das ist eine Frage dann der Einschätzung. Dann kommt irgendein Gutachter und sagt, nein, das schadet den Kindern gar nicht, das ist ein Spiel für die Kinder, da verkleiden die sich, da haben die Spaß dran und so weiter. Und wer dann Besorgnis äußert, der bekommt sogar den Vorwurf gemacht, er wäre ein Anhänger antiquierter Bewahrpädagogik, dass man also nicht mit der Zeit ginge. Man gönne den Kindern nicht diese selbstbestimmte, freie Entfaltung. Und wenn dann Eltern, motiviert durch ihren eigenen Ehrgeiz, die Kinder gerne in den Medien sehen wollen, ja, was wollen Sie dann noch machen? Wir haben einen Staat, der solche Regulierungen nicht mehr befürwortet. Wir haben eine regulierte Selbstregulierung im Bereich des Jugendschutzes. Und diese Selbstregulierung wird von den Wirtschaftsunternehmen und den Interessenvertretern praktiziert, und nicht mehr vom Staat.
Ostermann: Das heißt also, der Staat und die Eltern, aber auch Pädagogen sind hilflos, stehen dieser Entwicklung hilflos gegenüber?
"Die Eltern sind überfordert"
Etschenberg: Ich meine ja. Da gibt es eigentlich nur noch gegensteuern. Man könnte versuchen, das Ganze abzubremsen, und dann hilft es ja nur, dass man versucht, Kinder fit zu machen, damit umzugehen. Und das ist natürlich auch schwer. Es wird immer wieder gesagt, die Eltern seien verantwortlich für das, was da läuft, sie sollen bitte ihre Verantwortung wahrnehmen. Aber die Eltern sind, meine ich, zum großen Teil einfach überfordert. Sie werden überrollt und sollen reagieren auf etwas, worauf sie selber nie vorbereitet worden sind. Und ich glaube, das klappt nicht. Es ist sehr bequem, Eltern in der Weise einfach die Schuld und die Verantwortung zuzuschieben.
Ostermann: Das meint Frau Professor Karla Etschenberg, sie ist Erziehungswissenschaftlerin und sitzt im Vorstand der Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz in Nordrhein-Westfalen. Frau Etschenberg, danke Ihnen für das Gespräch!
Etschenberg: Danke Ihnen auch!
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